In Oslo haben Vertreter der EU den Friedensnobelpreis entgegengenommen. Viele Menschen wünschen sich ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Doch die EU ist auf das Gegenteil programmiert. Von Stefanie Graf, Martin Haller und Hans Krause, Unterstützer des Netzwerks marx21 und Mitglieder von die LINKE.SDS
Dass der EU dieses Jahr der Friedensnobelpreis verliehen wurde, hat viele überrascht. Aber noch überraschender ist die Begründung des Komitees: Darin heißt es, die wichtigste Errungenschaft der EU sei, »der erfolgreiche Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte«. Weiter steht da, die EU habe für Frieden zwischen Deutschland und Frankreich sowie die Demokratisierung Osteuropas gesorgt.
Manchen erscheinen diese Argumente überzeugend. Doch gleichzeitig werden Millionen Menschen in Griechenland, Spanien und Italien derzeit im Namen von EU und Euro gezwungen, in Arbeitslosigkeit und Armut zu leben.
Die folgenden Thesen sollen dazu beitragen, die politische Funktion und Geschichte der EU zu erläutern und dabei die Mythen und Märchen, die über sie erzählt werden, zu entlarven.
Dieser Text soll zeigen, dass die EU seit ihrer Gründung dazu diente, die Profite der europäischen Konzerne zu steigern. Weitere Fragen sind, ob die Menschen in Deutschland von der EU profitieren, ob sie ein Bündnis des Friedens ist und ob sie offene Grenzen geschaffen hat. Zum Abschluss geht es um die Ursachen der aktuellen Euro-Krise und die Rolle der EU darin.
Diese wenigen Seiten sind keine vollständige Analyse der Europäischen Union und ihrer Institutionen. Sie sollen aber einen kurzen Überblick über die wichtigsten Argumente geben, warum die Hoffnungen auf eine menschenfreundliche EU unbegründet sind.
Stattdessen wollen wir den Blick auf eine andere Art des Internationalismus richten: Den grenzüberschreitenden Kampf der Arbeiter und Angestellten gegen die Kürzungspolitik der EU-Regierungen. Wir sind überzeugt, dass vor allem auf dieser Grundlage ein Europa im Interesse der Menschen entstehen kann.
Die Geschichte der EU: Ein Projekt für die Wirtschaft, nicht für die Menschen
Die EU und ihre Vorläufer wurden nicht gegründet, um die Völkerverständigung zu fördern. Es ging von Beginn an um das wirtschaftliche und geopolitische Interesse des europäischen Kapitals. Europa war im Zweiten Weltkrieg massiv zerstört worden. Die verbliebenen europäischen Kolonialreiche befanden sich in Auflösung und die USA waren endgültig zur dominanten Weltmacht des westlichen Blocks aufgestiegen. Ihr gegenüber stand der Machtblock um die Sowjetunion. Es entstand ein bipolares System, in dem die westeuropäischen Staaten deutlich an internationalem Einfluss verloren hatten.
Die USA befürworteten den Wiederaufbau Westeuropas und die Integration ihrer Verbündeten aus zwei Gründen: Da war zunächst die Furcht vor einer Übernahme Westeuropas durch die Sowjetunion. Um dem vorzubeugen, sollten die Volkswirtschaften wieder aufgebaut, die BRD wieder bewaffnet und die deutsch-französischen Rivalitäten unter Kontrolle gebracht werden.
Der zweite Grund war die Angst vor dem »inneren Feind«: der europäischen Arbeiterbewegung. Im Jahr 1947 kam es in Frankreich zu großen Streiks. Auch die Sorge vor einer Machtübernahme der Kommunisten in Italien war groß. Die Wiederherstellung wirtschaftlicher Stabilität sollte den Druck der Arbeiterbewegung schwächen.
Auch das europäische Kapital hatte ein Interesse an einem Zusammenschluss. Das wirtschaftliche Gewicht Westeuropas in der Welt war maßgeblich zurückgegangen.
