Streiken für mehr Klimaschutz? Warum in Leipzig viele Kolleg:innen im Nahverkehr genau das machen, erklärt der Straßenbahnfahrer und ver.di-Vertrauensmann René Gruber im marx21-Gespräch
René, die Leipziger Nahverkehrs-Beschäftigten streiken wirklich für den Klimaschutz?
Natürlich haben wir in Leipzig die Tarifrunde Nahverkehr wie überall in Deutschland. Dabei streiken wir für bessere Arbeitsbedingungen. Unsere Arbeit ist sehr belastend. Deshalb fordern wir mehr freie Tage und längere Pausen zwischen den Fahrten.
Also doch eine stinknormale Tarifrunde
Überhaupt nicht. Wir haben eine tolle Kampagne zusammen mit den Aktivist:innen von »Wir fahren zusammen« (WFZ) auf die Beine gestellt. Die Aktiven von ver.di bei den Leipziger Vehrkehrsbetrieben (LVB) und von »Wir fahren zusammen« sprechen seit Monaten mit den Kolleg:innen. Wir wollen jede Einzelne überzeugen, dass bessere Arbeitsbedingungen und Klimaschutz zusammengehören.
Wieso das?
Um den Klimaschutz voranzubringen, brauchen wir mehr Nahverkehr und den gibt es nur mit mehr Personal. Aber damit mehr Leute bei uns arbeiten wollen, brauchen wir wiederum bessere Arbeitsbedingungen.
Zum Beispiel …
… müssen wir Fahrer oft sogenannte »geteilte Dienste« machen. Von 6 bis 10 Uhr und dann nochmal von 16 bis 20 Uhr. Für einen solchen geteilten Dienst bekommen wir derzeit sage und schreibe 6 Euro extra. Das ist viel zu wenig, um Leute davon zu überzeugen, im Nahverkehr zu arbeiten.
Klimaschutz und Arbeitsbedingungen gehören zusammen. Klimaschützer:innen und Gewerkschafter:innen kämpfen auf derselben Seite der Barrikaden und gegen denselben Gegner: Bürgermeister und Stadträte die insgeheim froh sind, kein Personal zu finden. Weil sie dann Geld sparen.
Kolleg:innen in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes 2023 in Leipzig
Wie stehst du zum Klimaschutz?
Der ist mir sehr wichtig. Der Klimawandel führt vor allem im globalen Süden zu grauenhaften Katastrophen. Zudem bin ich auch ein Naturmensch und fahr oft raus in die Sächsische Schweiz. Wenn ich dort die abgebrannten Wälder sehe und bei Leipzig ausgetrocknete Teiche. Das sind Bilder, die mich zum Nachdenken gebracht haben.
Wie läuft es mit »Wir fahren zusammen«?
Immer besser. Mittlerweile legen wir jeden Monat ein Treffen der ver.di-Betriebsgruppe und der »Wir-fahren-zusammen«-Gruppe zusammen. Dadurch können wir unsere gemeinsamen Aktivitäten besser absprechen und Termine finden.
Können die Aktiven euch wirklich unterstützen?
Auf jeden Fall. Beim letzten Streiktag haben die abends ver.di-Material abgeholt und morgens um 3 Uhr an die Betriebshöfe gebracht. Ich habe Höchstachtung davor, dass diese jungen Leute uns mitten in der Nacht beim Streik helfen. In dem Alter hatte ich andere Sachen im Kopf.
Ich finde die »Wir-fahren-zusammen«-Leute super. Die sind authentisch. Die labern nicht nur. Die wollen auch was machen, und zwar hier bei der LVB.
Du wirkst begeistert
Das bin ich. Stell dir das vor: 50-jährige Busfahrer beugen sich nach Feierabend mit 20-jährigen Studentinnen über ein Bettlaken und malen zusammen ein Transparent für bessere Arbeitsbedingungen und Klimaschutz. Manchmal denke ich, ich träume.
Und dich selbst …
… hat die Gewerkschaftsarbeit auch weitergebracht. Ich mache Redebeiträge und organisiere mit bei den Versammlungen und Streiktagen. Ich hatte das schon immer in mir.
Aktive von ver.di und »Wir fahren zusammen« in Dresden zur Übergabe ihrer Forderungen an die Arbeitgeber
Wie habt ihr das aufgebaut? Mit langer gewerkschaftlicher Tradition?
Ganz und gar nicht. Noch 2022 waren bei der LVB nur 15 Prozent der Beschäftigten Mitglied von ver.di. Auch ich war zwar Mitglied und hab meinen Beitrag gezahlt. Aber aktiv war ich überhaupt nicht.
Was ist dann passiert?
Ab Oktober 2022 kamen oft unser ver.di-Sekretär Paul Schmidt und mehrere ver.di-Organizer in unsere Betriebshöfe und haben mit den Kolleg:innen über die Tarifrunde im öffentlichen Dienst 2023 gesprochen. Das kannten wir nicht und haben uns anfangs gewundert.
