Im Winter erschütterten neue Proteste Tunesien. Was der Arabische Frühling den Menschen dort gebracht hat und wofür sie heute kämpfen, berichtet die Lehrerin und Aktivistin Samar Tlili im Interview mit marx21
marx21: Zu Jahresbeginn gab es in mehreren Städten Tunesiens große Demonstrationen. Sind die Menschen spontan auf auf Straße gegangen, oder waren es organisierte Proteste?
Samar Tlili: In Wirklichkeit sind Proteste während der Wintermonate, von Dezember bis Januar, nichts Ungewöhnliches, denn es sind gerade die Monate, wo man die Armut besonders spürt, wegen der Kälte. Aber seit der Revolution von 2011 – die ja ebenfalls im Monat Dezember 2010 ihren Anfang nahm – hat sich diese »Tradition« noch mehr ausgeweitet.
Daher hatten wir mit Protesten im vergangenen Winter gerechnet. Aber der Anlass dieses Mal war die Verabschiedung des Staatshaushalts 2018. Es sind drastische Steuererhöhungen beschlossen worden, die die Lebenshaltungskosten in fast allen Bereichen in die Höhe treiben – Getränke, Bücher, Kleidung, alles ist davon betroffen. Noch nie hatten wir solche Steuererhöhungen erlebt.
Wie habt ihr reagiert?
Die Proteste nahmen ihren Anlauf wenige Wochen vor der Verabschiebung im Parlament. Und wie immer gab es harte Repressalien.
Dabei sollte man wissen, dass die Repression unterschiedlich ausfallen kann, je nachdem, wie die Proteste zustande kommen. Es gibt die »offiziellen«, von den Arbeiter- und Studentengewerkschaften, von den großen zivilgesellschaftlichen Organisation, den politischen Parteien und auch Jugendorganisationen, die in den letzten Jahren entstanden sind, ausgerufenen Proteste – die sogenannten »protestations encadrées« – und dann gibt es die »protestations populaires«, die eher spontanen Proteste von Jugendlichen, Arbeitslosen, aber auch Arbeitern, die außerhalb etablierter Strukturen entstehen.
Gegen letztere entfalten das Innenministerium und seine Sprecher, unterstützt von den Medien, die ganze Bandbreite der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Sie bezichtigen die Bewegung des Vandalismus, bauschen die tatsächlichen Fälle von Diebstahl, Einbrüchen oder anderen Eigentumsdelikten ins Unermessliche auf, erfinden alle möglichen Lügen und Verleumdungen und – das ist neu – haben 1200 Menschen verhaftet. Mit ihrer orchestrierten Medienkampagne, mit ihren täglichen Angriffen über Radio, Fernsehen und Zeitungen, ist es ihnen gelungen, die anfängliche breite Zustimmung zu den Protesten gegen den Haushaltsplan, der ja fast alle Menschen trifft, zum Kippen zu bringen und eine allgemein feindliche Atmosphäre zu schaffen.
Wie bei allen Massenbewegungen gibt es auch hier kriminelle Elemente, die sich dranhängen und zu profitieren versuchen, aber es ist keineswegs ein Massenphänomen. Ein weiteres Argument des Innenministeriums ist das altbekannte Lied vom »Terrorismus«. Es hat in den vergangenen Jahren tatsächlich einige Anschläge mit Todesopfern gegeben, aber die Lage ist weitgehend unter Kontrolle – Tunesien ist nicht Syrien oder der Irak, wo der Staat erheblich geschwächt wurde. Die Regierung behauptet also, dass die Bewegungen von Terroristen unterwandert wären, die die prekäre Sicherheitslage im Lande ausnutzen wollten, um terroristischen Organisationen Tür und Tor zu öffnen.
Aber die Menschen verstehen mittlerweile, dass dies bloß ein Vorwand ist, um die Proteste zu schwächen. Und innerhalb der Proteste haben es sich Menschen zur Aufgabe gemacht, die Demonstrationen vor Exzessen zu schützen, und ebenfalls in den Arbeitervierteln sind selbstverwaltete Gruppen entstanden, um ihre Wohnviertel gegen individuellen Vandalismus, aber auch gegen den staatlicherseits geduldeten Vandalismus der Polizei zu schützen.
Wie ging es mit der Bewegung weiter?
Wie gesagt, der Bewegung ist nach einigen Wochen die Luft ausgegangen, teilweise gerade wegen ihres »inoffiziellen« Charakters und einer fehlenden nationalen Organisierung. Die Menschen gehen nach wie vor ein bisschen überall abends auf die Straße und es gibt auch in der Hauptstadt Solidaritätsdemonstrationen, aber ohne landesweite Koordinierung.