Mitte der 50er Jahre hatten 75 Prozent der weltweit größten Unternehmen ihren Sitz in den USA. Um mit der Stärke des US-amerikanischen Kapitals mitzuhalten und wieder international konkurrenzfähig zu werden, war das europäische Kapital auf eine Bündelung seiner Ressourcen angewiesen. Die Märkte in den einzelnen Nationalstaaten waren zu klein. Ein gemeinsamer europäischer Markt war nötig, damit Unternehmen soweit wachsen konnten, um mit denen der USA konkurrieren zu können.
Im Jahr 1951 wurde mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) die erste überstaatliche Organisation auf europäischer Ebene geschaffen. Sie ermöglichte allen Mitgliedsstaaten zollfreien Zugang zu Kohle und Stahl. Frankreich ging es zunächst vor allem darum, Einfluss auf die deutschen Kohlegebiete und die Schwerindustrie zu erlangen. Die BRD wiederum strebte nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilung eine Eingliederung in das westliche Staatenbündnis an.
Die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 war der nächste Integrationsschritt. Ziel war der Aufbau eines gemeinsamen Marktes, in dem sich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei bewegen konnten. Bereits 1968 wurden die letzten Binnenzölle aufgehoben, jedoch geriet der Prozess auch immer wieder ins Stocken. Erst mit dem Maastrichtvertrag von 1993 wurde der gemeinsame Binnenmarkt vollendet.
Die Aufhebung der Handelsschranken beschleunigte den Integrationsprozess und hatte das Ziel, die Konsolidierung des Kapitals weiter zu stärken. Die Zahl der Unternehmensfusionen in Europa wuchs rasant. Durch den Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem großen Binnenmarkt wurde ein europäischer Wirtschaftsblock in Konkurrenz zu den USA geschaffen. Je stärker die gegenseitige Kapitaldurchdringung in Europa voranschritt, umso stärker wurden die überstaatlichen Institutionen und umso tiefer ging die Integration.
Mit der Gründung der Währungsunion erfolgte ein weiterer entscheidender Schritt. Ziel war es, die den Freihandel störenden Schwankungen der Wechselkurse zu beseitigen und eine starke Gemeinschaftswährung in Konkurrenz zum US-Dollar zu etablieren. Die Einführung des Euro war ein Mittel, um die Einigung Europas unter dem Diktat der wirtschaftlich stärksten Länder – insbesondere Deutschlands – weiter voranzutreiben.
Die Tatsache, dass der Währungsunion keine Wirtschafts- und Finanzunion folgte, wird häufig als Konstruktionsfehler des Euro bezeichnet. Tatsächlich war es aber von Anfang an beabsichtigt, die Nationalstaaten untereinander in Konkurrenz bezüglich ihrer Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu setzen. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und Währungsraum können Unternehmen innerhalb der Eurozone ohne Einschränkungen operieren.
Die einzelnen Staaten stehen sich in einem scharfen Standortwettbewerb gegenüber und sind gezwungen, die Unternehmenssteuern und Lohnkosten zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Sozialstaat abzubauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Unter diesem Druck konnten die Angriffe auf die lohnabhängige Bevölkerung wesentlich leichter durchgesetzt werden.
Neben der Vertiefung der Zusammenarbeit kam es im Prozess der europäischen Integration auch immer wieder zu territorialen Erweiterungen. Mit der Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten, die ehemals unter dem Einfluss der Sowjetunion standen, erschloss sich das europäische Kapital weitere Märkte und setzte einen massiven Umstrukturierungsprozess in den Beitrittsländern um. In den Verhandlungen nutzte die EU ihre überlegene Stellung, um weitreichende Forderungen gegenüber den Beitrittskandidaten durchzusetzen.
Der letzte Schritt der Integration erfolgte mit dem Versuch der Verabschiedung eines EU-Verfassungsvertrags. Dieser wurde zwar 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Jedoch übernahm der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, seine wesentlichen Elemente. Im Kern ging es darum, unter dem Deckmantel der Demokratisierung den Einfluss der großen Mitgliedsstaaten auszubauen und die Mehrheitsbeschaffung zu erleichtern.
