Netflix hat in den letzten Jahren mehrere Filme auf seiner On-Demand-Plattform zur Verfügung gestellt, die eine Kapitalismuskritik darstellen sollen. Doch ob Netflix dabei den Blick auf den Kern der herrschenden Verhältnisse frei legt, bezweifelt unser Autor. Ein Moviewatch über »Squid Game«, »Der Schacht« und »Snowpiercer« von Simo Dorn
Squid Game
»Squid Game« war 2021 eine der meistgesehenen Serien auf Netflix. Sie erzählt die Geschichte von Menschen, die sich aufgrund massiver persönlicher Verschuldung gezwungen sehen, an einem Spiel mit unbekannten Organisatoren teilzunehmen. Als Gewinn winkt eine Geldsumme in Höhe der Verschuldungen aller Teilnehmenden. Die Kehrseite der Medaille: die Kinderspiele, die die Teilnehmenden absolvieren müssen, enden bei Disqualifizierung tödlich. Das schicksalhafte Schauspiel wird letzten Endes für eine Hand voll Reicher organisiert, für die das massenhafte Sterben der Teilnehmenden dem eigenen Amüsement dient.
Die Serie von Hwang Dong-hyuk leistet sich eine ausführliche Einführung des Protagonisten sowie seiner sozio-ökonomischen Verhältnisse, bevor er das Angebot eines möglichen Auswegs aus Selbigen annahm.
Schockierend war für uns Zuschauer:innen jedoch weniger die Beleuchtung der Verhältnisse, in denen die Menschen leben, sondern die expliziten Gewaltdarstellungen, die folgen sollten. Der »Fetisch«, bei Kinderspielen tödliche Gewalt zu sehen, macht bei »Squid Game« den Einschaltwert bei den Zuschauer:innen aus. Gerade die Spontaneität der ausbrechenden Gewalt birgt den Unterhaltungswert. Jedoch beschränkte sich die Gewalt auf rein körperliche Gewalt durch Waffen und ähnliches. Sie wird meist von den Spieler:innen selbst gegeneinander ausgeübt. Durch die Gewalt wird jedoch etwas verschleiert, das wir als Zuschauer:innen nicht erkennen sollen.
Klare Kapitalismuskritik auf Reformwegen
Viele Kritiker:innen sind sich einig und der Regisseur selbst bezeichnet die Serie als ein überzeichnetes Spiegelbild von Japans Leistungsgesellschaft und eine explizite Kritik am kapitalistischen System – auch wenn dies von amerikanischen Rechten und Libertären bereits kurz nach dem Start der Serie zu einer Kommunismuskritik verzerrt wurde.
Aber nicht nur der japanischen Gesellschaft wird in »Squid Game« der Spiegel vorgehalten, sondern auch dem deutschen und dem westlichen Medienkonsum. So ist »Squid Game« eine Überspitzung von »Bauer sucht Frau«, »Das Dschungelcamp« oder »Deutschland sucht den Superstar« (DSDS), allgemein des Reality-TV. Wir ergötzen uns am Misserfolg bzw. am Leid anderer – meist von Minderheiten. Rassismus, Klassismus oder jede notwendige Form der strukturellen Diskriminierung finden Einzug in die Art und Weise, wie wir als Zuschauer:innen dem Individuum auf dem Bildschirm seinen oder ihren Misserfolg als gerechfertigt zuschreiben.
Wir sind die Reichen in Squid Game
Was bei DSDS verschleiert bleibt, bei »Squid Game« jedoch erkennbar wird, ist, dass nicht nur die Reichen als Stellvertreter:innen der herrschenden Klasse grinsend und lachend auf die Spieler:innen auf dem Bildschirm schauen, sondern auch wir.
Auch die Netflixzuschauer:innen sind auf der Seite der Reichen und »ergötzen« sich am Leid der Spieler:innen. Wir entscheiden uns aktiv dazu zuzuschauen – sowohl beim »Squid Game« als auch beim Reality-TV.
Den eigenen Blick und die Machtstrukturen, die diesen zu Grunde liegen, zeigt uns »Squid Game« selbst jedoch nicht. Die Serie will, dass wir zuschauen und mit den Reichen zusammen die Show genießen. Wäre dem nicht so, wäre keine zweite Staffel in Aussicht gestellt worden und darüber hinaus wäre der Protagonist nicht erneut Teilnehmer bei den nächsten Spielen geworden, mit dem Ziel, die Spielregeln von innen heraus zu verändern. Die Serie gaukelt uns so die Reformierbarkeit des Systems von innen heraus vor. Eine Revolution von unten, die die Spielregeln der Macht ignoriert und Verhältnisse strukturell beseitigt und neu denkt? Das ist nicht erwünscht und das traut sich Netflix uns dann doch nicht zu zeigen.
