Kritik am Dogma des Wirtschaftswachstums begleitet die Umweltbewegung schon lange. In der sogenannten Postwachstums-Theorie stecken ernsthafte Widersprüche, doch sie zeigt auch Schnittmengen mit linken Vorstellungen. Von Freek Blauwhof
Grünes Wachstum – die Vorstellung, dass die Menschheit jedes Jahr mehr Produkte und Dienstleistungen konsumieren kann, ohne dabei Ökosysteme immer mehr zu belasten, ist eine Fata Morgana. Denn hinter dem unaufhörlichen Ausbau der Wirtschaftsleistung steht ein Entwicklungsmodell, das die natürliche Lebenswelt immer weiter ausschöpft und endliche Ressourcen schonungslos verschlingt. Das stetige Wachstum gehört zum kapitalistischen Wirtschaftssystem.
Schon seit der Diskussion in den 1970er Jahren über die »Grenzen des Wachstums«-Studie des Club of Rome befürworten viele ökologisch orientierte Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen deshalb eine Postwachstumswirtschaft (auf Englisch Degrowth), in der die Weltwirtschaftsleistung tendenziell eher schrumpft und der Nachdruck auf regionale Kreisläufe und nachhaltige Nutzung gelegt wird. So spricht sich beispielsweise der ökologische Ökonom Nico Paech für ein »drastisch verkleinertes Industriesystem, erweitert um eine Regional- sowie eine Subsistenzökonomie«, aus.
Die kleinen Anfänge dieser Strömung liegen bei Wissenschaftlern wie Nicholas Georgescu-Roegen, Jacques Grinevald und Herman Daly. Heute pilgern hunderte oder gar tausende Studierende, Akademiker:innen und Aktive in ökologischen Bewegungen zu jährlichen Degrowth-Konferenzen in wechselnden europäischen Städten, wie Barcelona in 2010, Leipzig in 2014 und Amsterdam in 2021.
Degrowth ist nicht antikapitalistisch
Auch die Anzahl der Publikationen von Wissenschaftler:innen, die eine Postwachstumswirtschaft befürworten, ist stetig mehr geworden. Veröffentlichungen wie »Ecological Economics«, »Journal of Political Ecology« oder »Journal of Cleaner Production« bieten eine fortlaufende Diskussion innerhalb der wissenschaftlichen Degrowth-Community. Zudem gibt es viele andere akademische Veröffentlichungen, und auch Hintergrundrubriken von Qualitätsmedien sind offen für den Postwachstumsdiskurs.
Dessen Hauptgedanken, dass mit der Natur nicht verhandelt werden kann und dass Grenzen von Ökosystemen und natürlichen Ressourcen respektiert werden müssen, sind ein entscheidender Fortschritt gegenüber oberflächlichen Nachhaltigkeitslabels oder gar Greenwashing vieler NGOs und pro-kapitalistischer grüner Parteien. Doch die ohnehin sehr idealistisch geprägte und nach post-autonomen Prinzipien organisierte Postwachstums-Bewegung enthält auch ernsthafte Widersprüche. Diese haben eine theoretische Wurzel, wirken sich politisch ganz konkret aus und heben Spaltungslinien hervor.
Grüner als Greenwashing wird es nicht
Der Kapitalismus ist ein planlos funktionierendes System, in dem verschiedene Kapitalien nach möglichst gewinnbringenden Investitionsmöglichkeiten suchen. In Zeiten des Aufschwungs und der Stabilität führen die vielen tagtäglichen Entscheidungen zu Wachstum, manchmal befeuert jedoch der gleiche Mechanismus abgrundtiefe Depressionen. Regierungen sind nicht einfach in der Lage, Wachstumsquoten für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) festzusetzen, welche die Renditemöglichkeiten des Kapitals schmälern würden.
Vielmehr sind Staaten von Investitionen und Steuereinnahmen sowie Beschäftigung durch das Kapital abhängig. Deshalb sind sie auch vor allem darum bemüht, in Konkurrenz zu anderen Staaten ein attraktives Investitionsklima anzubieten, um dafür zu sorgen, dass das eigene BIP möglichst stark wächst. Als politische Forderung steht die Postwachstumswirtschaft den Interessen des Kapitals und des Staats also direkt entgegen.