Die Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments blieb unwesentlich. Bis heute kann allein die EU-Kommission Gesetze entwerfen und dann im Parlament abstimmen lassen, nicht aber die Fraktionen des Parlaments selbst.
Nach wie vor verfügt die EU nicht über die grundlegenden Merkmale einer parlamentarischen Demokratie. Nach wie vor wird ihre Politik maßgeblich von einzelnen starken Staaten und der nicht demokratisch legitimierten Europäischen Kommission bestimmt.
Trotz der Vertiefung und Erweiterung der EU kam es auch immer wieder zu gegenläufigen Tendenzen. Die Regierungen werden nach wie vor von nationalen Interessen beeinflusst. Innerhalb des europäischen Rahmens verteidigt jeder Nationalstaat seine eigenen Interessen und die der einheimischen Banken und Konzerne. Während der Prozess der europäischen Integration mit dem tatsächlichen Zusammenschluss der verschiedenen nationalen Kapitalfraktionen einhergeht, versucht gleichzeitig jede nationale Kapitalgruppe diesen Prozess nach eigenen Interessen zu gestalten. Die Bedürfnisse der Bevölkerung hingegen werden in der EU nicht berücksichtigt.
Deutschland in der EU: Niedriglohn statt Wohlstand für alle
Die verschärfte wirtschaftliche Konkurrenz der EU-Staaten hat Deutschland gewonnen, allerdings nicht zum Wohle, sondern auf Kosten der Bevölkerung. Seit der freie Warenverkehr in der EU etwa Anfang der 90er Jahre vollständig durchgesetzt wurde, hat die deutsche Wirtschaft ihre Exporte deutlich erhöht. Von 1990 bis heute verdreifachte sie ihren jährlichen Export von 348 auf 1060 Milliarden, also über eine Billion Euro.
Davon gehen trotz der schweren Wirtschaftskrise in Europa 59 Prozent in andere EU-Staaten. Vor der Krise, im Jahr 2007, waren es sogar 65 Prozent.
Die Ausfuhren in einige außereuropäische Länder sind in den letzten Jahren zwar gewachsen, allerdings war das Ausgangsniveau recht niedrig. Nur etwa 6,1 Prozent der deutschen Exporte gehen nach China. Die deutsche Wirtschaft verkauft nach wie vor mehr Waren und Dienstleistungen in die Niederlande als ins »Reich der Mitte«.
Leider ist die Parole des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, wonach die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen seien, immer ein Märchen geblieben. Wenn es der Wirtschaft gut ging, war das niemals eine Garantie dafür, dass es den Menschen auch gut geht. Denn Schmidt hatte Ursache und Wirkung vertauscht.
Die enormen Gewinne aus dem Export sind nicht an die Beschäftigten weitergegeben worden. Vielmehr war die deutsche Wirtschaft nur in der Lage, ihren Export derart extrem auszuweiten, weil die Reallöhne in Deutschland zwischen 2000 und 2010 um 5,4 Prozent gesunken sind. Alle anderen Staaten der EU hatten hingegen einen Reallohnzuwachs.
Doch der Durchschnittswert von 5,4 Prozent gibt die Tragödie der Menschen im deutschen Niedriglohnsektor nur unzureichend wieder. Denn ausgerechnet den 40 Prozent mit dem geringsten Einkommen wurde der Reallohn in den letzten zehn Jahren um 10 bis 20 Prozent gekürzt.
Die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors war schon in den 90er Jahren erklärtes Ziel der deutschen Regierungspolitik als Unterstützung für die Exportwirtschaft. Gemeinsam mit der Einführung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs in der EU ist er das Geheimnis des Erfolges der deutschen Unternehmen.
