Der Sozialist Jeremy Corbyn ist neuer Vorsitzender der britischen Labour-Partei. Wie das möglich wurde und was es für den Klassenkampf bedeutet, erklärt Pete Green von Left Unity im marx21-Gespräch
Jeremy Corbyn wurde am 12. September zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt. Was bedeutet das für Großbritannien?
Diese Wahl führt zu einer Veränderung der politischen Diskussion von historischer Bedeutung.
Warum das?
Corbyn ist seit Jahrzehnten ein Sozialist und Basisaktivist. Er ist der am weitesten links stehende Vorsitzende seit Gründung der Partei 1900.
Wie konnte Corbyn Vorsitzender werden?
Labour hatte letztes Jahr beschlossen, den Vorsitzenden künftig von den Parteimitgliedern wählen zu lassen. Das sollte den Einfluss der Gewerkschaftsmitglieder verringern, die in Großbritannien traditionell über den Labour-Vorsitzenden mit entscheiden und deren Abstimmung bisher zu einem Drittel ins Ergebnis einfloss. Ein weiteres Drittel entstand durch die Abstimmung der Labour-Abgeordneten und nur ein Drittel durch die Abstimmung der Parteimitglieder.
Doch dann hat Corbyn kandidiert …
Ja. Er ist seit 1983 Abgeordneter und extremer Außenseiter in der Labour-Fraktion. Corbyn hat seitdem über fünfhundertmal gegen die Mehrheit der Fraktion gestimmt, vor allem gegen die Labour-Regierung von Tony Blair. Als Corbyn im Juni seine Kandidatur als Vorsitzender bekannt gab, habe ich auf einer Veranstaltung gesagt, dass er nicht die geringste Chance habe.
Warum lagst du so falsch?
(lacht) Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass meines Wissens alle anderen Linken und Rechten auch falsch lagen. Um zu kandidieren waren 35 Unterstützungsunterschriften von Abgeordneten notwendig, aber Corbyn hatte in der Fraktion nur etwa 20 Unterstützerinnen und Unterstützer.
Aber weil ihm niemand eine Chance gab, haben weitere Abgeordnete für ihn unterschrieben, die eigentlich einen anderen Kandidaten unterstützten, aber eine breitere Diskussion ermöglichen wollten.
Wie war dieser überraschende Wahlausgang möglich?
Wir haben alle weit unterschätzt, wie viele Menschen bereit sind, für die Hoffnung auf linke Politik aktiv zu werden. Als Corbyn seine Kandidatur bekannt gab, hatte Labour etwa 200.000 Mitglieder. Seitdem sind 100.000 weitere beigetreten. Von ihnen haben 80 Prozent für Corbyn gestimmt, ebenso wie die Hälfte der Stammmitglieder.
Das ist unglaublich.
Ja. Und 120.000 weitere haben sich als »Unterstützer« von Labour registrieren lassen. Dadurch konnten sie für einen einmaligen Beitrag von rund vier Euro an der Wahl des Vorsitzenden teilnehmen. Und 190.000 weitere haben sich bei ihrer Gewerkschaft für die Teilnahme an der Wahl registrieren lassen.
Insgesamt sind also in drei Monaten etwa 410.000 Menschen aktiv geworden. Die allermeisten von ihnen, um den offen als Sozialist auftretenden Corbyn zum Vorsitzenden von Labour zu wählen.
Wie hat die bisherige Labour-Führung darauf reagiert?
Panisch, hysterisch, verzweifelt. Ein Abgeordneter schlug vor, die Wahl abzubrechen. Ungefähr 4000 Registrierungen wurden abgelehnt, mit der Begründung, die Leute würden in Wahrheit andere Parteien unterstützen. Unter anderem hat Labour dem Regisseur Ken Loach, dem Gewerkschaftsvorsitzenden Mark Serwotka und dem Fernsehkabarettisten Mark Steel die Registrierung verweigert.
Warum interessieren sich so viele dafür, wer Vorsitzender von Labour ist?
Das lässt sich am besten verstehen, wenn man die Politik der Regierung der Conservative Party, der Torries, betrachtet.
Der Schwesterpartei der CDU?
Ja. Aber die von ihr geführte britische Regierung unterscheidet sich von der deutschen. Premierminister David Cameron und seine Minister arbeiten an der umfassendsten Zerstörung des Sozialstaats aller Zeiten.
Schlimmer als unter Margaret Thatcher in den 1980er Jahren?
In gewisser Hinsicht schon. Thatchers Mission bestand darin, die große Macht der britischen Gewerkschaften zu brechen und das ist ihr gelungen. Natürlich gab es auch Kürzungen, aber der Sozialstaat wurde nicht grundsätzlich angegriffen.
Und Cameron …
… will den britischen Sozialstaat zerschlagen und die Gesellschaft etwa nach dem Vorbild der USA umbauen. Ein Beispiel: Cameron hat 2012 eine sogenannte Sozialleistungsbegrenzung eingeführt. Seitdem kann jede Familie pro Jahr umgerechnet maximal 36.000 Euro an Sozialleistungen bekommen.
