In Serbien protestieren seit der Wahl des nationalkonservativen Premierministers Aleksander Vučić zum Präsidenten zehntausende Menschen gegen »die Diktatur«. Vor allem Studierende und junge Menschen gehen gegen Korruption, Zensur und Arbeitslosigkeit auf die Straße. Jelena Lalatović, Mitglied der serbischen Organisation Marks21 und selbst Teil der Proteste in Belgrad, beantwortet die wichtigsten Fragen
Ungeachtet der Medienzensur, die ein bis heute unbekanntes Ausmaß angenommen hat und dazu führt, dass in Serbien so gut wie gar nicht über die hiesigen Proteste berichtet wird, nimmt die Wut der herabgewürdigten und entrechteten Bürgerinnen und Bürger Serbiens kein Ende. Neben Belgrad, wo sich seit Tagen mehrere zehntausend Menschen zu Protesten zusammenfinden, gibt es weitere Demonstrationen in größeren Städten Serbiens: in Niš, Novi Sad, Sombor, Kragujevac und vielen mehr.
Was war der Auslöser der Proteste?
Ausgangspunkt der Demonstrationen war der illegitime Sieg von Aleksander Vučić bei der Präsidentschaftswahl, zu der er kandidierte, obwohl er bereits Premierminister war. Alle Medien und staatlichen Einrichtungen waren angehalten den Sieg des Kandidaten der regierenden Koalition abzusichern. Trotzdem war die Wahlbeteiligung um einige Prozentpunkte niedriger als bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012. Der gesamte Wahlprozess wurde begleitet durch Medienmanipulationen und die Erniedrigung aller Oppositionskandidaten. Der »Kauf« von Stimmen nahm in ungeahntem Ausmaß zu, besonders im öffentlichen Sektor.
Wer protestiert in Serbien?
Auch wenn faschistische Organisationen und regierungstreue Politiker versuchten die Führung der Proteste zu übernehmen, bleibt der Charakter der Versammlungen spontan. Alles begann mit einem Facebookevent. Unter den Demonstrierenden sind vor allem junge Menschen – Schülerinnen, Schüler und Studierende. Diesen schlossen sich später Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeiterinnen und Arbeiter an.
Welche Ziele haben die Demonstrierenden?
Inzwischen wird immer klarer, dass die Forderungen der Demonstrierenden nicht bei Neuwahlen oder einer Wiederherstellung des Vertrauens in das Wahlsystem halt machen. Neben dem Demoslogan »Vučić du Dieb, du hast die Wahlen gestohlen« ist immer häufiger zu hören »Vučić du Dieb, du hast die Renten gestohlen« – womit die Aufmerksamkeit auf das Hauptmerkmal von Vučićs Regierungszeit gelenkt wird – der Reduzierung der Renten und Gehälter im öffentlichen Dienst.
Welche Rolle spielt die Arbeiterklasse?
Im Verlaufe der Demonstrationen solidarisierte man sich auch mit Arbeiterinnen und Arbeitern, so dass die Proteste in Zukunft gemeinsam mit Streikenden abgehalten werden sollen. Es wurden bereits Streiks der Polizei- und Lehrergewerkschaft angekündigt. In Kragujevac schlossen sich Streikende den Protesten an, die gegen den 12 Stunden Arbeitstag kämpfen und die Arbeiterinnen und Arbeiter des Unternehmens Goša traten in einen unbefristeten Streik, nachdem einer von ihnen, der jahrelang kein Lohn erhalten hatte, Selbstmord beging.
Serbien hat seit langem nicht so viel Kampfgeist und Begeisterung erlebt, wie bei diesen Protesten. Deswegen ist es der ideale Zeitpunkt für die serbische Linke als Aktionseinheit aufzutreten, um sich als relevante politische Kraft zu etablieren.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Die Freiheitsliebe
Foto: Marks21
Schlagwörter: Belgrad, Massenbewegung, Protest, Serbien, Streik