Für diesen Erfolg zahlen viele von uns einen hohen Preis. Wenn jetzt in den südeuropäischen Staaten flächendeckend extrem niedrige Löhne eingeführt werden, wird das auch die deutschen Unternehmen unter Druck setzen, den Niedriglohnbereich weiter auszudehnen. So führt die wirtschaftliche Konkurrenz auf dem »freien Markt« der EU zu einer endlosen Abwärtsspirale bei Gehältern, sozialen Leistungen und Finanzierung von Schulen und Hochschulen.
Die EU: kein Bündnis für den Frieden
Während die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhält, führten die Mitgliedsstaaten der EU Krieg als Verbündete der USA in Afghanistan, Ägypten, Irak, Somalia, Libyen, Syrien, Kongo und weiteren Ländern.
Auch in Europa hat die EU nicht Frieden erhalten, sondern Krieg geführt: Sowohl an den NATO-Bombardierungen in Bosnien 1995 als auch in Serbien und Kosovo 1999 waren Kriegsflugzeuge aus zahlreichen EU-Staaten beteiligt, darunter auch Deutschland, beteiligt.
Außerhalb Europas kämpften Armeen aus der EU unter anderem in folgenden Kriegen:
1950-1953 Koreakrieg (direkte Beteiligung an Kampfhandlungen: Belgien, Luxemburg, Frankreich, Griechenland, Niederlande, Vereinigtes Königreich; Sanitätskorps von: Dänemark, Italien, Norwegen, Schweden); 1980-1988 Erster Golfkrieg (Iran-Irak; Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien belieferten den Irak mit Waffen, Großbritannien beide Seiten); seit 2001 Krieg gegen Afghanistan (Großbritannien, Deutschland und alle anderen Länder der EU). Dies ist nur eine kleine Auswahl.
Die führenden Mächte innerhalb der EU haben zwar seit Ende des Zweiten Weltkrieges keine Kriege mehr gegeneinander geführt, aber bereits 1954 war der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft lediglich am Widerstand der französischen Nationalversammlung gescheitert. In den folgenden jahren scheiterten sämtliche Versuche, außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Komponenten hinzuzufügen. Im Vertrag von Maastricht 1993 kam dann die Kehrtwende. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wurde als »zweite Säule« der EU festgehalten.
Im Vertrag von Lissabon verpflichtete sich jedes Mitgliedsland, »seine Verteidigungsfähigkeiten durch Ausbau seiner nationalen Beiträge und gegebenenfalls durch Beteiligung an multinationalen Streitkräften, an den wichtigsten europäischen Ausrüstungsprogrammen und an der Tätigkeit der Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) intensiver zu entwickeln«. EU-weit werden die Wehrpflichtarmeen zu Berufsheeren transformiert und für »Out of area«-Einsätze geschult.
Die Bundesrepublik Deutschland ist mittlerweile der drittgrößte Waffenexporteur weltweit, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Geliefert wird in unzählige Länder. Kürzlich standen die Panzerlieferungen nach Saudi- Arabien in der Kritik, da die Panzer gegen die Aufstände im benachbarten Bahrain eingesetzt wurden.
Die EU ist kein Bündnis des Friedens, sie beteiligt sich an Kriegen und liefert Waffen an die kriegerischsten Staaten auf der ganzen Welt.
Europa? Geschlossene Gesellschaft!
Die Grenzen sind für die Staatsbürger der EU gefallen, aber nicht für alle: Rumänen und Bulgaren, die seit 2007 EU-Bürger sind, brauchen bis Anfang 2014 weiterhin ein Visum, um nach Deutschland einzureisen. Auch eine Arbeitserlaubnis ist für sie nur schwer zu bekommen.
Die Begründung der EU-Kommission: In diesen Ländern gäbe es Mängel in der Justiz sowie bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Reisefreiheit gilt nicht für alle Europäer. Vielmehr gibt es auch in der EU Menschen erster und zweiter Klasse.