Was bedeutet das?
Dass du keinen Cent Hilfe bekommst, wenn die Grenze erreicht ist, egal was passiert. Die Familie bekommt ein drittes Kind? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht. Deine Wohnung ist abgebrannt und du hast kein Geld für Möbel? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht. Du wohnst in London, wo die Miete 60 Prozent höher ist als im Durchschnitt Großbritanniens? Pech gehabt, du hast die Grenze erreicht.
Was sind die Folgen?
Zum Beispiel, dass arme Familien massenhaft gezwungen sind, London zu verlassen und in Vororte zu ziehen. Wir nennen es »soziale Säuberung« in Anlehnung an »ethnische Säuberungen« in Kriegen.
Cameron führt einen sehr offenen Klassenkampf gegen Menschen mit wenig Einkommen. Seine Regierung ist fanatisch marktliberal und will staatliche Unterstützung für sozial Schwache so weit wie möglich senken.
Was sagt Labour dazu?
Obwohl Labour seit 2010 in der Opposition ist, haben sie für die »Sozialleistungsbegrenzung« und viele andere Kürzungen gestimmt – außer Corbyn und wenigen anderen natürlich.
Trotzdem hoffen jetzt so viele auf Labour?
Ja, weil es wegen des Mehrheitswahlrechts kaum möglich ist, eine neue parlamentarische Partei zu gründen. In Großbritannien kann es kaum eine grüne oder linke Partei geben wie in Deutschland. Selbst die rechte UK Independence Party hat nur einen Abgeordneten, obwohl sie bei der letzten Wahl 13 Prozent der Stimmen bekommen hat.
Das sagt nichts über Labour aus.
Nein. Aber deswegen blieb die einzige Hoffnung vieler Linker, dass Labour ihr soziales Gewissen wiederfindet. Dafür gab es die letzten Jahre keine Anzeichen, aber die Kandidatur von Corbyn hat diese Hoffnung neu erweckt.
Jetzt sind mehr Linke in Labour organisiert als in irgendeiner anderen Partei. Ob uns das gefällt oder nicht.
Kann Corbyn als Labour-Vorsitzender linke Politik machen?
Er allein sicher nicht. Viele Rechte in- und außerhalb der Partei werden ihn bekämpfen. Aber wenn Corbyn die Mitgliedschaft wirklich einbindet und auch Linke außerhalb von Labour mobilisiert, können wir alle gemeinsam einiges verändern.
Kann eine sozialdemokratische Partei ihre Basis aktivieren?
Wenn sie will schon. Und Corbyn muss es tun, sonst ist er verloren. Die Demokratisierung der Partei, das Entwickeln einer echten Diskussion über politische Ziele und Aktionen, waren eines der wichtigsten Versprechen seiner Wahlkampagne. Auch deshalb sind so viele Leute eingetreten.
Corbyn kann die Parteibasis kaum ignorieren. Sonst ist er bald wieder weg vom Fenster.
An welchen Fronten wird Corbyn jetzt kämpfen?
Er hat seine Prioritäten in der Wahlkampagne festgelegt. Eine wichtige Aufgabe ist der Kampf gegen die Kürzungspolitik. Ich denke, Corbyn wird weiterhin streikende Beschäftigte besuchen, für ihre Ziele argumentieren und vor allem bei Konflikten im öffentlichen Dienst Labour zur Unterstützung mobilisieren.
Was halten die Gewerkschaften von Corbyn?
Mehrere wichtige haben seine Wahl unterstützt, darunter Unite, die größte britische Gewerkschaft mit 1,4 Millionen Mitgliedern. Corbyn ist einfach ihre beste Chance, die starke Beschränkung des Streikrechts zu verhindern.
Was plant die Regierung hier?
Der Entwurf des neuen »Gewerkschaftsgesetzes« der Regierung sieht unter anderem vor, dass bei der Urabstimmung über einen Streik 40 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder für den Streik stimmen müssen, damit er begonnen werden kann. Das würde viele Streiks unmöglich machen, weil die Wahlbeteiligung bei Urabstimmungen oft gering ist. Corbyn hat angekündigt, dagegen aktiv zu werden.
Welche Themen hat er noch?
Corbyn hat in der Wahlkampagne gesagt, dass für ihn der Kampf gegen die Modernisierung der britischen Atombomben große Bedeutung hat.
Klingt nicht nach einem großen Thema …
… ist es aber in Großbritannien sehr wohl. Die britische Armee besitzt vier U-Boote mit jeweils 16 Interkontinentalraketen, von denen jede 12 atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von jeweils bis zu 100.000 Tonnen TNT verschießen kann. Das sind die mörderischsten Waffen der Welt, und die Regierung plant nicht etwa die Abrüstung, sondern die Modernisierung ihrer Atombomben für umgerechnet 34 Milliarden Euro nach heutiger Schätzung.
