Der britische Staat, seine herrschende Klasse, seine Wirtschaft und sein politisches System wurden durch das Votum für einen Austritt aus der EU (Brexit) ins Chaos gestürzt. Der in London lebende Sozialist Joseph Choonara meint, die Linke sollte das nutzen, statt die Befürworter des Brexit nur als ignorante Rassistinnen und Rassisten abzutun.
Etwa 52 Prozent der Abstimmenden stimmten für den Austritt, bei einer hohen Wahlbeteiligung von 72 Prozent. Damit trotzten sie Dreiviertel aller Abgeordneten, der Führung der drei größten Parlamentsparteien – der herrschenden Konservativen, der Labour Partei und der Schottischen Nationalpartei (SNP) –, dem Großteil der britischen Unternehmerschaft und fast jeder kapitalistischen Institution von Rang, angefangen mit der Bank of England bis hin zum Weltwährungsfonds.
Der Brexit und die Folgen
David Cameron, jener Premierminister, der selbstbewusst das Referendum in die Wege geleitet hatte, um so den innerparteilichen Streit über Europa zu befrieden, hat seinen Rücktritt für diesen Herbst angekündigt. Er hinterlässt eine geschwächte und gespaltene Partei. Das Pfund sackte auf seinen tiefsten Wert seit drei Jahrzehnten und Märkte weltweit gerieten in Turbulenzen. Die EU, die bislang als dysfunktionaler Juniorpartner des US-Imperialismus und seiner Anstrengungen, das Weltsystem zu kontrollieren, funktionierte, hat nun ihr zweitgrößtes Mitglied verloren. Das ist ein Ereignis, das in mancherlei Hinsicht schwerer wiegt als der seit einigen Jahren drohende Austritt Griechenlands.
Brexit: Die größte Niederlage in der Geschichte der EU
Nun steht die Forderung nach einem zweiten Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands auf dem Tisch, das sich mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat. Sollte dieses Referendum vonstatten gehen, würde das sehr wahrscheinlich das Auseinanderfallen des britischen Staats bedeuten. Eine neoliberale Organisation, die stets im Interesse des europäischen Kapitals agiert, das griechische Volk unter die Knute der Austerität peitscht, François Hollandes Anschlag auf die französischen Arbeiter nach Kräften unterstützt und die breite Opposition gegen das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA mit Füßen tritt, hat nun die größte Niederlage ihrer Geschichte erlebt.
Brexit, Nationalismus und Rassismus
Die Stimmung unter vielen auf der britischen Linken ist jedoch bedrückt. Sie sehen im Referendum den Ausdruck von Nationalismus und Rassismus gegen Migranten aus der EU. Es wäre aber eine grobe Vereinfachung, das Referendum auf eine Abstimmung über Rassismus zu reduzieren. Die Abstimmung war in aller erster Linie eine Rebellion seitens der Arbeiterklasse, geboren aus dem Gefühl, dass ihr Leben durch die herrschende Elite zugrunde gerichtet wird. Zwei Drittel all jener, die der Kategorie Fach-, gelernte und ungelernte Arbeiter zugerechnet werden, stimmten für den Austritt, verglichen mit 43 Prozent der Menschen im »mittleren« oder »höheren« Management, der Fachleiter und der Führungskräfte. Ein Drittel aller Asiaten und ein Viertel aller Schwarzen, die sich am Referendum beteiligten, stimmten für den Austritt. Ethnisch gemischte Städte im Norden Englands stimmten für den Austritt, darunter Sheffield, Birmingham und Bradford. Warum sollten diese Menschen, unter ihnen viele traditionell Labour-Anhänger, ihre Stimme für den Erhalt einer undemokratischen und neoliberalen Institution geben, die sie wachsender Ungleichheit und Austerität schutzlos ausgeliefert hat?
Rassismus nicht kleinreden
Damit soll der Rassismus, der die Kampagne um das Referendum begleitete, keinesfalls kleingeredet werden. Das betraf ganz offenkundig die Seite der Austrittsbefürworter, auf der die Argumente der ausländerfeindlichen Unabhängigkeitspartei (UKIP) sowie konservativer Politikerinnen und Politikern eine große Rolle spielten. Das kommt aber im Kielwasser einer unablässigen Trommelfeuer der Xenophobie und der rassistischen Zuschreibung seitens Presse und Politikern, um die Wut gegen ihre Austeritätspolitik von sich abzulenken oder die Auslandskriege Großbritanniens zu rechtfertigen. Im Lager der Befürworter eines Verbleibs in der EU waren es die gleichen Töne.