Komplett versperrt ist die EU den meisten Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr tausende Flüchtlinge aus Afrika bei dem Versuch, illegal in die EU zu gelangen. Denn Einwanderung ist für arme Menschen verboten. Die »Festung Europa« versucht, sich mit allen Mitteln gegen Flüchtlinge abzuschotten.
In Schengen wurde 1985 ein Vertrag geschlossen, der offene Grenzen, uneingeschränkte Reisefreiheit, entfallende Grenzkontrollen für die damalige EG vereinbarte. Zehn Jahre dauerte es, bis der Vertrag tatsächlich in Kraft trat. Derzeit gibt es 26 Mitgliedsstaaten. Sie haben sich verpflichtet, im Ausgleich für die neue Freizügigkeit im Inneren strengste Kontrollen an den Außengrenzen zu errichten.
Deshalb beschloss der Europäische Rat 2004 ein gemeinschaftlich finanziertes Organ zur Sicherung des Schengen-Raums. Ein Jahr später nahm »Frontex« seine Arbeit auf.
Diese EU-Institution organisiert eine spezielle Grenzpolizei, die schwer bewaffnet ist und brutal gegen Flüchtlinge vorgeht. Sie sind mit Hubschraubern, Flugzeugen und Booten ausgestattet. Im Jahr 2011 beschloss das EU-Parlament mehr Befugnisse: Frontex kann jetzt eigene Grenzschützer anfordern sowie eigene Ausrüstung anschaffen und ist nicht mehr von den Zuweisungen der EU abhängig.
Ihre Aufgabe ist, Flüchtlingsboote zum Beispiel aus Nordafrika aufzuhalten und zurückzuschicken. Allein im Jahr 2011 starben laut Flüchtlingswerk der UNO mindestens 1500 Menschen im Mittelmeer. Boote kentern oder werden von Frontex ohne Verpflegung zurückgeschickt.
Dadurch können auch viele Menschen, die in der EU Asyl bekommen würden, dieses niemals beantragen. Denn ein Asylantrag kann erst gestellt werden, wenn man die EU betreten hat, nicht aus dem Ausland. Doch solange man den Fuß nicht auf EU-Boden gesetzt hat, wird man von den Frontex-Einheiten wie ein Schwerverbrecher übers Meer gejagt, damit auch die asylberechtigten Ausländer niemals den europäischen Strand erreichen.
Letztes Jahr haben Regierungen der EU beschlossen, die Bewachung der EU-Grenzen noch stärker auszubauen. So soll ein europäisches Überwachungssystem namens Eurosur aufgebaut werden, die Grenzschutzbehörden sollen stärker zusammenarbeiten und moderne Überwachungstechnologien eingesetzt werden.
Während sich die EU um die Anwerbung von gut qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland bemüht, werden von Armut, Hunger und Gewalt bedrohte Menschen an den Grenzen abgewiesen und in den Tod geschickt. Das deutsche Asylrecht wurde 1993 verschärft: Seitdem können sich nur die Flüchtlinge auf das deutsche Asylrecht berufen, die nicht über ein sogenanntes »sicheres Drittland« einwandern. Im Jahr 2011 stellten 45.741 Menschen in Deutschland einen Asylantrag, nur etwa ein Zehntel von ihnen bekommt dauerhaftes Bleiberecht.
EU in der Krise: Warum die Banken für ihre Rettung noch Zinsen verlangen
Die Euro-Krise begann 2009: Die Großbanken vergaben an mehrere Staaten der Eurozone Kredite nur noch zu sehr hohen Zinsen. Die Zinsen stiegen so stark, dass sie in Griechenland oder Portugal zum Staatsbankrott geführt hätten.