Ein weiterer Aspekt ist die Arbeit der politischen Aktivistinnen und Aktivisten. Wir haben uns der Medienpropaganda entgegengestemmt und unterstützen die Proteste durch öffentliche Stellungnahmen, aber die 1200 Verhaftungen mit den damit zusammenhängenden Gerichtsverhandlungen, dem Aufsuchen von Rechtsanwälten usw. haben uns schwer getroffen und uns daran gehindert, effektiv in die Bewegung zu intervenieren. So kam es, dass der Haushaltsentwurf tatsächlich verabschiedet wurde.
Welche Rolle spielte die Kampagne »Worauf warten wir?«
Ja, Fech Nstane, so ihr Name auf Arabisch, ist eine von politischen Aktivisten, jungen Unabhängigen, aber auch jungen Mitgliedern verschiedener Parteien vereinte Kampagne. Sie hat sich auch am Kampf gegen das Haushaltsgesetz beteiligt.
Es gibt wahrlich eine breite Tradition des Aktivismus. Vor Fech Nstane gab es die im August 2015 initiierte Kampagne Manich Msemah (»Ich verzeihe nicht!«) gegen ein geplantes »Versöhnungsgesetz«, unter dem alle der Korruption in Wirtschaft und Verwaltung zur Zeit von Ben Alis Diktatur Angeklagten amnestiert werden sollten. Das heißt, alle Urteile oder Anklagepunkte gegen die führenden Köpfe aus Ben Alis Entourage, seine Minister, seine Kumpels in der Geschäftswelt, Unternehmensvorstände und leitende Funktionäre der Verwaltung wären sang- und klanglos kassiert. Diese Gesetzesvorlage war das Kind des gegenwärtigen Präsidenten Béji Essebsi. Es handelt sich um einen »politischen Kompromiss«, das heißt, die Kader des alten Regimes unterstützten Essebsi bei den Wahlen Ende 2014, und als Gegenleistung wurde ihnen versprochen, ihnen nicht den Prozess zu machen.
Für uns, die die Revolution gemacht und unsere Hoffnungen in Veränderung gesetzt hatten, war es unzumutbar, dass Alles einfach beim Alten bleibt, das war ganz und gar inakzeptabel, und Dutzende Organisationen der Zivilgesellschaft, nebst einer Reihe von politischen Parteien, aber vor allem die öffentliche Meinung ergriffen für unsere Gegenkampagne Partei und ließen sich vom medialen Sperrfeuer auch nicht einschüchtern.
Das Ziel unserer Kampagne Manich Msemah war es, das Gesetz im Parlament zu blockieren. Anfänglich waren wir nur eine kleine Gruppe von jungen Menschen, aber unsere Reihen schwollen schnell an und wir verbreiteten uns übers ganze Land. Das Gesetz wurde dreimal im Parlament gestoppt. Es gab in allen 24 Provinzen Tunesiens große Demonstrationen, an denen sich Abertausende beteiligten. Es gab etliche Zusammenstöße mit der Polizei und viele Verhaftungen – die ganze Palette eben. Zwei Jahre lang hielt unser politischer Kampf gegen dieses Gesetz auf den Straßen und im Parlament an.
Zum Schluss musste die Regierung zwei Drittel der vorgesehen Gesetzesvorlage zurückziehen, und nur ein Drittel wurde im Parlament verabschiedet. Das war für uns und für alle beteiligten Aktivistinnen und Aktivisten der Beweis, dass junge Menschen eine Führungsrolle in breiten, landesweiten Kampagnen übernehmen und selbst »Leader« sein können. Dieser von Jugendlichen initiierte Kampagne gelang es, alle Oppositionsparteien sowie 40 Organisationen und Verbände der Zivilgesellschaft und tausende Einzelpersonen zusammenzubringen. So kam es, dass nach zwei Jahren Aktivitäten Manich Msemah die einzige Organisation war, die zu großen Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern aufrufen konnte. Sogar die politischen Oppositionsparteien kriegen nicht einmal mit vereinten Kräften solche Großdemonstrationen zustande. Manich Msemah ist dadurch zu einem Maßstab der jungen Opposition in Tunesien geworden.
Und seitdem?
Seit 2017 erleben wir eine Reihe weiterer Kampagnen, die sich nach dem gleichen Modell zu organisieren versuchen. Es gab unter anderen die Kampagne gegen Machtmissbrauch und Übergriffe seitens der Polizei, dann gegen das Haushaltsgesetz, und eine weitere gegen die Stärkung polizeilicher Befugnisse.