Doch selbst wenn das BIP-Wachstum staatlich reguliert und begrenzt und die Produktion über klare industriepolitische Vorgaben Richtung Nachhaltigkeit gelenkt werden könnten, wäre eine schrumpfende kapitalistische Wirtschaft noch lange nicht sozial. Im Gegenteil, im Kapitalismus ist BIP-Wachstum eine notwendige Voraussetzung für steigende Löhne, Sozialausgaben und staatliche Leistungen. Und wachsendes BIP setzt seinerseits üppige Renditen auf das investierte Kapital voraus, sprich, die Investitionen einer jeden Periode müssen Mehrwert abwerfen. Wächst der Mehrwert nicht, wird eben bei den Arbeiter:innen gekürzt oder die Firma geht auf Dauer pleite.
Gesellschaftlicher Mehrwert muss mit Akkumulation brechen
Gleichzeitig verlieren Staaten in Rezessionen Steuereinnahmen, während die Ansprüche auf Sozialleistungen steigen. Die Folge einer Wirtschaftsordnung, die auf kapitalistischer Akkumulation ohne Wirtschaftswachstum beruht, wäre ein dauerhafter Abschwung mit allen sozialen Verwerfungen. Befürworter:innen einer Postwachstumswirtschaft müssen ihre Vorstellungen zumindest mit weitreichenden Forderungen nach Umverteilung und massiven öffentlichen Investitionen ergänzen, um den zerstörerischen Auswirkungen des BIP-Schrumpfs entgegenzuwirken.
Zu Ende gedacht steht eine dauerhafte Postwachstumswirtschaft also auf Kriegsfuß mit der Akkumulation des Kapitals. Schon 1972 bemerkte der Degrowth-Ökonom Herman Daly: »Wenn der Mehrwert nicht zu Wachstum führen soll, muss er konsumiert werden. (…) Akkumulation, und die damit verbundenen Privilegien, würde es jenseits von Abschreibungen nicht geben.« Die Degrowth-Verfechter:innen stünden vor der Aufgabe, anstelle des Kapitals über den gesellschaftlichen Mehrwert zu verfügen, um die Postwachstumswirtschaft zu erreichen. Leider hat dies nicht dazu geführt, dass marx’sche Entwicklungs- und Krisenmodelle, die – im Gegensatz zur neoklassischen Ökonomie, aber auch zur ökologischen Ökonomie – die Akkumulationsdynamik aufgreifen, eine Rolle in den Analysen der Postwachstumswirtschaft-Theoretiker:innen spielen.
Beim Thema Kapitalismus scheiden sich die Geister
Beim Thema Kapitalismus scheiden sich die Geister in der Postwachstums-Szene, aber dennoch ist eine klare Entwicklung hin zur Vertiefung der Kapitalismuskritik festzustellen. Es sagt auch einiges, dass ein einflussreicher Ökologe wie Tim Jackson dieses Jahr seinem jüngsten Buch den Titel »Post Growth – Life after Capitalism« gegeben hat. Dies entspricht zweifellos auch dem Geist der neuen erstarkenden ökologischen Bewegungen, auch von Aktionsnetzwerken wie Ende Gelände oder Extinction Rebellion.