Eine der Ursachen ist, dass eine der wichtigsten Funktionen der EU ist, ihre Mitgliedsstaaten einem verschärften Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, die niedrigsten sozialen Leistungen und die niedrigsten Steuern für Konzerne und Millionäre auszusetzen. Durch den Wegfall aller Zölle und Einfuhrbeschränkungen haben Staaten mit einer schwächeren Volkswirtschaft, wie Griechenland oder Spanien, kaum noch Möglichkeiten, einheimische Unternehmen wenigstens im eigenen Land wettbewerbsfähig zu halten. Sobald Waren aus einem anderen Land günstiger sind, zum Beispiel weil die Löhne oder die Unternehmenssteuern gesenkt wurden, muss der Import trotzdem bedingungslos hingenommen werden.
In der Eurozone kommt hinzu, dass die wirtschaftlich weniger starken Staaten ihre Währung nicht abwerten können. Bevor es den Euro gab, waren griechische Exporte umso billiger je weniger die Drachme wert war. Bei Bedarf konnte die griechische Staatsbank eine Abwertung ihrer Währung herbeiführen, um der eigenen Exportwirtschaft Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dieses finanzpolitische Instrument fiel mit Einführung des Euro weg. Auch griechische Unternehmen müssen nun ihre Waren und Dienstleistungen für Euro exportieren. Dessen Wert ist beispielsweise im Vergleich zum US-Dollar zwischen 2003 und 2008 um 40 Prozent gestiegen. Damit war es Staaten wie Griechenland nicht mehr möglich, ihren Wettbewerbsnachteil gegenüber starken Staaten wie z. B. Deutschland auszugleichen. Das hat die Exporte der südeuropäischen Länder vermindert, die Wirtschaft geschwächt und damit die Steuereinnahmen des Staates gesenkt. Diesen Trend versuchte man in Griechenland beispielsweise durch niedrige Unternehmenssteuer oder laxe Durchsetzung der Steuerpflicht aufzuhalten. Dadurch ist ein Teil der heutigen Staatsschulden in Europa entstanden. Doch die wichtigere Ursache der Euro-Krise ist ein grundlegenderes Problem: Seit den 80er Jahren gibt es im weltweiten Kapitalismus wieder häufig Wirtschaftskrisen und die Wachstumsphasen werden immer schwächer.
Um die Profite ihre Wirtschaft zu sichern, senkten die meisten Regierungen der Industriestaaten massiv Steuern für Millionäre, Banken und Konzerne. In Deutschland verliert der Staat allein durch die Unternehmenssteuerreform aus dem Jahr 2001 mindestens 11 Milliarden Euro jährlich.
Diese Entlastungen der Wirtschaft haben die Industriestaaten teilweise durch Kürzungen bei sozialen Leistungen von der Bevölkerung bezahlen lassen. Je nachdem, wie groß der Widerstand dagegen war, wurde aber auch ein großer Anteil durch Staatsverschuldung bei Banken finanziert.
Jahrzehntelang waren die Industriestaaten in Europa und Nordamerika bei den Banken als Kreditnehmer beliebt, weil Staaten im Unterschied zu Unternehmen nicht Bankrott gehen konnten und im Unterschied zu Menschen nicht sterben. Dadurch schien zumindest die Zahlung der Zinsen nahezu garantiert, weshalb sie auf relativ niedrigem Niveau blieben.
Doch das immer geringere Wachstum und die sinkenden Profitraten in der Wirtschaft brachten die Konzerne dazu, ihre Gewinne in die Hände von Großbanken zu legen, damit sie Profite an den Finanzmärkten erwirtschaften. Das war keineswegs die Folge von Gier oder Größenwahn.
Vielmehr haben Konzerne wie Volkswagen heute kaum noch Möglichkeiten, ihre riesigen Gewinne profitabel zu investieren. Das Wolfsburger Unternehmen macht laut Geschäftsbericht 2011 durchschnittlich über 1 Milliarde Euro Gewinn – pro Monat. Die Manager wissen buchstäblich nicht, wohin damit. Neue Autofabriken können zumindest in Europa nicht gebaut werden, weil die Verkaufszahlen sinken.