Und gerade bei Fech Nstane, der Kampagne gegen die neuen Steuern, haben die Initiatoren sehr klug gehandelt, denn sie haben ihr Manifest und die Kampagne gleichzeitig mit den beginnenden Straßenprotesten verkündet. So konnten sie die populären Forderungen in den offiziellen Medien zur Sprache bringen, und es entstand der Eindruck, als ob Fech Nstane sozusagen zum offiziellen Sprachrohr der Bewegung werden könnte. So haben sie beide sich sozusagen gegenseitig ergänzt.
Das Problem war nur, dass Fech Nstane im wesentlichen aus politischen Aktivistinnen und Aktivisten bestand, die Proteste aber auf der Straße nicht durch sie angeführt wurden. Es gab zwischen beiden eine Kluft. Die Protestierenden waren selbst nicht Mitglied in Fech Nstane, auch wenn letztere sich bemühte, die Bewegung zu vertreten. Und dann, als die Demonstrationen abebbten angesichts der Medienkampagne und der vielen Verhaftungen, verließen beide die politische Bühne.
Welche Bedeutung hat der Name »Worauf warten wir?« (Fech Nstane) Handelt es sich um einen populären Slogan?
Genaugenommen ist es nicht ein populärer Slogan. Es drückt eher den Geist von jungen Menschen aus, die sich politisch engagieren. Die Revolution hat 2011 stattgefunden, aber die klassischen politischen Oppositionsparteien waren nicht fähig, die Leute einzubinden, ihnen eine öffentliche Stimme zu verleihen, so dass sich mittlerweile jeder bewusst ist, dass das alte System seine Kräfte wieder sammelt, dass die Lage immer schlimmer wird, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank diktieren, wo es in Tunesien langgeht. Man nimmt zur Kenntnis, dass bei den Wahlen zwei wirtschaftsliberale Parteien – Nidaa Tounes (»Der Ruf Tunesiens«), die Partei des Präsidenten, und die islamistische Partei Ennahda (»Fortschritt«) – den Sieg davon getragen haben und nun eine Koalitionsregierung bilden.
Die Menschen begreifen langsam, dass beim momentanen Zustand der Verzettlung und Zersplitterung auf der Linken, die ja die Proteste unterstützt, das System nicht erfolgreich bekämpft werden kann. Es verbreitet sich die Einsicht, dass etwas Neues geschaffen werden muss, eine neue politische Partei, die alle vereint, die gesamte Linke genaugenommen, oder sonst eine politische Bewegung oder gar ganz neue Strukturen, eine neue Art sich zu organisieren. Und Fech Nstane, »Worauf warten wir?«, bringt dieses weit verbreitete Gefühl zum Ausdruck. Denn wir haben die Menschen, wir haben die Mittel, wir haben das politische Bewusstsein, daher: Worauf warten wir noch?
Die Proteste richten sich in erster Linie gegen die Preissteigerungen und die Sozialkürzungen. Haben sich die sozialen Bedingungen seit 2011 verschlechtert?
Allerdings! In mehrfacher Hinsicht. Wir alle spüren ganz unmittelbar die Preissteigerungen, die alle Güter des täglichen Bedarfs betreffen. Das erklärt auch die breite Ablehnung des Haushalts. Aber es gibt neuerdings eine neue Gefahr, etwas, was wir unter der Diktatur Ben Alis noch nicht kannten, nämlich die ungebändigte Liberalisierung des gesamten öffentlichen Dienstes und die Privatisierung der großen Staatskonzerne. Der Staat befördert Auslandsinvestitionen auf Kosten der nationalen und lokalen Wirtschaft, die vor sich hin darbt.
Das betrifft mittlerweile sogar das Gesundheitswesen und die Bildung, zwei Bereiche, die seit der Unabhängigkeit unter der Ersten Republik von Präsident Bourgiba im Jahr 1956 den Schutz durch den Staat genossen. Der Staat ließ die ganzen Jahre die Gründung von Privatschulen oder -universitäten einfach nicht zu. Seit einigen Jahren hat sich der Wind vollkommen gedreht, Privatbildung gewinnt immer mehr an Boden auf Kosten der öffentlichen Bildung. Und das Gesundheitswesen befindet sich im freien Fall. Das ist eine extrem gefährliche Entwicklung.
Welche Rolle spielen der IWF und die Weltbank genau?