Auch Nina Treu, die 2014 den Leipziger Degrowth-Kongress und im letzten Jahr den digitalen Kongress »Zukunft für alle« organisiert hat, erklärt im Interview mit der taz: »Wir wollen keine gewaltvolle Revolution, aber doch das kapitalistische System überwinden und Umverteilung.« In 2017 ist sie der Linkspartei beigetreten, dieses Jahr kandidierte sie in Leipzig-Nord für den Bundestag. Als Kandidatin machte sie ihre Systemkritik klar: »Die Leute wissen, dass der Kapitalismus ihnen nicht mehr das bringt, was er ihnen verspricht, und dass wir das Klima gerade verheizen. Sie wissen, dass wir uns alle auf die Suche machen müssen.«
Der Green New Deal ist eine neoliberale Strategie
Quer durch die Degrowth-Netzwerke genießen unterschiedliche, oft weitreichende Ideen für soziale Umverteilung und »Green New Deal«-Pläne mit öffentlichen Beschäftigungsprogrammen, für gesteigerte Lebensqualität durch Arbeitszeitverkürzung und weniger Konsum wie für ein bedingungsloses Grundeinkommen große Beliebtheit. Gerade die aktivistisch organisierten Beteiligten ahnen, dass die Postwachstums-Ideen und ökologische Nachhaltigkeit insgesamt unweigerlich den Interessen des Kapitals entgegengesetzt sind, auch wenn noch wenige diesen Sachverhalt und ihre Folgen genau theoretisch herausgearbeitet haben. Ihre Ideen sind meistens lose und unzusammenhängende Vorschläge, die ohne politischen Fokus, ohne organisatorische Form und damit ohne soziale Organisationsmacht bleiben.
Doch es gibt auch Postwachstums-Befürworter:innen, denen definitiv keine postkapitalistische Vorstellung vorschwebt. So erläuterte Niko Paech im taz-Interview im April 2020 die Auswirkungen seiner Postwachstumsstrategie besonders anschaulich: »Kürzere Wertschöpfungsketten (können) die Arbeitsproduktivität senken. Also steigen die Preise, während die Auswahl und die Produktionsmengen sinken, tendenziell auch die Löhne. (…) Dann werden die Menschen sich nicht mehr so viel leisten können. Die bessere Welt kriegen Sie nicht zum Nulltarif. Aber das bringt Krisenstabilität und neue Arbeitsplätze.«
Das Kapital muss die Transformation zahlen
Zwar fordert Paech auch einen Lastenausgleich wie eine Vermögenssteuer, er lässt aber offen, ob dies die verheerenden Auswirkungen einer permanenten Rezession annähernd ausgleichen kann. Den Schwerpunkt legt Paech auf die sogenannte Suffizienz, auf Regionalisierung, auf Wiederverwendung statt Wegwerfgesellschaft und einen bescheidenen Lebensstil. Diese Anregungen erscheinen losgelöst von der krisenhaften Dynamik des Kapitalismus. Letztendlich verlangt Paech, dass die Arbeiter:innenklasse zum beachtlichen Teil die Zeche für die ökologische Transformation der Wirtschaft zahlt. Was dann bleibt, ist das Predigen des Konsumverzichts.
Solche Postwachstums-Konzepte sind dann auch nicht geeignet, um Industriearbeiter:innen und Gewerkschaften einerseits und ökologische Bewegungen andererseits auf gemeinsame Forderungen und Aktionen zu vereinen. Vielmehr kann eine solche Theorie zu einer Entfremdung zwischen den Klima-Aktivist:innen und den organisierten Industriearbeiter:innen führen. Denn nach Paech gehören zwar der Kohleabbau, die unaufhörliche Massenproduktion von Pkws und die Rodung des Regenwaldes zugunsten massiver Palmöl-Plantagen gestoppt, doch auch die Tarifforderungen der IG Metall oder der IG BCE zum Beispiel erscheinen als Problem, denn auch diese führen zu mehr Konsum und deshalb auch zu weiterem BIP-Wachstum.
Für eine nachhaltige, ökologische Zukunft brauchen wir die Vision für neue soziale und wirtschaftliche Verhältnisse, eine neue Art des Zusammenlebens und den Umgang mit der Umwelt und Ressourcen
Was Paech, aber auch viele linkere Postwachstums-Verfechter:innen, übersehen, ist dies: Wachstum an sich ist nicht das Problem, das in den Vordergrund gehört. Der Wachstumszwang ist keine für sich stehende Ursache, sondern der Ausdruck der Kapitalakkumulation, welche die kapitalistische Produktionsweise kennzeichnet und antreibt. Sinnvoll ist stattdessen, den Blick auf qualitative Entwicklung und Nutzwerte zu richten. Ein Investitionsprogramm für eine sozial-ökologische Transformation würde beispielsweise genauso das BIP steigern wie der Ausbau von Autobahnen. Doch im ersten Fall würde die Grundlage für sinkenden Ressourcen- und Energieverbrauch gelegt, im zweiten Fall der Raubbau an der Natur weitergeführt. Es geht also nicht um das Wachstum ökonomischer Aktivität, sondern um die Art dieser Entwicklung, und letztendlich den Umbau des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur.
