Die Abstimmung über den Austritt aus der EU war auch ein Aufbegehren gegen die neoliberale Politik der Eliten. Aber wie geht es nun weiter für die Linke in Großbritannien? Von Charlie Kimber
Charlie Kimber ist führendes Mitglied der Socialist Workers Party in Großbritannien und Autor des Buches »Jeremy Corbyn, Labour and the fight for socialism«.
Sowohl in der englischen als auch in der europäischen Linken gab es heftige Auseinandersetzungen darüber, wie man sich zum Brexit verhalten sollte. Ich habe das Ergebnis der Abstimmung in Großbritannien freudig aufgenommen. Denn das neoliberale Projekt EU wurde geschwächt. Gleich nach der Abstimmung über den Austritt wagte die Union es nicht, der spanischen und portugiesischen Regierung Geldbußen aufzuerlegen, weil diese gegen die europäischen Schuldenregeln verstoßen hatten. Die portugiesische Linke drohte mit einem eigenen Referendum.
Rassismus und der Aufstand gegen die Elite
Die EU zwingt den Mitgliedstaaten zwar weiterhin ihre Sparpolitik auf, aber sie hat eine deutliche Niederlage erlitten. Das ist eine positive Entwicklung und wir werden hoffentlich noch mehr Beispiele für Widerständigkeit gegen die EU erleben. Der Brexit war ein Aufstand der einfachen Leute gegen die Elite. Aber die Abstimmung hatte auch eine andere Facette: die Zunahme rassistischer Angriffe. Doch der Rassismus gegen Geflüchtete, Muslime und Arbeiter aus Polen kam nicht erst am 24. Juni auf, dem Tag nach der Abstimmung. Die Tories und die noch weiter rechts stehende UKIP (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) hatten ihn, im Verbund mit den Medien, schon lange vorher geschürt. Anstatt von dem Brexit-Votum zu profitieren, befindet sich UKIP nun allerdings in einer schweren Krise. Ihr Parteichef Nigel Farage ist zurückgetreten. Bei den letzten Kommunalwahlen stagnierte UKIP oder verlor sogar Stimmen.
Auch die britischen Konservativen befinden sich in einer Krise. Zwar erfreut sich ihre neue Premierministerin, Theresa May, derzeit großer Zustimmung, aber die Tories stehen vor zwei großen Problemen: Das erste betrifft die Notwendigkeit, die Sparpolitik durchzusetzen. Das zweite Thema betrifft die EU selbst. Von zwei Seiten werden die Konservativen unter Druck gesetzt. Auf der einen Seite stehen das Großkapital und die Banken, die uneingeschränkten Zugang zu einem gemeinsamen Markt wünschen. Sie sind deshalb zu Zugeständnissen bezüglich der von der EU geforderten »Arbeitnehmerfreizügigkeit« bereit. Auf der anderen stehen der rechte Flügel der Tories, UKIP und ähnliche Kräfte, die die Zuwanderung beenden wollen. Vermutlich wird der Lack bei den Konservativen und May bald ab sein und sie werden vor schwierigen Entscheidungen stehen. Vielleicht setzt May auf Neuwahlen, aber das birgt Risiken. Denn es gibt kein Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung. Die europäische Ökonomie macht keine großen Sprünge; die britische Volkswirtschaft stagniert schon seit Langem wegen der niedrigen Produktivität und fehlender Investitionen.
Die Linke und der Brexit
Die Linke begleitete die Brexit-Abstimmung mit eigenen Forderungen. Zwar war die »Lexit«-Kampagne (Left Exit, linker Austritt) klein, aber wir konnten zeigen, dass es möglich ist, auf einer antirassistischen, antikapitalistischen und internationalistischen Grundlage gegen die EU zu sein.
