Die Situation in Venezuela droht zu eskalieren: Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal und die Protestzüge der Opposition werden immer größer. Währenddessen ist die neue Staatsbürokratie dabei Chavez’ Erbe zu verraten. Aber die Bewegungen der Bolivarischen Revolution können den Kampf wieder aufnehmen. Von Mike Gonzalez
Die internationale Presse nimmt neuerdings die sich vertiefende Krise in Venezuela und die Notlage der bolivarischen Revolution mit sichtbarem Genuss wahr. Die Berichterstattung reicht allerdings nur selten über die Darstellung von armen Menschen, die nach Essbarem verlangen. Die Bilder zeugen vom Ernst der Lage, aber sie erfassen nicht ihre Komplexität.
Die Krise ist wirtschaftlicher und politischer Natur und steuert auf eine soziale Konfrontation zu. Auf dem Spiel steht nicht nur die Zukunft der venezolanischen Ökonomie, sondern auch die Zukunft der Massenbewegungen dieses Landes. Der sichtbarste Ausdruck der Krise ist der Mangel an Gütern des Grundbedarfs und an Medikamenten – je größer die Entfernung von der Hauptstadt Caracas desto schlimmere Formen nimmt sie an. In der Hoffnung, Kaffee, Reis, Toilettenpapier oder Windeln zu ergattern, reihen sich die Menschen in Venezuela bereits in aller Früh in die allgegenwärtigen Warteschlangen ein. Aber die Regale der Supermärkte sind fast leergeräumt und lebenswichtige Arzneimittel fehlen gänzlich. Die Regierung veröffentlicht in regelmäßigen Abständen die Preise für Schlüsselprodukte, aber das ist nicht viel mehr als Propaganda. Ab und zu werden Waren zu fairen Preisen verkauft. Aber wie die übrigen finden sie Eingang in den Schwarzmarkt, den Bachaqueo, auf dem sie einen hundertfach höheren Erlös erzielen. Die von der Regierung gelegentlich ergriffenen Maßnahmen gegen die Parallelwirtschaft sind bloß Symbolhandlungen, die schnell verpuffen.
Zwei Wirtschaften in Venezuela
Es gibt jetzt zwei Wirtschaften in Venezuela. In der offiziellen, auf dem Bolivar basierenden Wirtschaft, kostet der Warenkorb an essenziellen Waren und Dienstleistungen fast zehnmal so viel wie der Mindestlohn. Der einzige Ort, an dem Venezolaner ihren Lohn vervielfältigen können, ist auf dem Schwarzmarkt. Schätzungsweise fünfzig Prozent der Arbeiterschaft ist dort beschäftigt. Die Preise steigen unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate betrug letztes Jahr 250 Prozent, lag aber in Wirklichkeit noch wesentlich höher. Die Prognose bis Jahresende 2016 spricht von 700 Prozent.
Manche Teile der Bevölkerung werden natürlich vor den schlimmsten Auswirkungen dieses Wirtschaftsdesasters geschützt. Militär- und Staatsbeamte erhalten höhere Löhne und haben Zugang zu gut bestückten Sondersupermärkten. Bis vor kurzem gewährte der Staat auch den armen städtischen Barrios – den traditionellen Stützpunkten des Chavismus – einen minimalen Schutz, der aber jetzt weitgehend wegfällt.
Neben der offiziellen Wirtschaft, in der die meisten Venezolaner ums Überleben kämpfen müssen, gibt es die US-Dollarwirtschaft. Jene mit Zugang zu Fremdwährungen füllen Caracas’ teure Restaurants und prahlen in ihren massiven SUVs in aller Öffentlichkeit. Für sie reduziert sich die Krise auf eine Frage von Recht und Ordnung, sie kennen nicht den Kampf ums Überleben. Die Krise mit der sie begleitenden zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit ist das Ergebnis nicht nur globaler Wirtschaftsentwicklungen – dazu zählt vor allem der fallende Ölpreis, sondern auch jahrelange Korruption, die bereits auf Chavez’ Präsidentschaft zurückgeht.
Die Rolle der Vereinten Sozialistischen Partei
Nach seinem komfortablen Sieg mit 63 Prozent Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 verkündete Chavez die Schaffung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Sie sollte die Transformation des Lands durch neue Sozialprogramme, wirtschaftliche Vielfältigkeit und eine Ausweitung der Demokratie bewerkstelligen. Sein Versprechen lockte innerhalb von Wochen sechs Millionen Menschen in die Reihen der Partei. Die PSUV wurde aber schnell zu einem Instrument der politischen Kontrolle von oben. Zum politischen Ausdruck eines zentralisierten Staats, statt zum Ausdruck einer breiten Basisdemokratie. Gerade jene Korruption, die damit bekämpft werden sollte, trieb erst recht neue Blüten.