Gesamtwirtschaftlich kann diese Rechnung jedoch nicht aufgehen. Banken müssen das ihnen zur Verfügung gestellte Kapital ebenso in die Wirtschaft investieren und haben dieselben Probleme Anlagen zu finden, die Rendite abwerfen. Dadurch entstehen Spekulationsblasen.
In der Wirtschaftskrise seit 2007 sind solche Spekulationsblasen geplatzt und haben Anlegern und Banken Milliardenverluste gebracht. Für die Rettung der angeschlagenen Banken kamen die Nationalstaaten auf und verschuldeten sich teilweise bei denselben Banken die sie gerettet hatten. Die internationale Bankwirtschaft wiederum verlor dadurch endgültig das Vertrauen in die Fähigkeit einiger Staaten, ihre Zinsen zu bezahlen.
So ging einigen Staaten der Eurozone das erste Mal seit Jahrzehnten die Möglichkeit verloren, neue Schulden aufzunehmen, während sie gleichzeitig Dutzende Milliarden an Banken verschenken mussten, um deren Verluste auszugleichen.
Die erzwungene Streichung von Schulden im Fall von Griechenland und möglicherweise noch anderen Staaten führt in einen Teufelskreis: Die Banken verlieren noch mehr Geld und brauchen neue Milliardengeschenke von Staaten, die aber keine günstigen Kredite mehr bekommen, weil die Banken zu Recht nicht mehr glauben, dass sie sie zurückzahlen können.
Deshalb haben die EU-Staaten dieses Jahr den Fiskalpakt beschlossen, mit dem sie sich selbst zu einem Abbau der Schulden auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zwingen wollen. Tatsächlich wird die Staatsverschuldung nächstes Jahr in Deutschland bei 81 Prozent, in Frankreich bei 93 Prozent, in Italien bei 128 und in Griechenland bei 188 Prozent liegen.
Daher könnten die EU-Staaten den Fiskalpakt nur einhalten, wenn sie die größten Kürzungspakete in der Geschichte der EU umsetzen. Allein Griechenland müsste Schulden in Höhe des 2,5-fachen seines Staatshaushalts abbauen.
Rettungsringe aus Blei: Wie Deutschland Europa ertränkt
Seit Beginn der Eurokrise vergibt die EU unter Führung der deutschen Regierung hunderte Milliarden an angeblichen Hilfskrediten. Bedingung ist jedoch, dass die jeweiligen Länder massive Kürzungsprogramme umsetzen. In Griechenland führte das dazu, dass nach einer Umfrage 20 Prozent der Menschen nicht genug Geld haben, um diesen Winter ausreichend zu heizen.
Das angebliche Ziel, die Staaten durch Senkung der Schulden wieder kreditwürdig für Banken zu machen, wurde nicht erreicht. Die Verschuldung Griechenlands betrug 2009 noch 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, dieses Jahr 177 Prozent und wird 2013 voraussichtlich auf 188 Prozent steigen. Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds schrumpft die griechische Wirtschaft in diesem Jahr um 6 und im nächsten Jahr um 4 Prozent.
Trotzdem wird auch die spanische Regierung voraussichtlich noch dieses Jahr gezwungen sein, einen 100-Milliarden-Euro-Kredit des so genannten »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM) anzunehmen und damit weiteren Kürzungsprogrammen zuzustimmen. Der Grund ist, dass die mächtigen EU-Regierungen, vor allem Deutschland, jedem Staat mit Ausschluss aus der Eurozone drohen, der ihre Forderungen nicht umsetzt.
Ein solcher Ausschluss würde die Wirtschaftskrise in südeuropäischen Ländern weiter verschärfen, weil die neue nationale Währung voraussichtlich geringen Wert gegenüber dem Euro hätte. Importe aus der Eurozone würden deutlich verteuert und Unternehmen beispielsweise der Kauf von Maschinen aus Deutschland praktisch unmöglich gemacht. Doch auch ein Verbleib in der EU bedeutet nicht, dass die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt und Arbeitsplätze geschaffen werden.