Aber würden viele Briten etwas dagegen tun?
Ja. Die britische Armee ist bei allen Kriegen und Bombardements immer der wichtigste Verbündete der USA. In Afghanistan und Irak, später in Libyen und jetzt in Syrien stellt Großbritannien immer die zweitgrößte Zahl an Soldaten und Waffen.
Und der Widerstand dagegen …
… war riesig. In London hatten im Jahr 2003 eine Million Menschen gegen den Krieg in Irak demonstriert. Der Widerspruch zwischen der Politik der Regierung und der Einstellung eines großen Teils der Bevölkerung ist enorm. Das ist eine Tragödie, aber auch eine Chance für eine neue linke Bewegung, die von Corbyn an der Spitze von Labour entscheidende Unterstützung bekommen kann.
Schließlich war er bis jetzt Vorsitzender der großen »Stop the war«-Kampagne und unterstützt beispielsweise ausdrücklich den Kampf der Palästinenser gegen die israelische Armee und Regierung.
Aber auch der Widerstand gegen ein Großbritannien ohne Atomwaffen …
… wird riesig sein. Wegen der Atombomben hat Cameron gleich nach Corbyns Wahl geschrieben, Labour sei jetzt eine »Bedrohung unserer nationalen Sicherheit«. Auch die große Mehrheit der Labour-Abgeordneten ist für die Modernisierung der Waffen.
Aber andererseits hat zum Beispiel die Scottish National Party auch deshalb 56 von 59 schottischen Wahlkreisen gewonnen, weil sie für die Abrüstung der Atombomben ist, die ja in Schottland stationiert sind. Das wird ein Kampf, den wir durchaus gewinnen können.
Was ist seit Corbyns Wahl passiert?
Die ersten Signale sind hoffnungsvoll. Seine erste »Amtshandlung« als Labour-Vorsitzender bestand darin, unter lautem Jubel auf einer Demonstration mit 100.000 Teilnehmenden für die Aufnahme von Flüchtlingen zu sprechen. Vor allem aber sind seit seiner Wahl noch einmal Zehntausende Labour beigetreten. Es ist eine Massenbewegung, um Großbritannien zu verändern.
Muss Corbyn sich nicht anpassen?
Es ist klar, dass er eine linke Regierung nur mit großen Schwierigkeiten führen könnte. Aber das ist auch nicht sein einziges Ziel. Labour ist in der Opposition und die nächsten Wahlen sind voraussichtlich 2020.
Corbyn hat seine Standpunkte als Abgeordneter über 30 Jahre nicht aufgegeben. Warum sollte er es jetzt als Parteivorsitzender mit 66 Jahren tun? Zumindest gibt es keinen zwingenden Grund dafür.
Aber Corbyn hat Leute vom rechten Parteiflügel in sein »Schattenkabinett« genommen
Richtig. Das hat er getan, um nicht einen offenen Krieg in der Partei zu beginnen, der jetzt niemandem nützen würde. Diese Leute werden ihn unter Druck setzen. Sie wollen insbesondere die Atombomben behalten.
Bedeutend ist aber auch die Nominierung von John McDonnell als Schattenschatzkanzler (entspricht dem deutschen Finanz- und Wirtschaftsminister; Anm. d. Red.), traditionell der zweitwichtigste Posten in Labour.
Warum?
McDonnell ist ein langjähriger Aktivist, der den Kapitalismus überwinden will. Kürzlich hat er im Fernsehen gesagt: »Ich glaube nicht, dass Veränderung vom Parlament kommt, oder von oben. Veränderung kommt von unten. Eine der Rollen, die ich spielen kann, ist es, die Debatte über die potenziellen Alternativen anzuregen. Wir haben immer gesagt: ›Eine andere Welt ist möglich‹, und ich glaube daran.«
Sollen alle Linke in Großbritannien jetzt Labour beitreten?
Viele haben es schon getan. Labour ist jetzt gleichzeitig die Partei der Blair-Anhänger und die größte linke Organisation des Landes. Ich denke, Labour ist der Ort, wo in der nächsten Zeit am meisten linke Aktivitäten organisiert werden. Und davon sollten sich auch revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten nicht abschneiden.
Wie kann das funktionieren?
Ich werde im November auf der Konferenz von Left Unity vorschlagen, dass wir uns als unabhängige Partei auflösen und als sozialistisches Netzwerk in- und außerhalb von Labour neugründen. Ich denke, nur so können wir wieder Kontakt zu den Leuten kriegen, die uns verlassen haben, um Labour beizutreten. Das wird kontrovers sein, aber wir müssen diese Diskussion jetzt führen.
Pete, wir danken dir für das Gespräch.
Pete Green aus London ist einer der vier Sprecher von Left Unity, einer britischen Linkspartei mit etwa 2000 Mitgliedern.
(Die Fragen stellte Hans Krause)
Schlagwörter: David Cameron, England, Großbritannien, Jeremy Corbyn, Labour, London, Sozialabbau, Syrien