Sieben Jahre nach dem Sturz des langjährigen Diktators Ben Alí gehen in Tunesien erneut Zehntausende auf die Straße. Die Proteste knüpfen an den Arabischen Frühling an und könnten die gesamte Region erneut erschüttern. Von Martin Haller
Mit Beginn des Jahres 2018 brachen in mehreren Städten Tunesiens Proteste aus. Zunächst getragen von arbeitslosen Jugendlichen breiteten sie sich rasch aus und erreichen mittlerweile selbst abgelegene Provinzen. Die Bewegung weist viele Gemeinsamkeiten mit den aktuellen Kämpfen im Iran auf. Dort haben sich lokale soziale Proteste angesichts harscher Repression vonseiten des Staatsapparats rasch zu einer landesweiten Bewegung entwickelt, die das gesamte Regime infrage stellt.
So wie im Iran reagierte auch der tunesische Staat auf die Proteste mit massiver Repression, wodurch die Situation schnell eskalierte und an zahlreichen Orten Straßenkämpfe mit der Polizei ausbrachen. Mittlerweile hat die tunesische Armee mehrere Städte besetzt, um die Proteste zu unterdrücken und den Widerstand zu zerschlagen. So marschierte das Militär unter anderem die Protesthochburgen Kasserine und Gafsa im Westen des Landes ein. Beide Städte und die gleichnamigen Provinzen waren schon während des Arabischen Frühlings 2011 Zentren der Bewegung.
Armut und Arbeitslosigkeit in Tunesien
Hunderte Demonstrierende wurden bereits verhaftet und es gab mindestens einen Toten. Am 8. Januar wurde der 55-jährige Demonstrant Khomsi el-Yerfeni in Tebourba, einem Vorort von Tunis, von einem Polizeiauto überfahren. Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich im ganzen Land und führte zur Ausweitung der Bewegung auf über 20 Städte sowie zu zahlreichen Zusammenstößen mit Armee und Polizei. Es sind dieselben Protestzentren wie bereits 2011: Sidi Bouzid, Kasserine, Gafsa, Sousse, El Kef, Thala, Gabes, Nabeul, Redeyef, Kairouan und Sfax.
Schon der damalige Aufstand, der sich rasch im gesamten arabischen Raum ausbreitete und schließlich zum Sturz mehrerer Regimes führte, begann als sozialer Protest gegen Armut, Ausbeutung und Arbeitslosigkeit. Doch die Lage der Bevölkerungsmehrheit hat sich seither nicht gebessert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt Schätzungen zufolge bei über 35 Prozent – in manchen Regionen sind sogar über die Hälfte der unter 25-Jährigen ohne Arbeit. Trotz guter Ausbildung hat ein Großteil der jungen Tunesierinnen und Tunesier kaum eine Chance auf eine halbwegs gesicherte Zukunft. Die Regierung setzte den neoliberalen Kurs, den bereits Präsident Ben Alí eingeschlagen hatte, nach dessen Sturz fort und intensivierte ihn weiter.
Tunesien und der IWF
So ist der Auslöser der aktuellen Protestwelle der Ende letzten Jahres von der Regierung in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgestellte Haushaltsplan für das Jahr 2018. Im Gegenzug für den Verzicht auf die Rückzahlung einer Kredittranche von 320 Millionen US-Dollar an den IWF verpflichtete sich die tunesische Regierung, eine Reihe neoliberaler Wirtschaftsreformen und Ausgabenkürzungen umzusetzen.
Der Plan der Regierung, den selbst der IWF als »ambitioniert« bezeichnet, folgt den Vorgaben des Gläubigers, das Haushaltsdefizit unter fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken. Dies soll insbesondere durch Steuererhöhungen und das Streichen von Subventionen auf Konsumgüter erreicht werden. Beides trifft vor allem die Ärmsten, die bereits unter den massiven Preissteigerungen der letzten Jahre für Benzin und Lebensmittel leiden. Die Reichen und Konzerne bleiben hingegen verschont. Zudem plant die Regierung eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarkts und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters.
Soziale Krise und enttäuschte Hoffnungen
Tunesien steckt schon seit Jahren in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise. Statt der erhofften Verbesserung der Lage der Bevölkerung infolge der »Jasminrevolution« ist eine weitere Verschlechterung zu verzeichnen. Die Tourismusbrache, die in den Jahren der Diktatur zu einem der bedeutendsten Wirtschaftszweige des Landes heranwuchs, konnte sich nie von ihrem Einbruch im Zuge des Arabischen Frühlings erholen. Zwei schwere Terroranschläge im Jahr 2015 haben die Krise weiter verschärft. Nun bricht sich die Wut über steigende Preise und die aussichtslose Lage auf den Straßen Bahn.
Die jetzige Regierung unter Premierminister Youssef Chahed beruht auf einem Kompromiss zwischen der moderat-islamistischen Partei Ennahda und der 2012 gegründeten säkularen Sammlungspartei Nidaa Tounes, hinter der in Wahrheit niemand anderes als die alten Unterstützer Ben Alís stecken. Auch der amtierende Präsident, der 91-jährige Beji Caid Essebsi, ist ein Mann des alten Regimes, dem es seit nunmehr vierzig Jahren gelingt, sich bedeutende Posten im Staatsapparat zu sichern. Somit sind »Islamisten« und »Säkulare« nun vereint in der Verteidigung der Privilegien der Reichen und im Schutz der bestehenden Ordnung gegen den wachsenden Unmut von unten.
Abgerissener Faden des Arabischen Frühlings
Die »Jasminrevolution« von 2011 war das Resultat einer Bewegung, die soziale Forderungen nach Brot und Arbeit mit politischen Forderungen nach Freiheit und einem Ende der Unterdrückung verband. In einer Reihe von Massendemonstrationen und regionalen Generalstreiks trotzte sie der staatlichen Repression. Es gelang der Bewegung, die Diktatur zu stürzen, aber der tunesische Kapitalismus blieb intakt. Heute fühlen sich die Massen von damals und insbesondere die revolutionäre Jugend um ihren Sieg beraubt und verraten.
Für den heutigen Freitag (12. Januar) sind erneut Demonstrationen in zahlreichen Städten angekündigt. Wenn die jetzige Bewegung den abgerissenen Faden des Arabischen Frühlings wiederaufnehmen will, muss sie – wie damals – die sozialen Forderungen mit dem politischen Kampf um die Macht im Staat verknüpfen und die Proteste der oft arbeitslosen Jugendlichen mit den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben zusammenbringen.
Foto: raphaelthelen
Schlagwörter: Analyse, Arabischer Frühling, Arbeitslosigkeit, Armut, Ben Ali, Demonstrationen, Generalstreik, Islam, IWF, Kapitalismus, Militär, Polizei, Protest, Revolution, Tunesien