Es war doch Cameron, der die islamophobe Kampagne gegen den erfolgreichen Labour-Kandidaten für den Posten des Londoner Oberbürgermeisters, Sadiq Khan, zu Beginn des Jahres lostrat. Und es war seine Regierung, die die drakonischsten Einwanderungsgesetze seit Generationen durchs Parlament peitschte. In diesem Kontext überrascht es nicht, wenn Rassismus als Symbol für eine breitere Unzufriedenheit wegen der Angriffe auf die breite Masse der Arbeiterklasse zum Vorschein kommen kann. Während wir unter keinen Umständen dem Argument, dass Migration das Problem sei, nachgeben dürfen, so liegt die Lösung auch nicht darin, die Befürworter eines Austritts allesamt als ignorante Rassistinnen und Rassisten abzutun.
Der Brexit und die Linke
Wenn wir eine radikale Linke aufbauen wollen, die den Namen verdient, müssen wir Kämpfe gegen den Rassismus mit den Kämpfen gegen die allgemeinen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verbinden. Wir müssen aufzeigen, dass es die herrschende Elite und die Bosse sind, die Schuld an der Misere sind, und nicht die Einwanderer. Das wird uns aber nicht gelingen, wenn wir aus Angst vor der rassistischen Rechten uns auf die Seite der Mainstream-Politiker und Institutionen des neoliberalen Kapitalismus wie die EU schlagen, die in der Praxis keinen Schutz vor wachsender Ungerechtigkeit oder Rassismus bieten.
Der Anti-Establishment-Stimmung ein linkes Gesichts geben
Der Niedergang der Mainstream-Politik ist kein Sondermerkmal Großbritanniens. In Griechenland befindet sich das traditionelle Parteiensystem schon seit langem in Auflösung. In Irland haben die drei größten Parteien seit 2007 25 Prozent Stimmenanteil verloren. Wir sollten unsere Kritik an Institutionen wie die EU nicht solchen Figuren wie der UKIP, der französischen Front National oder der AfD überlassen. Der Brexit sollte Anlass für eine europaweite Erneuerung des Arguments für eine Auflösung der EU sein, als Teil unserer Anstrengung, der Anti-Establishment-Stimmung ein linkes statt eines rechten Gesichts zu geben.
Die Rolle Jeremy Corbyns
Hier in Großbritannien stehen wir vor der Herausforderung, die Chancen, die uns diese Krise bietet, zu ergreifen. Die Rolle Jeremy Corbyns, dem linken Anführer der Labour Partei, wird dabei entscheidend sein. Bedauerlicherweise ist er während der Referendumkampagne von seiner originären Haltung der Befürwortung eines Austritts abgerückt, was die Reichweite und die Durchschlagskraft der Kampagne für einen linken Austritt, Lexit, beschränkte. Corbyn, der an der Parteibasis große Popularität genießt aber in der Parlamentsfraktion außerordentlich isoliert ist, schloss einen Deal mit seinen Parlamentariern, sich für einen Verbleib auszusprechen. Aber im Gegensatz zu manchen in seiner Partei lehnte er es ab, die EU in ihrer jetzigen Form zu befürworten, und verweigerte sich auch gemeinsamen Auftritten mit Cameron in dieser Frage.
Die Idiotie der Labour-Rechten
Jetzt wird er von seinen eigenen Parlamentsmitgliedern wegen mangelndem Enthusiasmus verurteilt, und zwei von ihnen streben sogar ein Misstrauensvotum gegen ihn an. Dagegen wurde eine Petition zur Unterstützung Corbyns gestartet, die bisher von 150.000 Anhängern unterschrieben wurde. Die Idiotie der Labour-Rechten übertrifft alle Maßen. Camerons Nachfolger als konservativer Premierminister wird sich keiner Wahl gestellt haben und daher kein Mandat besitzen, weitere Kürzungen durchzuboxen.
Eine vereinte Linke kann gewinnen
Das ist der richtige Augenblick für Sozialistinnen und Sozialisten, einschließlich vieler auf der Linken, die aus progressiven Motiven für einen Verbleib in der EU stimmten, sich um die Forderung nach Neuwahlen zusammenzuschließen und gemeinsam den Kampf gegen Austerität und Rassismus mit erneuten Kräften aufzunehmen. Der Prozess der Entflechtung Großbritanniens von der EU wird langwierig und komplex sein und wird von einer kapitalistischen Klasse und Politikern beaufsichtigt werden, die durch ihre Niederlage im Referendum geschwächt sind. Es wird sich der Linken Gelegenheiten bieten, die Ereignisse zu beeinflussen, wenn wir zusammenkommen und sie wahrnehmen.
Zum Text: Aus dem Englischen von David Paenson
Foto: dens_lens
Schlagwörter: Brexit, David Cameron, EU, EU-Referendum, Jeremy Corbyn, Labour, Linke, Nationalismus, Rassismus, Referendum, UKIP