Mit der Akribie eines Buchhalters hat Heiner Dribbusch fast alle Arbeitskämpfe in den zurückliegenden 23 Jahren dokumentiert und ausgewertet. Mit dieser verdienstvollen Arbeit ist eine fundierte Grundlage entstanden, um die notwendigen Diskussionen über die Perspektive der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland weiterzuführen. Von Jürgen Ehlers
Tarifflucht und sinkende Mitgliederzahlen in erheblichem Umfang haben alle Gewerkschaften – wenn auch unterschiedlich stark – getroffen. Beides Entwicklungen, die für eine Schwächung der Gewerkschaftsbewegung stehen. Ein Befund von Dribbusch, der nicht grundsätzlich neu ist. Die von ihm dokumentierten Zeitreihen machen aber die Dramatik dieser Entwicklung sichtbar. So ist im Westen – von 2000 bis 2021 – die Tarifbindung von 48 auf nur noch 28 Prozent gesunken und im gleichen Zeitraum im Osten von 27 auf gerade einmal 19 Prozent. In etwa dem gleichen Zeitraum haben die DGB-Gewerkschaften, mit Ausnahme der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Gewerkschaft der Polizei (GdP) mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Rund 2,5 Millionen abhängig Beschäftigte, haben den Gewerkschaften in den letzten zwei Jahrzehnten den Rücken gekehrt, während sich im gleichen Zeitraum die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um rund 7 Millionen erhöht hat. In einigen Branchen sind die Gewerkschaften so geschwächt, dass sie sich nicht mehr für handlungsfähig halten – so beispielsweise die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). Der Aufgabe, wieder in die Offensive zu kommen und den bisher dafür erprobten Lösungsansätzen, widmet Dribbusch viel Aufmerksamkeit. Das ist die besondere Stärke seines Buches.
Chancen nutzen – in Bewegung kommen
So wie im Titel des Buches angekündigt, steht der Streik im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Der Arbeitskampf – besonders der Erzwingungsstreik – ist in Deutschland die große Ausnahme vom Berufsalltag. Die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten – über 80 Prozent – haben nie erfahren, was ein Arbeitskampf mit ihnen macht und wie sich die Beziehung zu den Kollegen dadurch verändern kann.
Ob ein Arbeitskampf im Bewusstsein der Belegschaft überhaupt etwas verändert und, hängt entscheidend davon ab, wie dieser geführt wird. Dribbusch erwähnt in diesem Zusammenhang den sogenannten »Tapezierstreik«, bei dem die Beschäftigten die durch den Streik gewonnene Freizeit ausschließlich für häusliche Aktivitäten nutzten. Eine tradierte Kampfform, die jahrzehntelang vor allem in den Industriegewerkschaften in gut organisierten Großbetrieben gepflegt worden ist. Der sicherste Weg um zu verhindern, dass sich auch nur die leiseste Spur von Klassenbewusstsein entwickelt. Diese Kampfform gehört inzwischen nicht vollständig der Vergangenheit an, hat aber an Bedeutung eingebüßt, weil der Verteilungskampf mit den Unternehmern immer härter geworden ist.
Arbeitskämpfe sind die beste Werbung für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Eine Binsenweisheit, die von niemandem in den Führungsetagen der Gewerkschaften bestritten wird, wie Dribbusch feststellt. Wie erfolgreich das Zeitfenster vor Beginn eines Tarifkonfliktes für die Organisierung genutzt werden kann, hängt aber stark davon ab, ob die Gewerkschaft überzeugend auftritt, also erkennen lässt, dass sie einem Erzwingungsstreik nicht aus dem Weg gehen wird, wenn es darauf ankommt.
Die Arbeitskämpfe in den letzten Jahren haben vermehrt im Dienstleistungssektor stattgefunden und sind weiblicher geworden. Waren es beispielsweise früher die Müllmännern, die die Streiks im Öffentlichen Dienst oft im Alleingang bestritten haben, so sind es heute die meist weiblichen Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst. Deren Arbeitskampf hat zu dem eine politische Dimension, so wie auch die Kämpfe des Pflegepersonals in den Krankenhäusern, weil es nicht nur um Tariferhöhungen, einen besseren Personalschlüssel und damit auch bessere Arbeitsbedingungen geht. Eine gute Kinderbetreuung und Krankenversorgung werden von der Bevölkerung gefordert, von den politisch Verantwortlichen versprochen, aber nicht eingelöst.
Dribbusch: Demokratisierung von Streiks
Dribbusch diskutiert auch die von verdi im Sozial- und Erziehungsdienst sowie in Krankenhäusern erfolgreich getestete Demokratisierung von Arbeitskämpfen, um die Mobilisierung der Belegschaften zu erleichtern, neue Mitglieder zu gewinnen und den Einsatz der Mitglieder für den Arbeitskampf zu erhöhen. Die Demokratisierung von Arbeitskämpfen ist in den Augen der Gewerkschaftsführung nicht unproblematisch, weil sich das Konfliktpotential zwischen Führung und Basis damit erhöht, wenn die Mitglieder mit einem Verhandlungsergebnis unzufrieden sind. Um diese Konfliktsituation zu entschärfen, sind inzwischen infolge entsprechender Erfahrungen einige Entscheidungsmöglichkeiten der Basis durch den Vorstand zurückgenommen worden.
Dribbusch zieht in seiner Schlussbetrachtung ein wichtiges Resümee: »Sie [die Streiks] bieten die Chance dass sich Beschäftigte neu erfahren und sie können positive Erlebnisse vermitteln. Wer mit Streikenden spricht, bemerkt immer wieder, dass häufig nicht nur für die deklarierten Streikziele gestreikt wird, sondern dass die demonstrative Arbeitsverweigerung Firma wie Vorgesetzten auch zeigen soll, dass die Beschäftigten nicht alles mit sich mache lassen.«
Er warnt gleichzeitig davor, diesen Effekt zu überschätzen und daraus abzuleiten, dass es einen Automatismus vom gewerkschaftlichen zum revolutionären Bewusstsein gibt. Aber die mit Streiks verbundene Erfahrung von Klassensolidarität und die Überwindung des weit verbreiteten Ohnmachtsgefühls, können der Türöffner für Diskussionen um politische Perspektiven sein, die der der AfD, die auch unter Gewerkschaftsmitgliedern zu viele Anhänger hat, den Nährboden entziehen.
Das alles spricht dafür, dass der Demokratisierungsprozess in allen Gewerkschaften intensiviert wird, gleichzeitig die Gewerkschaften offensiver agieren und dadurch mehr Beschäftigte in Arbeitskämpfe als Akteure hineingezogen werden, die zusammen mit den KollegenInnen eigenverantwortlich handeln. Das steht so nicht in diesem sehr lesenswerten Buch, aber zwischen den Zeilen ist deutlich erkennbar, dass Heiner Dribbusch diese Vorstellung im Grundsatz teilt.
Das Buch:
Heiner Dribbusch
Streik – Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000, Daten Ereignisse, Analysen
VSA-Verlag
Hamburg 2023
374 Seiten
€ 29,80
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Streik