Bei all diesen Entwicklungen haben diese beiden Weltbehörden in der Tat ihre Hand im Spiel. Sie profitieren ganz unmittelbar von den Milliarden Schulden, die der Diktator Ben Ali bei solchen Ländern wie Frankreich, Deutschland und anderen gemacht hat. Anstatt zu reklamieren, dass diese ganzen Gelder lediglich zur Bereicherung des Präsidenten und seiner Familie gedient haben, und niemals dem Land und seiner Bevölkerung zugute kamen und daher nicht zurückgezahlt werden brauchen – was unter internationalem Recht sehr wohl möglich wäre –, folgt die Nach-Ben Ali-Regierung brav den Vorgaben von IWF und Weltbank.
Und so kommt es, dass man ständig neue Schulden aufnimmt, um die alten zu begleichen, und die Staatsschuld von Tag zu Tag weiterwächst. Die Weltbank oder der IWF gibt uns Gelder frei, nur damit wir alte Schuldentilgungen leisten können, und verlangt dabei jedes Mal nach neuen Liberalisierungsmaßnahmen, »Reformen«, wie sie das nennen.
Ganz akut betrifft es gerade die Renten. Der gewerkschaftliche Dachverband »Syndicat du Travail«, der nach der Verfassung eine ganze Reihe von Privilegien genießt, wie Mitsprache bei der Formulierung neuer Gesetze oder gar der Zusammenstellung der Regierung, bei den Wahlgesetzen etc., legt sich ins Zeug, um Verschlechterungen bei der Rente zu verhindern. Er blockiert alle Gesetzesinitiativen in dieser Richtung und hat auch zu einer ganzen Reihe von Streiks aufgerufen. Noch besteht die Möglichkeit, bereits mit 55 Jahren in Rente zu gehen (individuelle Option), und das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt bei 60 Jahren. Nun soll für alle unterschiedslos ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren gelten. Ich selber, als Lehrerin, hatte die Aussicht, mit 55 in Rente zu gehen, nun soll ich weitere zehn Jahre arbeiten!
Habt ihr dagegen gestreikt?
Meine eigene Lehrergewerkschaft hat tatsächlich zum landesweiten Streik gegen die Rentenpläne aufgerufen. Alle Unterrichtsstunden fielen aus, auch die landesweiten Prüfungen wurden ausgesetzt. Es war überhaupt das erste Mal, dass wir zu einem »offenen«, d. h. zeitlich unbegrenzten Streik aufgerufen haben, und das gerade in der Zeit der Schlussexamen. Allerdings wurde unser Streik nicht vom Eltern- und Schülerverband unterstützt.
Es stehen aber noch weitergehende Wirtschaftsreformen an, die jetzt im Rahmen eines großen »Forums« debattiert werden. Der IWF hat mehrere Bedingungen formuliert. Was wir heute erleben, ist keine demokratische Transition, sondern eine wirtschaftliche Transition, von einer geschützten zu einer offenen, ungeschützten Wirtschaft, die die Vorzüge des Landes wie seine Landwirtschaft oder die nationalen und lokalen Industrien nicht zur Geltung kommen lässt. Stattdessen setzen sie auf Tourismus, eine ganz fragile Angelegenheit, denn es reicht ein einziger Anschlag, um Touristen auf Jahre zu verschrecken. Anstatt die kleinen Landwirte zu stützen, verteilen sie Milliarden an die Wirtschaftsbonzen im Umfeld der politischen Macht.
Es gibt beispielsweise eine Parlamentsabgeordnete, Besitzerin des Hotels in Sousse, das Ziel eines Anschlags im Jahr 2015 mit Dutzenden von Toten wurde. Ihr wurden Millionen als Wiedergutmachung aus der Staatskasse in den Rachen geschoben, während der Staat für die Kleinbauern keine Subventionen bereitstellt.
Auch die weit verbreitete Korruption trägt ihren Anteil zur Verschlimmerung der sozialen Bedingungen bei.
Zum Thema Korruption … Das habe ich bei meinen Besuchen in Marokko selbst erlebt. Jeder und jede hat ein bisschen »Macht« über die anderen, in den Behörden vor allem, jeder ist mit jedem »Kumpel«, und wenn man was braucht und nur den offiziell vorgesehenen Weg geht, wird man einfach von einem Büro zum anderen geschickt, und man fühlt sich als Einzelner total machtlos.
Ja, die allgegenwärtige Korruption. Allerdings ist es in Tunesien nicht ganz vergleichbar. Es gibt die Korruption auf staatlicher Ebene, auf der Ebene der Polizei, beim Zoll, und bei den Beziehungen zwischen Geschäftswelt und Staat. Aber die Korruption ist ansonsten nicht so weit verbreitet, auch wenn sie zunimmt, das stimmt.