Aber ich habe gemerkt: Die meinen es 100 Prozent ernst. Die sitzen nicht beim Arbeitgeber auf dem Schoß. Die wollen Streiks organisieren und eine ordentliche Lohnerhöhung durchsetzen.
Mehr Geld war euch wichtig?
Oh ja, verdammt wichtig. Nahverkehr in Sachsen ist nicht dasselbe wie in NRW oder Bayern. Wir hatten jahrzehntelang den schlechtesten Nahverkehrs-Tarifvertrag Deutschlands. Noch unterboten von schlechteren Haustarifverträgen in einzelnen Städten wie auch Leipzig.
Wir haben für dieselbe Arbeit deutlich weniger verdient als die Kolleg:innen im Westen. Und in Leipzig sind die Mieten mittlerweile höher als in einer westdeutschen Kleinstadt.
Ich muss immer lachen, wenn sich Politiker darüber wundern, dass in Ostdeutschland die Stimmung vielleicht nicht immer ganz so entspannt ist, wie sie das gerne hätten. Tja, von sowas kommt sowas.
Und die hohe Inflation …
… hat uns den Rest gegeben. Wir standen mit dem Rücken zur Wand. Für mich war ein einschneidendes Erlebnis, als ich für meinen Sohn und mich eine Bauernpfanne machen und dafür im Lebensmittelgeschäft drei Stück Paprika kaufen wollte. Aber als ich gesehen habe, dass die 4 Euro kosten, habe ich sie zurückgelegt.
Das muss schmerzhaft gewesen sein
Und wie. Wir machen im Nahverkehr gesellschaftlich wichtige Arbeit. Ohne uns geht in den Städten nichts und wenn wir streiken, schimpfen alle. Und trotzdem wurden wir dafür so schlecht bezahlt, dass ich meinem Sohn nicht mal was Ordentliches auf den Tisch stellen konnte.
Hat sich was geändert?
Ja. Wir haben in der Tarifrunde 2023 gemeinsam gestreikt und je nach Tätigkeit bis zu 20 Prozent Lohnerhöhung durchgesetzt. Das bedeutet aber nur, dass wir jetzt annährend so viel verdienen, wie die Nahverkehrs-Beschäftigten im Westen. So weit wurden wir all die Jahre abgehängt.
Wie haben die Kolleg:innen das empfunden?
Hat eingeschlagen wie eine Bombe. Und bald nach der Lohntarifrunde begann ja schon die Vorbereitung der jetzigen Tarifrunde Nahverkehr für bessere Arbeitsbedingungen mit »Wir fahren zusammen«.
Das passt perfekt. Für mich gibt’s nicht mehr Aktive für Klimaschutz auf der einen und Beschäftigte auf der anderen Seite. Wir sind ein Team. Wir kämpfen zusammen und wir gewinnen hoffentlich zusammen.
Sharepic von René Gruber für die Tarifrunde Nahverkehr
Gab es auch schwierige Momente?
Oh ja. Wir haben im Oktober 2023 absichtlich am Tag des Spiels der Fußball-Champions-League von RB Leipzig gegen Manchester City gestreikt. Alle Zuschauer mussten eine halbe Stunde zu Fuß vom Bahnhof zum Stadion laufen.
Wir haben uns vorher 1000-mal gesagt, dass wir das Recht dazu haben und nichts passieren kann. Ist auch nichts passiert. War daher ein Erfolg und wir haben auch Zuspruch bekommen.
Wie viele Beschäftigte der LVB sind jetzt ver.di-Mitglied?
Etwa 40 Prozent. Die Streiks 2023 und die Lohnerhöhung haben uns Recht gegeben: Wer kämpft, kann gewinnen. Deshalb der enorme Anstieg von 15 auf 40 Prozent gewerkschaftlicher Organisationsgrad.
Ist noch mehr drin?
Sicher. Aber es ist auch nicht alles einfach. Gerade die älteren Kolleg:innen haben auch schlechte Erfahrungen mit ver.di gemacht. Die Mitglieder konnten sich wenig beteiligen und die abgeschlossenen Tarifverträge waren schlecht.
Viele waren auch mal ver.di-Mitglied und sind vor Jahren ausgetreten. Da ist die Hürde, wieder mitzumachen besonders groß.
Klingt nach einer schwierigen Aufgabe.
Manchmal schon. Ich habe vor zwei Jahren auch mal eine Organizerin gefragt: »Weißt du eigentlich, was hier für Leute arbeiten? Was die für einen Rucksack mit sich rumtragen? Wie enttäuscht und frustriert die sind?«
Wusste sie nicht. Aber wir haben zusammen was Großartiges aufgebaut. Wenn du mich damals gefragt hättest, ob hier mal vier von zehn in der Gewerkschaft sein werden, hätte ich die Hälfte meines Gehaltes verwettet.