Ökologie geht nur global
Wer ernsthaft daran interessiert ist, diesen Stoffwechsel in den Griff zu bekommen, braucht eine Vision für neue soziale und wirtschaftliche Verhältnisse, eine neue Art des Zusammenlebens und den Umgang mit der Umwelt und Ressourcen. In dieser Hinsicht hat die Postwachstums-Szene einiges an Ideen und Praxis anzubieten. Eine Rolle spielen regionale Autarkie, die Vorstellung einer besseren Lebensqualität durch mehr Freizeit und achtsamen Konsum. Die in Großbritannien initiierten Transition-Towns-Gruppen gibt es mittlerweile in dutzenden Ländern und hunderten Kommunen, zudem zahlreiche lokale Initiativen für CO2-Neutralität, für ökologische und regionale Landwirtschaft, für energiesuffizientes Gemeinschaftsleben und vieles mehr. Doch obwohl viele lokale Initiativen sich auch verbünden, sind die entstehenden Netzwerke von einer gewissen anti-politischen Haltung. Diesen Geist drückte der Titel des Handbuchs von Gründer Robert Hopkins aus: »EINFACH. JETZT. MACHEN!: Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen.«
In Katalonien spielen lokale Alternativen in Zusammenarbeit mit der Autonomen Universität Barcelona, die auch Vorreiterin in Postwachstumswirtschaft ist, eine ähnliche Rolle mit Projekten vor Ort und finden zugleich Gehör in den linken Parteien. Auf der Degrowth-Konferenz in Barcelona 2010 sprach ein Vertreter der Regionalregierung. In Frankreich gibt es neben vielen lokalen Projekten eine Monatszeitung »La Decroissance« und die Kleinpartei »Parti pour la Decroissance«, die jedoch bisher eine gesellschaftliche Nische bedienen.
Produktionsmittel entscheiden den sozial-ökologischen Umbau
Das alles genügt noch lange nicht für eine ernsthafte Strategie zur Veränderung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Lokale Vorzeigeprojekte können zwar Inspiration bieten und zeigen, dass eine bessere Welt möglich ist. Die Aufgabe ist aber, die kapitalistischen Verhältnisse, die heutige industrielle Produktion, die globalen Transport- und Vertriebsketten umzubauen und wohl überlegt einzusetzen für menschliche Bedürfnisse statt Profitmaximierung.
Das führt direkt zur Frage der Eigentumsverhältnisse und damit verbunden der politischen Macht. Hier hat der Marxismus als politisches Projekt, das den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in den Vordergrund stellt, einen Beitrag zu leisten. Oder anders formuliert: Eine Gesellschaft, die die ökologischen Grenzen dauerhaft respektieren kann, gibt es nur, wenn die übergroße Mehrheit der Menschen, die Arbeiter:innen, sich organisiert, um den Kapitalismus zu stürzen.
Von dieser Perspektive sind die meisten Wachstumskritiker:innen weit entfernt. Doch die weit verbreitete Klarheit über die Tiefe der aktuellen ökologischen Krise macht die theoretischen Ansätze attraktiv für viele junge Aktive in Aktionsplattformen wie Ende Gelände oder in Massenbewegungen wie Fridays for Future. Die Postwachstums-Ansätze mögen zwar widersprüchlich sein, und im schlimmsten Fall auch offen für rechte Erklärungsansätze, die das weltweite Bevölkerungswachstum als Grundübel sehen. Doch sie sind für die Linke sehr anschlussfähig. Es liegt jetzt an ihr, Visionen eines »Green New Communism« anzubieten und gleichzeitig ernsthaft einzubeziehen in eine klassenkämpferische Linke, die Bewegungen verbindet und politisch auf die große Mehrheit der Lohnabhängigen eingeht.
Autor: Freek Blauwhof, Mitglied der Linken Neukölln und Unterstützer von marx21
Schlagwörter: Antikapitalismus, Ökologie, Wachstum