Die ganze Linke sollte die demokratische Abstimmung respektieren und jetzt eine gemeinsame Plattform finden. Solange die Arbeiterklasse jedoch gespalten ist zwischen denen, die das Votum rückgängig machen wollen, und denen, die es umgesetzt sehen möchten, wird das schwierig sein. Deutlich wurde das an der Wahl der Führung der Labour Party: Der vom Labour-Apparat nominierte Kandidat Owen Smith trat für eine zweite Abstimmung oder für eine Neuwahl ein, die zur Entscheidungsschlacht über den Vollzug des Austritts aus der EU geworden wäre. Gleichzeitig haben Sozialistinnen und Sozialisten, die für den Brexit waren, mehr mit denen gemeinsam, die den linken Parteichef von Labour, Jeremy Corbyn, unterstützen, aber für den Verbleib in der EU gestimmt haben, als mit denen, die für den Austritt stimmten, aber Tories oder Schlimmeres gewählt haben. Wir müssen dafür eintreten, dass EU-Bürger in Großbritannien gleiche Rechte haben. Auch wenn nicht alle, die sich an der linken Austrittskampagne beteiligt haben, diese Forderung teilen, müssen wir für Freizügigkeit in der EU und generell offene Grenzen eintreten. Wir müssen für die Festschreibung von Gewerkschaftsrechten im Rahmen der Austrittsverhandlungen eintreten und für die Rücknahme der im Jahr 2015 durchgesetzten Einschränkung des Streikrechts kämpfen.
Corbyn und der Kampf in Labour
Wir stehen vor einer weiteren und wichtigen Herausforderung für die Linke: Der rechte Flügel der Labour Party kämpft nach wie vor gegen die Parteiführung. Seither hat Jeremy Corbyn im ganzen Land vor Tausenden begeisterter Anhänger gesprochen, was ein Ausdruck für eine schon lange in der britischen Gesellschaft gärende Stimmung ist. Die Verbitterung über die Herrschaft der Reichen und der politischen Elite war der Nährboden für die Entstehung neuer linker Parteien wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland. In Großbritannien kristallisiert sie sich in der Person Corbyn.
Die Frage wird sein, ob Corbyn den Kompromiss mit den Rechten sucht oder ob er die Demokratisierung der Labour Party weiter vorantreibt. Dazu muss er die soziale Bewegung in der Partei stärken, um die Rechten zu vergraulen. Entscheidend wird aber die Mobilisierung auf der Straße und in den Betrieben sein.
Die Labour-Rechte hatte gehofft, dass diese Art von Politik der Vergangenheit angehört. Deshalb arbeitet sie jetzt mit Verunglimpfungen wie der Behauptung, es handele sich um trotzkistische Infiltrationspolitik, oder all die neuen Mitglieder seien lediglich Corbyn-Fans, aber keine echten Labour-Anhänger. In Letzterem liegt ein Kern Wahrheit: Viele junge Leute begeistern sich für das, was Corbyn sagt, und wurden deshalb Parteimitglieder. Sie sind gegen Sparpolitik, gegen Rassismus und Krieg. Sie sind nicht unbedingt mit dem Parteiapparat von Labour verbunden.
Das Corbyn-Phänomen trägt die Züge einer sozialen Bewegung. Die Kundgebungen und Veranstaltungen bilden nicht das normale Parteileben ab. Hunderttausende unterstützen Corbyn wegen seiner Politik und nicht die Labour Party an sich. Aber diese Bewegung stößt auch an die Grenzen der rein auf Wahlen ausgerichteten Strukturen der Partei. Eine echte soziale Bewegung muss offen sein für alle Linken – erinnert sei an die Antikriegsbewegung, die mit wichtigen Personen der Linken verbunden, aber viel breiter als ein Labour-Projekt war.
Die Corbyn-Bewegung und die Grenzen parlamentarischer Strategien
Die drängenden Fragen, denen wir uns nun widmen müssen sind: Was wird die Labour Party tun, um die drohende Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens, des NHS, zu stoppen und Angriffe rückgängig zu machen? Was wird Labour gegen Rassismus tun oder gegen den Abbau öffentlicher Dienstleistungen auch in von Labour regierten Bezirken? Was wird mit den Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern werden, die für den Austritt gestimmt haben und sehr widersprüchliche Vorstellungen haben?