Es ist bereits viel geschrieben worden über die grassierende Korruption, aber individuelle Gier und die Bereicherungsmöglichkeiten, die der allgemeine Mangel bietet, sind nur Teilerklärungen. Hinzu kommt die mangelnde Kontrolle der Öffentlichkeit über das Handeln der Regierung. Chavez’ Entwurf für den »Sozialismus des 21. Jahrhundert«, war gedacht als ein Prozess von unten, der die Leitenden ihrer sozialen Basis gegenüber ständig rechenschaftspflichtig machen sollte. Genau das hätte die Korruption im Zaum halten können.
Aber ein solches Maß an Basiskontrolle entwickelte sich zu keinem Zeitpunkt, so dass die Korruption sich weiter entfalten konnte. Das ist die Schlüsselfrage der gegenwärtigen politischen Krise, die das Land an den Rand des Kollaps geführt hat. Die Einkünfte aus der Ölindustrie, die von einem Jahrzehnt hoher Preise gekennzeichnet war, speisten sowohl die sozialen Programme im Herzen von Chávez’ politischem Projekt, als auch jene Korruption, die es schließlich zu Fall bringen würde. Wichtige Projekte wie das Eisenbahnnetz, Autobahnen, Aluminium- und Stahlwerke stehen halbfertig in der Landschaft und warten auf die erforderlichen Materialien. Versuche, die Wirtschaft zu diversifizieren, beispielsweise die geplante Zuckerraffinerie von Barinas, versagten oder wurden nicht einmal in Angriff genommen. Die bedeutendsten staatlichen Investitionsprojekte wurden ad acta gelegt. Aber auch soziale Projekte, wie das neue Gesundheitsnetz von Barrio Adentro, fielen ins Hintertreffen.
Die chavistische Bürokratie in Venezuela
Die chavistische Bürokratie beteiligte sich auf allen Ebenen an der blühenden Korruption. Mit Hilfe eines nebulösen Geflechts von Agenturen mit seltsamen Namen wurden Antragstellern Dollar zu besonders günstigen Wechselkursen verkauft. Vorgeblich sollten diese für den Import von Lebensmitteln und Medikamenten benutzt werden. Die meisten der genehmigten Güter kamen jedoch niemals an oder fanden Zugang zum Schwarzmarkt zu enorm überhöhten Preisen. Man konnte einen Dollar für zehn Bolivar kaufen, um ihn (bzw. Güter zum gleichen Wert) für 1000 Bolivar auf dem Schwarzmarkt wieder zu verkaufen.
Im Oktober 2015 publizierte eine Gruppe namhafter chavistischer Dissidenten einen offenen Brief über die Korruption. Sie beschrieben, wie sich die Korruption unkontrolliert durch die höheren Stufen des Staatsapparats fraß. Sie schätzten, dass nicht weniger als 460 Milliarden US-Dollar während der Boom-Jahre »verschwunden« seien. Wie hoch auch immer der genaue Betrag gewesen ist, es gibt eindeutige Belege dafür, dass die PSUV-Regierung in kolossalem Maßstab Geldwäsche betrieben und an Kapitalflucht beteiligt war.
Vertrauensverlust der PSUV
Die Parlamentswahlen im letzten Dezember offenbarten die tiefe Unzufriedenheit der venezolanischen Bevölkerung mit der Partei. Hugo Chávez heimste regelmäßig etwa 60 Prozent der Stimmen bei Wahlen. Sein Nachfolger Nicolas Maduro gewann die Präsidentschaftswahlen von 2013 nur knapp mit etwas über 50 Prozent der Stimmen. Bei den Dezemberwahlen heimste die im »Demokratischen Runden Tisch« versammelte rechte Koalition zwei Drittel aller Parlamentssitzen ein.
Dieses Ergebnis ist nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsrucks, sondern vielmehr des dramatischen Vertrauensverlusts in breiten Bevölkerungskreisen in die PSUV. Die Rechte gewann relativ wenige Stimmen hinzu (etwa 300.000), aber der Chavismus verlor etwa zwei Millionen Stimmen durch ungültige Stimmzettel und Enthaltungen. Es war ein klares Signal an die Erben Hugo Chavez’, dass sie allerdings ignorierten. Heute hat die PSUV etwa eine Million eingeschriebene Mitglieder, von denen die meisten Staatsangestellte oder -funktionäre und örtliche Politiker sind.
