»Nicht in meinem Namen!«, schrieb unser Autor über die Begeisterung für Deutschland zur Fußball-Weltmeisterschaft 2010. Auch bei der diesjährigen Weltmeisterschaft (WM) wird ein Patriotismus geschürt, der keineswegs sportlichen Zwecken dient. Von Nils Böhlke
Dies ist eine aktualisierte Version des Artikels, der bereits im marx21 Magazin erschienen ist (Erschienen am 13. Juni 2016). Hier findest du die damalige Ausgabe und hier das Inhaltsverzeichnis und das Cover der aktuellen Ausgabe.
Ich habe vor acht Jahren zum ersten Mal für marx21 einen Artikel darüber geschrieben, dass ich mir den Fußball nicht von den Nationalisten nehmen lassen möchte und mich niemals in eine Fanmeile stellen würde, um dort mit Schwarz-Rot-Gold auf der Wange der deutschen Nationalmannschaft zuzujubeln. Heute ist deutlicher denn je erkennbar, wie sich die Enttabuisierung nationaler Symbolik bei Sportevents negativ auf die gesellschaftliche Entwicklung auswirkt. Wenn ich das schreibe, geht es mir keinesfalls darum, mich gegen diejenigen zu stellen, die sich für Fußball begeistern. Nichts liegt mir ferner. Ich bin Fußballfan seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sieben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrien für den FC St. Pauli und mit den anderen Fans viele Siege gefeiert und leider noch mehr Niederlagen erlebt. Während der Weltmeisterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Dennoch werde ich niemals eine Deutschlandfahne in die Hand nehmen.
WM: »schwarz-rot-geil«?
Die »Bild« wird mich und andere, die ähnlich denken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepöbeln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rot-goldene Taumel gerade in der jetzigen Situation Wasser auf die Mühlen nationalistischer Kräfte wie der AfD sein wird. Über »schwarz-rot-geil« (»Bild«) freuen sich die Falschen. Wenn sich heute ein rechter Hardliner der AfD, Bernd Höcke, in einer Fernseh-Talkshow mit Deutschlandfahne präsentiert, sieht er sich an der Seite der Vielen, die sich in den letzten Jahren bei den großen internationalen Fußballturnieren auf den Fanmeilen tummelten. Die Enttabuisierung nationaler Symbolik wurde bereits nach der WM 2006 von konservativen Kräften bejubelt. So schrieb damals zum Beispiel die notorisch rechte CDU Hessen: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstverständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozialisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschädigt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deutsche große Probleme, zu einem normalen Patriotismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.«
Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, frohlockte: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zeigen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (…) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt zu Gegnern.« Auch NPD-Ideologe Jürgen Gansel freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.«
WM: Die Rechte fühlt sich pudelwohl
Nun will nicht jeder, der bei der Weltmeisterschaft einen Deutschlandwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs oder eine starke AfD. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen kleinen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pudelwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart.
Vor der WM 2006 meinte Luis Fernando Suárez, Trainer des ecuadorianischen Teams, in einem Interview über die deutsche Mannschaft: »Die Deutschen spielen wie große Panzer, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, überrollen. Sie spielen realistisch, effizient. Sie sind Zerstörer, wie im Krieg.« Ähnlich äußerte sich Franz Beckenbauer, der wusste: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Motiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Diese Pseudowissenschaft wird Teil des Alltagsbewusstseins. Autoren wie Thilo Sarrazin können darauf aufbauen und ihre Thesen auf andere Lebensbereiche ausweiten.
Die Erfindung der Nation
Die Annahme, dass sich in einer Nationalmannschaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharakter manifestiert, ist absurd. Denn so etwas wie »das Deutsche« gibt es nicht. Nationalismus – und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« – ist das Produkt frühkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« gezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frühen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Königreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Badens hätte sich nicht mit einem Einwohner Mecklenburgs unterhalten können. Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurde im Nachgang eine Nationalgeschichte konstruiert, die nach Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichte. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert der Germanenfürst Arminius, der im Jahr neun nach Christus die Römer in der Varusschlacht besiegt hatte, zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen umgewidmet. Das sollte der Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt.