Tunesien wird als einziges arabisches Land gesehen, dem der demokratische Übergang gelungen ist. Was ist die Situation heute? Funktioniert die Demokratie überhaupt?
Ja, doch, sie funktioniert. Aber was bedeutet das genau? Die beiden Parteien an der Macht wurden durch das Volk demokratisch gewählt. Allerdings hatten sie während der Wahlen die Medien zu Diensten, sie hatten Unmengen Geld zur Verfügung, auch das Ausland hat ihnen Gelder überwiesen, und dazu kommt die gesamte Staatsverwaltung, die ihnen zuspielte. Die Partei des gegenwärtigen Präsidenten, Nidaa Tounes, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Ansammlung von Anhängern Ben Alis, es ist im Endeffekt bloß die Fortsetzung des alten Regimes unter anderen Vorzeichen.
Und was die Staatsverwaltung anbelangt … Es handelt sich nicht nur um die höchsten staatlichen Stellen, es geht runter bis auf die lokale Ebene. In den Dörfern gibt es die Institution des »Hamda«. Er ist dafür verantwortlich, Beschwerden und Probleme der Bevölkerung vor Ort an die zentralen Behörden weiterzuleiten. Aber unter der Diktatur waren all diese Posten durch Mitglieder der Partei an der Macht besetzt. Die gleichen Leute finden sich nun in der neuen Partei Nidaa Tounes wieder. Daher hat Nidaa Tounes eine ganze Verwaltung landauf, landab, die ihnen den sicheren Wahlerfolg garantiert. Man kann daher nicht behaupten, dass die Wahlergebnisse verfälscht wurden, aber man sieht die Grenzen der Demokratie, vor allem nach einer langen Zeit der Diktatur. Sie haben alles, was sie brauchen, die Verwaltung, das Geld, die Medien.
Die moderate islamistische Partei Ennahda hat die ersten freien Wahlen nach Ben Alis Sturz gewonnen. Kannst du uns Ennahda beschreiben? Welche Rolle spielt der Islam in der tunesischen Politik heutzutage?
Nun ja, »moderat« beschreibt allerdings nicht die Wirklichkeit. Sind sie auf der Ebene der Gedanken, auf der intellektuellen Ebene moderat, oder moderat in ihrer Tagespolitik? In Tunesien ist Ennahda gezwungen, sich gesetzeskonform zu verhalten, sie kann nicht nach Gutdünken handeln. Außerdem ist die gesellschaftliche Entwicklung eine andere, die Menschen sind gegen jegliche radikale Ideen ziemlich immun geworden. Zu Beginn der Revolution versuchten Ennahda und andere religiöse Parteien oder Organisationen, große Versammlungen zu organisieren, auf denen sie vom Kalifat und anderem sprachen, aber sie mussten schnell feststellen, dass die Gesellschaft inzwischen weiter war. Daher musste Ennahda, erst vor einem Jahr allerdings, die Trennung von Staat und Religion akzeptieren. Heute ist sie – offiziell zumindest – keine islamistische Partei mehr, aber die Wirklichkeit ist ganz sicher eine andere. Auf der intellektuellen Ebene, auf der Ebene ihres Gedankenguts, bleibt sie eine durch und durch muslimische Partei. Sie ähnelt sehr den Muslimbrüdern Ägyptens, die sie übrigens nie kritisiert haben. In meinen Augen ist sie keine politisch moderate Partei.
Aber lassen wir mal die Bezeichnungen beiseite, die beiden Koalitionsparteien, Ennahda und Nidaa Tounes, ähneln sich. Keine der beiden engagiert sich für eine Entwicklung des Landes, für eine sozial gestaltete Wirtschaft.
Trotz der neuen politischen Freiheiten reagiert der Staat mit Härte gegen die Proteste. Welchen Bewegungsspielraum genießen die Protestierenden überhaupt?
Ja, der Staat geht in der Tat rabiater vor. Das System ist dabei, seine Kräfte wieder zu sammeln, so dass unser Bewegungsspielraum dementsprechend eingeschränkt wird. Aber noch können wir uns ausdrücken, es gelingt uns, Aktivisten aus den Gefängnissen wieder freizubekommen, aber für wie lange noch, das wissen wir nicht. Die Macht kann sich auf den Straßen jederzeit behaupten, daher ist nichts gewiss.