Die PSUV ist mit anderen Worten zu einem Instrument des Machterhalts und der Verteilung von Geldern und Einfluss geworden. Interne Kritik wird sofort unterdrückt und es finden laufend Parteiausschlüsse statt. Die Schaffung der PSUV hat ironischerweise eine neue Staatsbürokratie hervorgerufen, die die Demokratie zu Grabe trägt. Die Macht wird nunmehr – unter Maduro mehr denn je – durch Vetternwirtschaft und Korruption verwaltet. Die neue herrschende Klasse sackte die Pfründe der ölreichen Wirtschaft ein, um sie dann im Ausland auszugeben oder zu horten. Seitdem der Ölpreis eingebrochen ist, stehen die öffentlichen Kassen leer und der Staat hat nichts mehr anzubieten.
Venezuela in der Sackgasse?
Was an dieser Krise besonders auffällt, ist das weder die Rechte noch die Regierungsseite irgendeine Lösung zu bieten hat. Nach den Dezemberwahlen legte die Rechte verschiedene Pläne vor zur Privatisierung von Staatsunternehmen, zur Abwicklung der Sozialprogramme der PSUV (wie sie Mauricio Macri zurzeit in Argentinien durchzieht und Temer in Brasilien vorhat) und zu Maduros Entmachtung, um freie Hand für ihre Pläne zu erhalten.
Bislang haben sie auf die Forderung nach einem Referendum zur Abberufung Maduros fokussiert, ohne ein kohärente wirtschaftliche Alternative zu formulieren. Sie scheinen abwarten zu wollen, bis die Situation vollkommen unerträglich wird – für die Mehrheit der Bevölkerung, versteht sich, nicht für ihresgleichen. Der chavistische Staat unter Maduro seinerseits hat eine Reihe von Maßnahmen verkündet, die wohl nur wenig zur Lösung der Krise beitragen werden und eher einem Zerrbild der ursprünglichen Plattform von Chávez ähneln. Neue Programme unter neuen Ministern und Vizepräsidenten versprechen, eine von der Ölindustrie unabhängige »produktive Industrie« zu errichten. Man spricht sogar von der Schaffung einer neuen Tourismusindustrie. Aber ohne die Profite aus der Ölindustrie ist der Staat quasi bankrott (ohne deswegen die Schuldentilgung zu vernachlässigen) und die produktive Wirtschaft liegt schon seit langer Zeit am Boden.
Maduro ruft die Venezolaner dazu auf, ihr eigenes Gemüse anzubauen, hat aber nichts unternommen, um den Agrarsektor zu stützen. Es gibt keine Kontrollen über Austausch oder Preise, keine Enteignungen, überhaupt keine sichtbaren Versuche, die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit in den Griff zu bekommen. Verschärfte Unterdrückung scheint das einzige zu sein, wozu die Regierung fähig ist. Die Nationalgarde bewacht die Supermärkte, steht aber da, um die Opfer der Krise zu kontrollieren, nicht um deren Verursacher zu bestrafen – und vielerorts partizipiert sie selbst an der Korruption und am Diebstahl.
Maduros Versagen
Maduros kürzliche Verkündung des Ausnahmezustands ist nichts anderes als das Eingeständnis seines Versagens angesichts der Krise. Seine Motive könnten allerdings anderer Natur sein. Mit dem Ausnahmezustand werden die verfassungsmäßigen Garantien ausgesetzt, darunter auch das Recht gewählte Vertreter wieder abzuwählen. Mit diesem Schachzug gelingt es Maduro zwar, den Versuch der Rechten, ihn aus dem Amt zu jagen, abzuwehren, aber er verrät zugleich eines der zentralen demokratischen Versprechen des Manifests Chavez’.
Die Verteidiger des Chavismus, vor allem im Ausland, heben hervor, dass heute niemand mehr in Venezuela verhungern muss. Aber zu behaupten, dass das eine besondere Errungenschaft in einem revolutionären Land mit einer ölreichen Wirtschaft sei, ist extrem zynisch. Ob jemand verhungert oder nicht, die Armut, die unter Chávez systematisch reduziert wurde, steigt jedenfalls wieder. Die Regierung behauptet, sie sei in einen »Wirtschaftskrieg« verwickelt und müsse angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Invasion ihre Anhänger mobilisieren. Maduro zieht hier Parallelen zu Chile, wo die Rechte Waren hortete als Teil ihres Ansturms auf Allendes Regierung in den Jahren 1971 und 1973.