Der Schacht
Drei Jahre vor »Squid Game« war »Der Schacht« auf Netflix zu sehen, im Englischen »The Platform« – was der bessere Titel ist. Der Film von Galder Gaztelu-Urrutia handelt von einem vertikalen Gefängnis mit 333 Etagen. Auf jeder Etage leben zwei zufällig ausgewählte Menschen. Auch die Etage selbst, auf der jede und jeder aufwacht und den nächsten Monat leben wird, ist zufällig. Jeden Tag bestückt die Gefängnisleitung eine Plattform mit Speisen und Getränken. Genug, so heißt es, dass es für alle 666 Gefangenen reiche. Die Plattform wird beginnend auf Etage 1 den Turn heruntergefahren. Auf jeder Etage verbleibt sie circa zwei Minuten bevor sie zum nächsten Stockwerk herabfährt. Die Verhältnisse in diesem Turm dürften sich aus der bloßen Beschreibung der Rahmenbedingungen selbst erklären, leben wir doch alle in einer kapitalistischen Gesellschaft und sind uns der hier verwendeten Bildsprache sehr bewusst.
Moralischer Appell in einem amoralischem System
»Der Schacht« ist die filmgewordene Darstellung des »Trickle Down«-Effektes in seiner bitteren Realität, die Marktliberale sehr wohl kennen, uns aber als das Heil gesellschaftlicher Missverhältnisse verkaufen wollen. So unmittelbar die Bildsprache des Films den Zuschauenden eine Kapitalismuskritik aufzwingt, so verfehlt sind aber letztlich die Handlungsoptionen, die den Weg hinaus zeigen sollen.
Moral ist wenn man moralisch ist, weiß er Woyzeck – der Hauptmann (Woyzeck, Georg Büchner)
Umverteilungsabsichten werden autoritär von oben diktiert und mittels Sanktionierung zeitweise durchgesetzt, scheitern aber letztlich. Ebenfalls wird durch den Turm selbst das Machtgefälle zwischen den Klassen als natürliche und unüberwindbare Grenze dargestellt, anstatt dass sie an den persönlichen Besitz von Produktionsmitteln oder Kapital geknüpft sind, wie es in der Realität der Fall ist. Die Rebellion der Insassen besteht letztlich in einem Appell der Moral an die Gefängnisverwaltung. Ein Kind, das ebenfalls im Turm ist, soll als Beweis des geglückten Experiments gelten. Dass die Gefängnisverwaltung, wie auch der Kapitalismus, gänzlich amoralisch sind, wird hier nicht beachtet. Es ist kein Beweis für ein geglücktes Selbstverwaltungsexperiment, Moral zu zeigen, wenn es gerade deren Abwesenheit war, die das Experiment überhaupt erst ermöglicht hat.
Selbstverpflichtung als Maß der Dinge einer Gesellschaft
Hierin erkennen wir sehr gut die allzu weit verbreitete, bürgerliche Kritik am Kapitalismus, welche stets auf eine moralische Verantwortung des Individuums zurückfällt – das Stichwort »freiwillige Selbstverpflichtung« hat es unter den Regierungen von Angela Merkel ja zu trauriger Berühmtheit gebracht. Beim Klimawandel, beim Fleischkonsum, beim Fliegen, beim Infektionsschutz in der Corona-Pandemie. So heißt die Gefängniseinrichtung nicht ohne Grund »Institut für Selbstverwaltung«.
»Der Schacht« sagt uns, es liege am Individuum. Wenn jede:r nur moralisch handeln würde, dann wäre für jede:n gesorgt. So gewaltig die Bildsprache des Films ist, so anti-emanzipatorisch ist seine Kapitalismuskritik, die selbst bezüglich des simpelsten Reformismus versagt.
Snowpiercer
Den beiden diskutierten Werken steht aber noch ein drittes gegenüber: Der 2013 erschienene Film »Snowpiercer« von Bong Joon-ho (ebenfalls Regisseur von »Parasite«). Es ist kein Film, der für Netflix produziert wurde, auch wenn er dort zu sehen ist. Erfreulicherweise reiht er sich aber nicht in die verfehlten Systemkritiken der Netflix-Auftragsproduktionen ein. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Netflix 2020 (zweite Staffel 2021) eine gleichnamige Serie mit dem gleichen Szenario, und teilweise gleichen Szenen, auf ihrer On-Demand-Plattform veröffentlichte, zeigt das Reaktionäre von Netflix. In ihr wird die gelungene Systemkritik des Filmes zu einer Hochglanzerzählung, die den Alltag der Menschen zeigt, aber in dieser oberflächlichen, bürgerlichen Kritik stecken bleibt.