Wie weit auch die Bewegungen auf die politischen Entscheidungen wirken, ist wiederum eine andere Frage. Die Bewegung gegen die Versöhnung beispielsweise, mit ihren großen Straßendemonstrationen und einer enormen Beteiligung seitens der Jugend, hat die politischen Entscheidungen sehr stark beeinflusst. Aber andere Kampagnen, wie die gegen das neue Haushaltsgesetz, oder jene gegen die polizeiliche Willkür, und unzählige andere Proteste, die täglich in den verschiedenen Landesteilen sich zu Wort melden, die Proteste der Arbeitslosen, der Arbeiter, haben die eine Auswirkung auf die Politik? Das steht auf einem anderen Blatt.
Es gibt in Wirklichkeit zwei Wege, den Bewegungsspielraum einzuschränken. Der erste besteht darin, die Leute einfach demonstrieren und schreien lassen, ohne ihnen Gehör zu schenken, der zweite, vor allem, wenn die Demonstrationen anfangen, lästig zu werden, besteht darin, dem Innenministerium und den Medien freie Hand zu lassen, damit fertig zu werden.
Und wie organisieren sich die Protestierenden vor Ort, an der Basis? Gibt es ein landesweites Netzwerk?
Das variiert von Protest zu Protest. Manich Msemah, die Kampagne gegen die Versöhnung beispielsweise, schuf ein nationales Netz, in jedem Landesteil gab es eine aktive Gruppe, und sogar im Ausland gab es von dort lebenden Tunesiern Unterstützung. Aber das gilt nicht für andere Kampagnen.
Es gibt allerdings einige Organisationen der Zivilgesellschaft, die versuchen, ein gemeinsames Netzwerk für die verschiedenen sozialen und wirtschaftsbezogenen Bewegungen mittels Foren und öffentlichen Zusammentreffen zu schaffen, aber wir stehen erst am Anfang. Wir werden sehen, wie weit wir kommen.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften? Rufen sie zu Streiks auf?
Der wichtigste Dachverband, die Union Génerale du Travail, ist sehr mächtig. Er organisiert regelmäßig Demonstrationen, Streiks und alles, was sonst dazu gehört. Er vertritt auch nicht nur das Proletariat im engeren Sinne, sondern auch das Kleinbürgertum. Auf Führungsebene steht er noch unter dem Einfluss der Linken. Er ist offen gegen die Wirtschaftsreformen. Aber allein kann er den Kampf gegen das System nicht gewinnen. Er führt Kämpfe für die Arbeiter an, auch für die Arbeitslosen, denn viele Arbeitslose haben in den Gewerkschaften Zuflucht gefunden, in der Hoffnung, sie werden ihre Interessen vertreten. So spielt die Gewerkschaft gewissermaßen die Rolle einer politischen Partei, während die linken Parteien und die Parteien der Opposition überhaupt so geschwächt sind, dass sie ihre Rolle als Opposition gar nicht wahrnehmen können. Die Gewerkschaft ist an ihre Stelle getreten.
Und die tunesische Linke?
Sie ist nicht in gutem Zustand. Das ist zum Teil dem geschuldet, dass die alten Traditionen verloren gegangen sind, es ist auch eine direkte Folge der enormen Schäden organisatorischer Art, die ihr durch die Diktatur zugefügt wurden. Nach der Revolution gelang es diesen linken Parteien nicht, sich auf die neue Situation umzuorientieren, sich mit den neuen technologischen Möglichkeiten vertraut zu machen, oder mit der neuen Demonstrationskultur, mit den Arbeitsweisen vor Ort. Daher ist ihr politisches Gewicht gering. Das gleiche gilt für das Parlament, wo sie etwa 20 Abgeordnete von insgesamt 300 stellen. Es gelingt ihnen, einige Gesetzesabstimmungen aufzuhalten, aber die Gesetze zu verhindern oder eigene Gesetze durchzubringen, das gelingt ihnen nicht. Insgesamt lässt sich sagen, dass es noch Widerstand auf Parlamentsebene gibt, aber es gelingt ihm nicht, sich durchzusetzen. Das konnte man beim Amnestiegesetz gut beobachten. Wir haben mit den linken Abgeordneten zusammengearbeitet, und es gelang, die Verabschiedung des Gesetzes zwei Jahre lang aufzuhalten, aber schließlich konnte ein Teil der Gesetzesvorlage dennoch passieren. Das zeigt das begrenzte Gewicht der Linken.
Außerdem finden Anfang Mai Gemeindewahlen statt, und hier konnte die linken Parteien nicht einmal in der Hälfte aller Gemeinden Listen aufstellen.
Wie ist die Lage jetzt? Können wir mit erneuten Protesten rechnen, oder ist Ruhe wieder eingekehrt?