Es ist zweifelsohne der Fall, dass venezolanische Kapitalisten Waren horten, die ohne Erklärung verschwinden und dann zu immer höheren Preisen wieder auftauchen. Es stimmt auch, dass das aus Venezuela geschaffene Kapital, wenn überhaupt, nur wieder ins Land kam, um die Spekulation zu nähren und nicht in Form dringend benötigter Inlandsinvestitionen. Aber beide Seiten des politischen Spektrums haben davon profitiert. Politiker stellen sich gegenseitig an den Pranger, sind aber immer schwerer von einander zu unterscheiden. Einer von Maduros Vizepräsidenten für die Wirtschaft, Perez Abad, ist beispielsweise Geschäftsmann und Verfechter der Marktwirtschaft.
Die jüngste Entscheidung der Maduro-Regierung war der letzte Sargnagel für die Versprechen der bolivarischen Revolution. Mitte Mai unterschrieb er 150 Konzessionen für ausländische Öl- und Bergbauunternehmen zur Ausbeutung des Mineralreichtums der Amazon-Region »Arco Minero«. Die Auswirkungen sind im gesamten Amazon-Becken sichtbar in Form von Wasserverschmutzung, Vertreibung indigener Bevölkerungen und systematischer und unwiederbringlicher Zerstörung der Umwelt. Genau aus diesem Grund hatte Chávez es abgelehnt, diese Region zu entwickeln, und beschränkte den Bergbau auf kleinere handwerkliche Betriebe. Maduros Entscheidung kommt einer Umweltkatastrophe gleich und bedeutet für die indigenen Völker das Ende ihrer Lebensweise, die unter der bolivarischen Verfassung besonderen Schutz genießt. Bergbau-Unternehmen sind weltweit für 14 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung verantwortlich. Nun werden sie in ein Land wieder reingelassen, das vor zehn Jahren einen erbitterten Kampf führte, um sie zu vertreiben.
Wer kann Venezuela retten?
Die Revolution bleibt präsent in den Herzen und Köpfen von hunderttausenden Menschen, für die der Chavismus eine tiefe Verpflichtung zu gesellschaftlicher Veränderung und sozialer Gerechtigkeit, zur Umverteilung des Reichtums und zum Widerstand gegen die Plünderungen durch die neoliberale Globalisierung bedeutet.
Warum haben sich die Menschen dann nicht gegen eine Wirtschaftskrise aufgelehnt, die die Armen und unteren Mittelschichten so brutal in Mitleidenschaft zieht? Als Venezuela in der Vergangenheit mit ähnlichen Zumutungen seitens der Globalwirtschaft und ihrer Behörden konfrontiert wurde, beispielsweise während des Caracazos von 1989, entstanden Massenbewegungen. Die relative Ruhe bedeutet nicht, dass die Massen sich des Ausmaßes der Korruption, des verheerenden Missmanagements der Wirtschaft oder der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft nicht bewusst wären. Das verhängnisvolle Gleichgewicht hält noch – für wie lange noch, lässt sich nicht sagen – wegen der bleibenden Loyalität der einfachen Menschen zur Idee und dem Erbe der bolivarischen Revolution.
Wofür die Rechte steht und was sie will, ist glasklar: die Rückkehr zu den schlimmsten Zeiten der alten Ordnung. Das Problem ist, dass die PSUV und der chavistische Staat jene Kraft, die noch 2002 den versuchten Coup gegen Chávez und den anschließenden Streik der Bosse vereiteln konnte, entwaffnet und demobilisiert hat, nämlich die Massenbewegung selbst.
Im Jahr 2002 waren die Menschen noch das Subjekt der eigenen Geschichte, aber heute wurde diese Rolle von einer korrupten und zynischen bürokratischen Klasse eingenommen, die mit Elementen des Militärs verflochten ist und ihre Position zum eigenen Nutzen und auf Kosten der venezolanischen Revolution missbraucht. Eine Zukunft wird es wieder geben, wenn jene Massenbewegung, die in der Vergangenheit sich so schnell formierte, wieder mal die geschichtliche Bühne betritt. Wenn sie das tut, wird sie die Lehren jener Jahre, die positiven wie die negativen, sich zunutze machen, um den fortdauernden Kampf gegen das Kapital zu gestalten.
Zum Text: Zuerst auf Englisch veröffentlich auf Jacobin. Aus dem Englischen von David Paenson.
Zum Autor: Mike Gonzalez ist ehemaliger Professor für Lateinamerikanische Studien an der Universität von Glasgo und Autor des jüngst herausgegebenen Buchs »Hugo Chávez: Socialist for the 21st Century« im Pluto-Verlag.
Foto: Jonathan Alvarez C