Denn neben Kürzungen zwingt die EU den verschuldeten Ländern auch die Privatisierung von staatlichen Unternehmen auf. Auch das geschieht vor allem auf Druck der deutschen Regierung, weil sie den deutschen Konzernen damit riesige Wachstumsmöglichkeiten verschafft.
So wurde beispielsweise die griechische Regierung zur Privatisierung von OTE gezwungen, das größte Telekommunikationsunternehmen in Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Albanien. Heute besitzt die Deutsche Telekom über 40 Prozent von OTE und kontrolliert damit die Führung des Unternehmens. Merkel hat dem deutschen Konzern zu Millionen neuer Kunden verholfen und dem griechischen Staat eine seiner größten Einnahmequellen genommen.
Die EU spannt Rettungsschirme auf, die niemanden retten, verlangt dafür Kürzungen, die Menschen verarmen lassen und erzwingt zusätzlich Privatisierungen, von denen globale Konzerne profitieren. Laut Statistik der EU sind 26 Prozent der Spanier arbeitslos, bei den unter 25-jährigen sind es 53 Prozent. Etwa 100.000 Menschen haben ihre Wohnung oder ihr Haus verloren, weil sie die Raten nicht zahlen konnten. Die deutsche Regierung benutzt die EU nicht, um die Euro-Krise zu lösen, sondern um die mächtige deutsche Wirtschaft noch größer und mächtiger zu machen.
Internationaler Klassenkampf statt Vereinigte Staaten von Europa
Die EU lässt Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, führt Kriege in aller Welt und erzwingt milliardenschwere Kürzungsprogramme. Trotzdem behaupten selbst kritische Politiker und Medien oft, dass die Europäische Union »grundsätzlich« eine gute Idee sei, deren Schwächen verändert werden müssten.
Doch tatsächlich hatten die Regierungen schon bei der Gründung der EU nicht das Ziel der Völkerverständigung. Vielmehr ging es darum, die europäische Wirtschaft und die europäischen Konzerne konkurrenzfähig im globalen Wettbewerb zu machen.
Was die EU trotzdem interessant wirken lässt, ist ihre internationale Politik, die scheinbar nationale Grenzen überwindet. Doch nicht alles Internationale ist besser als ein nationales Gesetz. Die französischen Beschäftigten brauchen einen EU-weiten Mindestlohn nur dann, wenn er über dem französischen von 9,40 Euro pro Stunde liegen würde.
Auch eine gemeinsame Armee der EU würde zu mehr Krieg statt zu Frieden führen. Wenn die großen Streitkräfte aus Großbritannien und Frankreich mit den deutschen, italienischen und anderen Truppen zusammengeführt werden, entsteht eine der mächtigsten Armeen, die fast jedes andere Land angreifen kann.
Selbst wenn das bedeuten würde, dass die EU-Staaten keinen Krieg mehr gegeneinander führen, wäre eine solche Armee der Vereinigten Staaten von Europa kein Schritt zu einer friedlicheren Welt. Auch Kalifornien wird niemals Krieg gegen Texas führen. Aber das macht die USA keineswegs zu einer Friedensmacht.
Einen erfolgversprechenderen Weg zu einem demokratischen, sozialen und friedlichen Europa konnten wir am 14. November sehen: Der grenzüberschreitende Generalstreik in Griechenland, Spanien und Portugal mit großer Beteiligung in Italien und Belgien zeigte, dass die Menschen Europas sich in Solidarität zusammenschließen können. Doch es war ein Streik gegen die Politik Angela Merkels und gegen die Politik der EU.
Auch in Deutschland haben die Gewerkschaften kleine Solidaritätskundgebungen organisiert. Darauf können wir aufbauen, um auch hier eine große Bewegung gegen marktliberale und kriegerische Politik auf die Beine zu stellen, gegen die Rettung der Banken und für die Rettung von Menschen.
Doch dafür müssen wir bereit sein, uns gegen die Regierungen Europas zu wenden – und damit gegen die EU.
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