WM-Kader mit Migrationshintergrund
Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter scheitern schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht Eisbein oder Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Wandel und Mentalitäten ändern sich. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche.
Da hilft es auch wenig, dass mit Mesut Özil, Jérome Boateng, Ilkay Gündogan, Mario Gomez, Antonio Rüdiger und Sami Khedira ein Viertel des aktuellen deutschen WM-Kaders einen Migrationshintergrund hat – im Gegenteil. Alexander Gauland von der AfD meint, dass Jérome Boateng zwar als Fußballspieler beliebt sei, aber Deutsche jemanden wie ihn (er spielte auf die Hautfarbe an) nicht gerne als Nachbar hätten. Simpler kann man den Nützlichkeitsrassismus nicht mehr ausdrücken: Die dunkelhäutigen Fußballer werden zwar für ihre Arbeitskraft geschätzt, aber als Menschen, die sich in unserer Nachbarschaft aufhalten, sind sie unerwünscht. Sobald Boateng also (und jeder andere »Gastarbeiter«) seine Arbeitskraft nicht mehr zur Verfügung stellt, ist er aus der Sicht der AfD-Rassisten unerwünscht in diesem Land.
Nation statt Klasse
Während der Weltmeisterschaft 2014 gab es derweil eine Debatte, weil Boateng, Özil und Khedira die Nationalhymne zu Beginn der Spiele nicht mitsangen. In der »Welt« schrieb eine Kommentatorin »Die drei stehen stumm da und machen die schöne Idee kaputt, dass wir mit der Hymne zu einem einigen Ganzen werden könnten.« In diesem Satz wird wunderbar deutlich, worum es eigentlich geht: Das große deutsche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der »Spiegel« brachte es im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (…) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.«
Warum das alles? Weil den Konservativen »das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist. Das hat einen Grund: Die deutsche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent sogar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent besitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung nahezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozialabbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere immer weiter und immer schneller. Die »Süddeutsche Zeitung« (»SZ«) zeigte in einer Reportage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalgefühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die »SZ« wollte mit diesem Artikel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Gesellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-Rot-Gold. Und das kann man bekanntlich nicht essen.
Die WM und der »Patriotismuseffekt«
Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 ließen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu predigen: Du bist Deutschland! In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne.
»Spiegel«-Autor Matthias Matussek argumentierte ähnlich: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich.« Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen arm und reich, zwischen Klassen gespaltene Gesellschaft unter dem Banner von »Volk« oder »Nation« zu vereinen, um dann für die Nation Opfer einzufordern. Anschaulich schildert das Henrik Müller, damals stellvertretender Redakteur des »Manager-Magazins« in seinem 2006 erschienenen Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus – Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung«. Darin klagt er: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.« Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht – in den 1980er Jahren die Niederlande, Großbritannien, die USA, Neuseeland, in den 1990er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vormals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.«
Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus – das Zugehörigkeitsgefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv – wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.«
Es gibt keinen unverkrampften Patriotismus
Sie reden vom Weltmeistertitel und meinen den Exportweltmeister – eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mitmachen und auch während der Weltmeisterschaft über die wirklichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, sondern Dinge wie zum Beispiel das Dogma einer »schwarzen Null«, die zur Zerstörung der sozialen Infrastruktur führt. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »Wir-Gefühls« Politik gegen alle Menschen in Deutschland machen zu können – egal, ob sie Deutsche, Türkinnen, Italiener oder Serbinnen sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch andere der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rot-goldenen Fahnen prägen.
Über den Autor: Nils Böhlke ist Politikwissenschaftler und Fußballfan. Er arbeitet als Gewerkschaftssekretär bei ver.di und ist Landessprecher der LAG Betrieb & Gewerkschaft der LINKEN in Nordrhein-Westfalen.
Foto: onnola
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