Seit der Revolution erleben wir ununterbrochen Proteste, die Lage hat sich niemals beruhigt. Es gibt natürlich Aufs und Abs, in manchen Jahren erleben wir größere Proteste, in anderen sind es weniger. Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass, wenn sich die Lage nicht ändert, es zu einem erneuten Aufflammen kommen wird. Vielleicht keine Revolution, vielleicht nicht mal eine Revolte, aber breite Proteste jedenfalls, und es werden nicht nur Arbeitslose oder Jugendliche demonstrieren, auch Kleinbürger werden dabei sein, denn auch sie leiden unter den Auswirkungen des Haushaltsgesetzes.
Gerade dazu würde ich gerne was erfahren … auf der ideologischen Ebene, kann man sagen, dass das Kleinbürgertum sich eher von den Protesten angezogen fühlt, oder bleibt es weitgehend unter dem Einfluss der Propaganda der Machthaber?
Es ist nicht wirklich eine Frage der Ideologie. Der Begriff »links« ist in Tunesien nicht scharf definiert. Leider wird er mit anderen Konzepten wie dem des Laizismus oder der Ablehnung von Religion vermischt, daher steht für viele Menschen, und das gilt besonders für das Kleinbürgertum, Linkssein nicht für eine soziale Alternative oder eine soziale Wirtschaftsweise, für eine Verbesserung der Lebensbedingungen, sondern sie setzen links mit Atheismus gleich. Das erschwert enorm eine richtige Einordnung des jeweiligen Kontexts. Was die Proteste ganz konkret anbelangt, hängt es davon ab: Steht dieser Mensch, diese bürgerliche Person, der Ennahda, der islamistischen Partei nahe? Dann wird er oder sie sich mit den Entscheidungen dieser Partei identifizieren. Wenn es sich um ein modernistisch eingestelltes Individuum handelt, das eher der Nidaa Tounes, der Partei des Präsidenten, anhängt, wird es mit deren Entscheidungen konform gehen. Aber bei den meisten nicht ideologisch festgelegten Menschen, also den Menschen, die keinen klaren ideologischen Standpunkt beziehen, wird es von der Größe der Schäden abhängen, die ihnen zugefügt wurden. Wenn eine Person direkt in ihren Privilegien betroffen ist, wird sie, so denke ich, die Proteste unterstützen, auch angesichts der starken Medienpropaganda, denn die Menschen haben langsam die Schnauze voll.
Wir stehen aber grundsätzlich vor dem gleichen Problem wie 2011: Es fehlt eine starke politische Partei, die dieser Revolution oder dieser Bewegung einen Rahmen geben kann. Es wird jedenfalls zu harten Auseinandersetzungen kommen, die Forderungen werden viel radikaler ausfallen als 2011, aber wir wissen nicht, was daraus wird.
Das ist natürlich dem System geschuldet, aber auch den linken Parteien, die die versäumte Zeit nicht aufgeholt haben, die ihre Organisationsstrukturen, ihre Ziele, ihre Redensart, ihre Kommunikationsmittel nicht erneuert haben, um eine breiteres Umfeld zu erreichen.
Eine etwas persönlichere Frage … Wie gestaltet sich dein politischer Alltag? Zeitungsverkauf, Diskussionen, Treffen, Kontakte am Arbeitsplatz?
Manchmal ist die Arbeit sehr motivierend, amüsant sogar, sie gibt uns Hoffnung. Aber nach jeder Revolution macht sich zwangsläufig Ernüchterung, das Gefühl einer gewissen Enttäuschung breit. Man hat die Revolution mit allen ihren Träumen, ihren starken Momenten erlebt, und dann, nach einigen Jahren, stellt man fest, wie schwierig es ist, weiterzumachen, nachdem sich all diese Träume eben nicht verwirklicht haben. Andererseits, in den vielen Gesprächen mit Bürgern, wenn man ihnen die Gefahren verschiedener Gesetze erklärt oder versucht, sie für die Teilnahme an einem Protest zu gewinnen, erlebt man schöne Überraschungen. Man stellt fest, dass auch wenig politisierte Menschen, die sich noch nie organisiert haben, dennoch ein scharfes politisches Bewusstsein entwickeln. Sie mögen die Rolle des IWF nicht genau beschreiben können, aber sie werden ihnen sagen: Seht ihr, es gibt doch Länder, die unsere Revolution ausnutzen. Es ist schön zu erleben, dass die Menschen die Zusammenhänge verstehen. Aber es ist nicht immer leicht. Beispielsweise gelang es uns, einem Zusammenschluss von etwa zehn Jugendgruppen, mehr als 10.000 Menschen zu einer Demonstration am 13. Mai 2017 auf die Straße zu bringen. Tunesiens Bevölkerung liegt bei gerade zehn Millionen, daher sind 10.000 eine ganze Menge für unsere Verhältnisse. So viele Demonstrationen dieser Größenordnung hat es nicht gegeben. Das war ein fantastischer Moment, da sieht man, dass man die Dinge verändern kann.