Wie gehst du heute mit frustrierten Kolleg:innen um?
Ich rede darüber, was wir ändern können. Ver.di war vor 20 Jahren schlecht? Kann sein. Ver.di war vor 10 Jahren schlecht? Kann auch sein und ich verstehe auch, wenn man davon enttäuscht ist.
Aber die entscheidende Frage ist doch: Wie kann ich meine Situation jetzt verbessern?
Und für Arbeiter und Angestellte heißt das: Sich in der Gewerkschaft organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Kommt raus aus eurer eingebildeten Komfort-Zone, die doch gar nicht komfortabel ist. Raus aus eurem Opfer-Verhalten. Über die Vergangenheit zu schimpfen, hat noch niemanden weitergebracht.
Setzt ver.di euch Grenzen?
Nein. Natürlich setzt ver.di deutschlandweite Streiktage fest. Aber das erhöht ja auch den Druck, den wir machen können. Und in einer Flächentarifrunde ist man natürlich immer davon abhängig, was deutschlandweit ausgehandelt wird.
Aber was wir im Betrieb machen, entscheiden wir zu 100 Prozent selbst. Wenn jemand sagt: »Ich kann die Gewerkschaft nicht ausstehen«, antworte ich: »Ich bin die Gewerkschaft. Du bist die Gewerkschaft. Wir alle sind die Gewerkschaft.«
Die Forderungen der Tarifrunde sind nicht die ver.di-Forderungen. Das sind unsere Forderungen. Ver.di streikt nicht. Die Organizer streiken auch nicht. Nur die Kolleg:innen im Betrieb können streiken. Alles hängt von uns ab.
Habt ihr auch Rechtsradikale im Betrieb?
Auf jeden Fall. Und auch bei denen hat die gemeinsame Kampagne von ver.di und »Wir fahren zusammen« was ausgelöst. Manche kriegen sich gar nicht mehr ein vor Wut.
Aber ich betone immer: Nicht unsere Klimaschutz-Kampagne hat Leute rechts gemacht. Deren Stimmung war schon vorher vergiftet. Nur lassen sie es jetzt raus. Das ist so, wie wenn man im Garten einen großen Stein anhebt und auf einmal sieht, dass da hunderte Würmer und Käfer drunter sind. Widerlich.
Woher kommen rechte Einstellungen?
Das ist nicht einheitlich. Aber die meisten haben gemeinsam, dass sie jede Hoffnung verloren haben, dass sich für sie selbst oder ihre Kollegen jemals was ändern könnte. Die haben alles aufgegeben. Und selbst wenn sich etwas verbessert, merken sie es gar nicht mehr.
Und die Kolleg:innen mit Migrationsgeschichte …
… gibt es. Aber von denen streikt bisher leider kaum jemand mit. Die ver.di-Betriebsgruppe hat auch mal ein Treffen speziell für Leute mit Migrationsgeschichte gemacht. Aber da kam fast niemand.
Wie kommt das?
Wir sind hier in Ostdeutschland. Da gibt es ganz wenig Migrant:innen, die schon jahrzehntelang hier sind. Wir haben bei der LVB vor allem Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan. Die sind erst ein paar Jahre hier, haben keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und sprechen nicht perfekt Deutsch.
Natürlich erklären wir den Kollegen, dass ein Streik niemals ein Grund sein darf, entlassen oder ausgewiesen zu werden. Aber wie sollen wir das beweisen? Diese Leute haben einfach deutlich mehr zu verlieren als ich mit meinem deutschen Reisepass.
Außerdem: Wenn ich nach Kabul auswandere und jemand quatscht mit auf Persisch voll von wegen Gewerkschaft und Streik, würde ich mich vielleicht auch erstmal ein paar Jahre zurückhalten, bis ich verstanden habe, was da genau passiert.
Warst du auch in anderen Betrieben?
Ja. Ich hab am Leipziger Flughafen bei einer ver.di-Veranstaltung mit Kolleg:innen gesprochen. Da habe ich einigen schlecht gelaunten geantwortet: Für mich ist ver.di ein Bilderrahmen. Und ohne Rahmen hängt auch das beste Bild in der Luft. Aber das Bild malen können nur wir Beschäftigte im Betrieb. Und das Bild ist doch nachher viel interessanter als der Rahmen.
In der Tarifrunde 2023 war ich mit anderen LVB-Kollegen auch in Kitas und hab den Erzieherinnen erzählt, wie es bei uns läuft und dass sie auch mitstreiken sollen. Das hat großen Eindruck hinterlassen.
Unsere Zukunft ist noch nicht geschrieben. Sie ist das, was wir daraus machen. Also lass uns für eine gute Zukunft sorgen.
René, wir danken dir für das Gespräch
Die Fragen stellte Hans Krause
Schlagwörter: Klimaschutz, Streik, Ver.di