Kapitalismus und Klimakrise
Der Film spielt im Jahr 2031. Die zunehmende Erderwärmung hatte im Jahr 2014 die 79 reichsten Nationen dazu veranlasst, Geoengineering zu betreiben und mittels einer klimaaktiven Chemikalie in der oberen Erdatmosphäre die Sonneneinstrahlung künstlich zu reduzieren. Das Projekt verfehlte sein Ziel jedoch und eine globale Eiszeit überzog die Erde.
»Snowpiercer« zeigt uns anhand der Klimakrise, dass ein Systemwechsel unausweichlich ist, um den Kollaps des Weltklimas zu verhindern. Technokratische Maßnahmen sind nicht die Lösung für fundamentale, gesellschaftliche Zerwürfnisse zwischen Arm und Reich, zwischen Klimafolgenerleidenden und Klimafolgenverursachenden.
Trotz Klimakollaps konnte sich jedoch ein kläglicher Rest der Menschheit in einen Zug retten, der nie haltend auf seiner Strecke die Erde umrundet. Vorne im Zug leben dabei die Reichen und Wohlhabenden, während hinten das Lumpenproletariat krepiert. »Snowpiercer« sollte allerdings nicht als horizontale Version von »Der Schacht« verstanden werden. Hier sind die Grenzen nicht durch Naturgesetze (etwa der Gravitation) festgeschrieben, sondern werden durch den Gewaltapparat der herrschenden Klasse bzw. Kaste manifestiert. Aber, und das ist ein Großteil der Handlung des Films, ein Gewaltapparat lässt sich bezwingen, wenn er sich der Masse der Unterdrückten gegenübersieht.
Von Revolution zu Reform zu Revolution
Der Weg der Revolution durch die Zugabteile nach vorne zum Triebwagen zeigt das Ausmaß der Klassenunterschiede. Im Gegensatz zu »Squid Game« erkennen wir als mitteleuropäische Zuschauende jedoch sehr wohl, dass es wir sind, die da tanzen, die da feiern und die die wenigen Ressourcen im Übermaß zur Verfügung haben.
Die Systemanalyse, die von den Protagonist:innen am Ende selbst ausgeführt wird, schlägt bewusst zu allererst eine systeminhärente Antwort auf Fragen der Wohlstandsverteilung in einem beschränkten System mit beschränkten Ressourcen vor. Alles was gesagt wird, ist nicht falsch. Was den Zuschauenden ins Grübeln bringt: Ist ein anderes Zusammenleben als in einer kapitalistischen Klassen- bzw. Kastengesellschaft überhaupt möglich?
Die Frage, die nicht gestellt wird, sondern durch die Bildsprache des Films beantwortet wird, ist die Systemfrage selbst. Nicht die Verhältnisse innerhalb des Zuges müssen geändert werden, sondern die Architektur des Zuges gilt es in Frage zu stellen.
Der Zug muss entgleisen
Die Essenz von »Snowpiercer« ist nicht, dass fast die gesamte Menschheit durch das Entgleisen des Zuges ums Leben kommt und die beiden Kinder, die es überlebt haben, in den nächsten zehn Minuten von einem Eisbären zerrissen werden. Sondern, dass ein Leben außerhalb des Zuges, außerhalb der herrschenden, auferlegten Ordnung überhaupt möglich ist. Selbst dies bereitet der Film vor, sodass wir an der Tatsache selbst nicht zweifeln. Das Ende von »Snowpiercer« ist eine Metapher, die uns zu verstehen gibt, dass es eine Revolution von unten bzw. in diesem Fall von hinten braucht, um die herrschende Verhältnisse zu überwinden.
Ebenso macht uns »Snowpiercer« auch klar, dass eine Revolution mitnichten alle Problem einer Klassengesellschaft wegwischt und mit ihr die Utopie von Lenins Gnaden über uns hereinbricht. Es ist ein Trugschluss, dass sich Rassismus und weitere Klassendifferenzen einfach im Rauch verflüchtigen werden, sobald der Kapitalismus überwunden ist. Der Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft der Gleichen kann nach der Überwindung des Kapitalismus durch die Revolution überhaupt erst begonnen werden. Aber, und das zeigt uns »Snowpiercer«, während »Squid Game« und »Der Schlacht« darüber schweigen, es gibt diesen Weg und wir können ihn zu bestimmten Ereignissen in der Geschichte einschlagen.
Dem Geist der Zeit voraus
Der Serie fehlt, durch die Möglichkeit einer immer neuen Staffel, dieses disruptive Moment des Endes des Films. Der Kern der Systemkritik in »Snowpiercer« ist gerade das Entgleisen des Zuges. Ohne sie verbleibt die Kritik am Kapitalismus lediglich in einem reformistischen Ansatz.
Der Film »Snowpiercer« führte uns bereits 2013 vor Augen, dass unsere Antwort auf die Fragen unserer Zeit: »System Change, Not Climate Change!« lauten muss.
Schlagwörter: Antikapitalismus, film, Kultur