Die Rechten wie die Linken versuchen, diese Leute für sich zu gewinnen. Corbyn ist zurzeit ein wichtiges Hindernis für die Rechte, weil er eine Alternative darstellt. Doch die Frage ist, welche Organisationsform die Radikalisierung in der Labour Partei annimmt. Wenn die Corbyn-Bewegung den Rahmen einer reformistischen Partei mit ihrer Fixierung auf Wahlen und das Parlament nicht sprengt, dann wird daraus nicht die Bewegung entstehen, die wir brauchen. Sozialistinnen und Sozialisten müssen dazu beitragen, dass die Corbyn-Bewegung sich weiter radikalisiert. Ein Problem für die Linke sind die seit vielen Jahren historisch niedrigen Streikzahlen und der sehr niedrige Organisationsgrad in den Betrieben. Im Jahr 2015 war der »Verlust« durch Streiktage der zweitniedrigste seit dem Jahr 1891. Dabei sind die Reallöhne seit dem Jahr 2007 um etwa 10 Prozent gesunken.
Ein Grund für die wenigen Streiks liegt in der Rolle der Gewerkschaftsführungen, die viele Gelegenheiten verstreichen ließen, Arbeitskämpfe auszuweiten und zu radikalisieren. Das heißt nicht, dass Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter nur darauf warten, auf Streikposten zu stehen – es gibt ein mangelndes Selbstbewusstsein in der Arbeiterklasse. Aber die Gewerkschaftsführer haben Ansätze von Widerstand nicht gefördert, sondern gebremst. Auch die Labour-Führung, mit der die meisten Gewerkschaftsführer verbunden sind, übte Druck aus, Streiks zu vermeiden. Deshalb ist es erfrischend, dass Corbyn die meisten neu entstehenden Arbeitskämpfe unterstützt.
Betriebliche Kämpfe und Antirassismus
Wenn sich aber die betrieblichen Kämpfe nicht ausweiten, dann sind der politischen Radikalisierung und der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung Grenzen gesetzt. Deshalb muss die Linke aktiv Widerstand von unten mit aufbauen. Dabei dürfen wir uns aber nicht auf die unmittelbaren Forderungen und die Solidarität mit anderen Beschäftigten beschränken, sondern müssen auch politische Fragen wie Rassismus oder die Auseinandersetzung in der Labour Party ansprechen.
Die Gefahr besteht, dass die Hoffnung auf Corbyn zu einem Ersatz für den gemeinsamen Kampf wird. Einige Gewerkschaftsführer werden versuchen, allein auf die Parlamentswahlen spätestens im Jahr 2020 zu orientieren. Bis dahin aber werden die Tories noch mehr Sozialabbau betrieben und den Rassismus geschürt haben.
Corbyn und seine Anhänger sagen: »Sparzwang ist eine politische Entscheidung.« Das ist in gewisser Hinsicht wahr. Es ist aber auch wahr, dass der krisengeschüttelte Kapitalismus nicht einfach zusehen wird, wenn das Geld den Reichen und Konzernen genommen wird. Das haben wir in der Geschichte oft genug erlebt.
Die fortgesetzten politischen und wirtschaftlichen Krisen können zur Entstehung neuer Bewegungen und Kämpfe von unten führen. Lange Zeit sah es so aus, als wenn der Klassenkampf nur von einer Seite ausging. Wenn nun die Hunderttausenden, die in die Labour Party eingetreten sind, auch an Bewegungen und Arbeitskämpfen teilnehmen, könnte das eine wirkliche Wende in Großbritannien einleiten.
Übersetzung aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: wheelzwheeler
Schlagwörter: Brexit, England, EU, Großbritannien, Labour, NHS, SWP