Aber dann gibt es andere Momente, wenn man die ganzen Mittel aufzählt, die dem System zur Verfügung stehen, die Medien, das Geld, die Intervention fremder Mächte in unsere internen Angelegenheiten, dann fällt uns alles wieder auf den Kopf, denn man mag viele Gespräche mit Bürgern führen, Demonstrationen organisieren, aber kann man damit die Entscheidungen des IWF blockieren? Können wir die Einmischung der fünf EU-Staaten verhindern, die hierher gekommen sind, um Investitionsmöglichkeiten zu sondieren? Auf diese Entscheidungen haben wir keinen Einfluss. Das ist eben der Widerspruch: Wir setzen unsere tägliche Arbeit fort, wir haben klare Ziele im Kopf, aber wie diese mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen, das ist das Problem.
Wie ist denn Euer Lehrerstreik ausgegangen?
Leider nicht gut. Unsere Lehrergewerkschaft hat unter dem Druck des Ministeriums, das mit einem »weißen Jahr« – also mit Annullierung aller Examensnoten für das ganze Jahr, mit der Folge, dass alle Schüler das Jahr wiederholen müssten – gedroht hatte, aber auch angesichts der Ablehnung des Streiks durch den gewerkschaftlichen Dachverband, und schließlich in Anbetracht der negativen Haltung des Eltern- und Schülerverbands den Streik abgebrochen.
Dabei war der Streik an sich ein voller Erfolg. Unsere Gewerkschaft hat 90.000 Mitglieder, und der Streik wurde zu 95 bis 98 Prozent befolgt.
Die Schüler und Schülerinnen waren ihrerseits gespalten: die Hälfte gegen, die andere Hälfte für den Streik, wobei die Motive variierten. Für manche war es einfach eine willkommene Gelegenheit, nicht die Schule besuchen zu müssen, aber andere haben sich sehr dezidiert auf unsere Seite gestellt. Auf einem Bild sieht man Schüler, wie sie ein riesiges Banner vom Dach hängen, auf dem die Namen all ihrer Lehrer und Lehrerinnen zusammen mit den von ihnen unterrichteten Fächern in Form eines Stammbaums stehen und darunter der Spruch: »Das ist meine Familie, Finger weg von ihr!«
In der südlichen Küstenstadt Sfax gab es massenhafte Lehrerinnendemonstrationen. Sfax war auch 2011 ein Zentrum der Revolution, den Aktivisten und Aktivistinnen gelang es damals, eine richtige Massenbewegung auf die Beine zu stellen, an der sich auch unterschiedliche Bevölkerungsschichten beteiligten. Sfax war ein Beispiel für das übrige Tunesien.
Unser Streik wurde von den Medien aufs Übelste verleumdet. Das hat uns allerdings echt recht zusammengeschweißt. Es gab vielerorts von uns organisierte Gegenpropaganda, auch in Form von humorvollen Streikzeitungen, aber auch gemeinsamen Festessen mit Musik, oder Kampagnen zur Verschönerung der Schulgebäude.
Was ist in Zukunft mit den Schülern und Schülerinnen? Es wird innerhalb des Eltern- und Schülerverbands sicherlich Auseinandersetzungen geben. Viele werden die Haltung ihres Vorstandes gegen den Streik wohl kritisieren.
Ja, das stimmt. Man konnte während des Streiks eine starke Politisierung der Atmosphäre beobachten. Viele, die sich zuvor für Politik kaum interessiert haben, ergreifen jetzt Partei.
Nun sind wir Lehrerinnen und Lehrer über den Abbruch höchst unzufrieden. Wir werden im Herbst einen neuen Anlauf nehmen müssen.
Zur Person:
Samar Tlili ist Gymnasiallehrerin in Tunesien und aktiv in der Lehrergewerkschaft und den sozialen Bewegungen. Das Interview führte David Paenson.
Foto: Amine Ghrabi Das Foto stammt von einem Protest im Jahr 2013.
Schlagwörter: Arabellion, Arabischer Frühling, Aufstand, Ben Ali, Generalstreik, Gewerkschaft, IWF, Liberalisierung, Linke, Linkspartei, Privatisierung, Protest, Revolution, Streik, Tunesien, Weltbank