An den östlichen Rändern Europas entstehen neue und bereits jetzt schon tödliche Grenzen. Doch was steckt hinter der Eskalation an den Grenzen zwischen Belarus, Polen, Litauen und Lettland? Wir werfen einen Blick auf einen der tödlichsten Grenzübergänge der Welt
Die Spannungen zwischen Europa und Belarus bedeuten dem aus Irakisch-Kurdistan geflüchtetem Karwan wenig. Er versteckt sich mit seinem kranken Kind im Arm in einem kalten und regennassen Wald an der Ostgrenze Polens. Das zweijährige Kind in seinen Armen hat eine zerebrale Lähmung und Epilepsie. Nach drei Tagen mit wenig Nahrung und Wasser ist sein Kind in einem schlechten Zustand.
Das Leiden der Geflüchteten
Während polnische Grenzsoldat:innen am nahe gelegenen Zaun patrouillieren, erklärte der irakische Kurde gegenüber der New York Times, dass er eine schreckliche Entscheidung treffen muss. Entweder er versucht, medizinische Hilfe zu bekommen, indem er in eine Stadt in Belarus zurückkehrt, und riskiert, dass der Traum seiner Familie von der Freiheit von den Kriegsparteien im Irak endet. Oder er geht weiter und riskiert die Gesundheit seiner Tochter. Karwan und seine Familie gehören zu den Tausenden von Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut für die Flucht eingesetzt haben und an den Grenzen zwischen Belarus, Lettland, Litauen und Polen festsitzen.
Sie haben weder Unterkunft noch Nahrung – und nun hält der eisige Winter Einzug. Offiziellen Angaben zufolge sind mindestens acht Menschen, die es bis nach Polen geschafft haben, an den Folgen der Kälte gestorben. Hilfsorganisationen sagen, dass die tatsächliche Zahl wahrscheinlich viel höher ist. Die Menschen sind Spielfiguren in einem Machtspiel. Die Europäische Union, die Geflüchteten gegenüber zunehmend feindselig eingestellt ist, und das diktatorische Regime in Belarus sowie dessen russische Unterstützer in Moskau liefern sich einen Kampf auf ihrem Rücken.
Wie die Krise begann
Die Krise begann Ende August, als sich Gruppen von Migrant:innen, vor allem aus dem Nahen Osten, an den Grenzen zu sammeln begannen, die angeblich von belarussischen Truppen dorthin gelenkt wurden. Diese Bewegung ist inzwischen auf mindestens 4.000 Menschen angewachsen. Die europäischen Regierungen beschuldigen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, den Zustrom von Migrant:innen an der Grenze im Hintergrund zu steuern, und behaupten, dies sei ein Racheakt.
Die EU verurteilte Lukaschenkos Wiederwahl zum Präsidenten im Jahr 2020 als Betrug. Sie gab der Protestbewegung, die sich gegen ihn erhob, Lippenbekenntnisse und verhängte Sanktionen gegen führende Persönlichkeiten seines Regimes. Als Reaktion darauf hat Belarus nach Angaben führender EU-Politiker:innen eine Reihe neuer Flüge aus der Türkei, Nordafrika und dem Nahen Osten in seine Hauptstadt Minsk zugelassen. Den Geflüchteten werden Pakete mit Flügen und Visa verkauft, die sie dann in die Grenzgebiete bringen. Die Flugzeuge transportieren Menschen, die verzweifelt vor Krieg, Armut und den Folgen des Klimawandels fliehen wollen. Ihr Ziel ist es, in einem EU-Land Zuflucht zu suchen und ein neues Leben zu beginnen.
Für diejenigen, die die Ersparnisse ihrer Familie investieren, scheint diese Überfahrt viel sicherer zu sein als der Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Gewässer werden durch winterliche Strömungen und die Boote der europäischen Grenzarmee Frontex-noch tödlicher.
Die rassistische Reaktion der EU
Wenn Lukaschenko versucht hat, mit Hilfe von Geflüchteten eine Krise für die EU herbeizuführen, hat sich sein Kalkül einer rassistischen europäischen Reaktion als richtig erwiesen. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, stellte sich letzte Woche an die Seite des rechtsradikalen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. »Polen befindet sich in einer ernsten Krise, die wir ernst nehmen«, sagte Michel. »Es handelt sich um einen hybriden Angriff, einen brutalen Angriff, einen gewalttätigen Angriff und einen beschämenden Angriff.« Die Sprache, die einst für Invasionsarmeen reserviert war, wird nun leicht auf arme und verzweifelte Menschen angewandt.
Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszak erklärte, sein Ministerium sei »bereit, die polnische Grenze zu verteidigen«. Die Zahl seiner Truppen an der Grenze beläuft sich jetzt auf 12.000. Sie sind zu den Tausenden von Grenzpolizist:innen hinzugekommen, die bereits vor Ort sind. Und die Regierung hat angekündigt, dass ihre 29.000 Mann starke Territoriale Verteidigungsarmee, die sich stark aus den Reihen der radikalen Rechten rekrutiert, in Bereitschaft ist. Mit den Truppen ist auch ein hartes Durchgreifen der Justiz einhergegangen. Die Regierungen in Polen und Litauen haben den Ausnahmezustand verhängt. Das bedeutet, dass Hilfsorganisationen und Journalist:innen aus den Grenzgebieten verbannt sind. Auch viele Menschenrechtsgesetze sind außer Kraft gesetzt.
Sein Körper ist nun mit tiefen Blutergüssen übersät
In Litauen dürfen Migrant:innen mit niemandem schriftlich oder telefonisch kommunizieren. Polen hat das Asylrecht so gut wie abgeschafft und befiehlt seinen Truppen, jeden Menschen, der versucht, die Grenze zu überqueren, mit Gewalt zurückzudrängen. Obwohl dies ein klarer Verstoß gegen das EU-Recht ist, bietet Europa sowohl Geld als auch militärische Unterstützung an, um diese Politik auszuweiten. Hajar, ein Kurde aus dem Irak, hat die litauischen »Kommandos« bereits an der Grenze erlebt. Er sagte, dass er, nachdem er von ihnen gefangen genommen wurde, mit Stöcken und Plastikkabeln geschlagen und mit Elektroschockern maltretiert wurde. Sein Körper ist nun mit tiefen Blutergüssen übersät. »Sie sagten: ›Ihr habt nicht das Recht, in unser Land zu kommen‹«, sagte er der New York Times. »Sie sagten: ›Ihr macht unser Land schmutzig‹.«
Die Heuchelei der EU
Die Staats- und Regierungschefs der EU prangerten Lukaschenko an, weil er im vergangenen Jahr Menschen verprügeln ließ. Jetzt tun ihre Streitkräfte dasselbe. Vor nicht allzu langer Zeit haben Politiker:innen in Brüssel den ehemaligen Präsidenten Donald Trump angeprangert, weil er eine gegen Migrant:innen gerichtete Mauer zwischen den USA und Mexiko bauen wollte. Jetzt drängen sie Polen, dasselbe zu tun.
Das polnische Parlament hat kürzlich beschlossen, mehr als 350 Millionen Euro für eine neue Mauer zwischen Polen und Belarus auszugeben. In dieser Woche hat der deutsche Innenminister Horst Seehofer seine Unterstützung für die neue Mauer bekräftigt. Er sagte, die polnische Regierung habe »bisher richtig reagiert«. Seehofer fügte hinzu: »Ich sage auch, dass wir eine strukturelle Sicherheit an den Grenzen brauchen.« Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Lukaschenko die Geflüchteten für seine eigenen Zwecke manipuliert. Wenn dem Regime die Notlage der Migrant:innen wirklich am Herzen läge, könnte Lukaschenko ihnen Zuflucht gewähren und ihnen erlauben, sich in Belarus niederzulassen. Stattdessen sprechen die betroffenen Menschen davon, dass sie grob behandelt und schnell aus dem Land getrieben werden.
Die Grenzen der »Festung Europa«
Aber keine Macht kommt dabei schlechter weg als die EU. Mit den Politiker:innen der radikalen Rechten im Nacken haben sich Europas Staats- und Regierungschefs dazu entschlossen, ihre Anti-Geflüchteten-Agenda vollständig zu übernehmen. Die Grenzen der »Festung Europa« sollen mit immer mehr bewaffneten und brutalen Truppen befestigt werden. Es wird physische Mauern, Elektrozäune und Stacheldraht geben. Die Gesetze, die die europäischen Institutionen als Markenzeichen der Zivilisation bezeichneten, können nun mit Leichtigkeit gebogen oder gebrochen werden.
Die drohende Gefahr, dass Geflüchtete entweder in den Wäldern des Grenzgebiets erfrieren oder von Truppen erschossen werden, ist ein vernichtendes Urteil über eine angeblich so »fortschrittliche« europäische Gesellschaft. Das Blut dieser Gräueltat klebt ebenso an den Händen der EU-Führer:innen wie an denen der Regime in Belarus und Russland.
Bild: Marco Bianchetti / Unsplash
Zuerst auf Englisch erschienen bei »Socialist Worker«. Übersetzung in Deutsche: Rene Paulokat.
Schlagwörter: EU, Grenzen, Migration