Streiks und Proteste in Frankreich halten an. Angesichts einer unentschlossenen Gewerkschaftsführung wirft John Mullen einen Blick auf die linken Organisationen und ihre Strategien.
Am Donnerstag, dem 6. April, gingen erneut Millionen gegen die Präsident Macron und zur Verteidigung der Renten auf die Straße. Die Demonstrant:innen trotzen damit der Repression durch die Polizei und der Weigerung der nationalen Gewerkschaftsführungen, einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren und die radikaleren Teile der Arbeiter:innenbewegung zu unterstützen. Während Arbeiter:innen die Öldepots blockieren, versucht die Regierung mithilfe der Bereitschaftspolizei, die Arbeiter:innen zur Arbeit zu zwingen.
Weiterhin Millionen auf den Straßen
Der Aktionstag am Donnerstag zog insgesamt weniger Demonstrant:innen an. Trotzdem nahmen immer noch Millionen an 370 Demonstrationen in ganz Frankreich teil. Die Arbeitgebervertreter beklagten diese Woche, dass jeder Aktionstag »anderthalb Milliarden Euro« koste. In Italien und in Belgien gab es Solidaritätsstreiks. Hunderte von Gymnasien und Dutzende von Universitäten werden regelmäßig blockiert, und die Slogans sind radikaler als zuvor. Am Donnerstag skandierten hunderte Jugendliche in Paris »Wir sind jung, wütend und revolutionär«. In einem verbarrikadierten Gymnasium im Zentrum Frankreichs erklang der Ruf »Nieder mit dem Staat, den Bullen und den Faschisten!«. Letzte Woche forderte die norwegische Popsängerin »Girl in Red« ihr Konzertpublikum in Paris dazu auf, ihr etwas Französisch beizubringen. Der Saal antwortete mit Sprechchören: »Macron, démission!« – « Macron, tritt zurück«.
Die Streiks in der Ölindustrie, im Luftverkehr, in den Häfen und im Energiesektor dauern an, auch wenn die Müllabfuhr und mehrere wichtige Bahndepots die Streiks nach drei oder vier Wochen ausgesetzt haben. Jeden Tag gibt es lokale Demonstrationen und Blockaden von Autobahnen und Großhandelszentren. Vor ein paar Tagen diskutierten über tausend Studenten an der Universität Tolbiac in Paris über das weitere Vorgehen.
Der Konflikt mit Macron befindet sich auf einem Hoch. Keine der beiden Seiten ist dazu bereit, nachzugeben. Zwar wächst die Bewegung aktuell nicht weiter, aber sie bricht auch nicht zusammen. Wenn die Revolte weitergeht, sollten wir über eine politische Strategie nachdenken. Wie verhalten sich die linken Organisationen in Frankreich angesichts dieser großen und sehr populären Revolte und einer nationalen Gewerkschaftsführung, deren Strategie nicht dazu in der Lage ist, diese Auseinandersetzung zu gewinnen?
Linke Organisationen auf dem Prüfstand
Ein sozialer Aufruhr ist immer ein Test für jede linke Organisation. In diesem Artikel werfe ich einen kurzen Blick auf die verschiedenen Flügel der französischen Linken in der aktuellen Situation. Das ist ein heikles Unterfangen. Viele Tausende von Aktivist:innen innerhalb und außerhalb der linken Parteien leisten hervorragende Arbeit. Sie organisieren Streiks und Proteste, gehen zu Fraktionssitzungen, verteilen Flugblätter und unterstützen die Proteste auf kreative Weise. Die meisten von ihnen haben mehr unternommen als ich. Ich möchte also nicht als roter Professor daherkommen, der Noten an die Aktivist:innen verteilt. Aber, wenn wir diesen und viele weitere Kämpfe gewinnen wollen, wenn wir uns verteidigen und schließlich den Kapitalismus loswerden wollen, dann müssen wir die verschiedenen Strategien verstehen und offen kritisieren.
Die heutige politische Landschaft in Frankreich ist geprägt von Jahrzehnten neoliberaler Politik und sozialen Kämpfen dagegen. In den Jahren 1995, 2006 und 2019 gelang es großen Streikbewegungen, Angriffe auf die Renten und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten abzuwehren. In den Jahren 2003, 2010 und 2016 gelang es der Regierung, Gesetze zur Kürzung der Renten und zur Aufweichung des Kündigungsschutzes auch gegen breiten sozialen Protests durchzusetzen.
Hier gibt es zwei wichtige Punkte. Erstens waren alle diese Kämpfe, wie auch der aktuelle Kampf, defensive Kämpfe. Wir versuchten die Neoliberalen davon abzuhalten, uns etwas wegzunehmen. Diese Kämpfe waren inspirierend, aber sie waren dennoch defensiv. Zweitens setzen diese Kämpfe ein hohes Maß an politischem Klassenbewusstsein voraus. Als die Regierung 2006 mit schlechteren Arbeitsverträgen für Arbeiter:innen unter 26 Jahren drohte, protestierten und streikten Millionen von älteren Arbeiter:innen. Aktuell beteiligen sich Millionen von Arbeiter:innen, die vom aktuellen Angriff Macrons auf die Renten nicht persönlich betroffen sind, mit Begeisterung an der Bewegung. Das Bewusstsein dafür, dass »ein Angriff auf einen Einzelnen, ein Angriff auf uns alle ist«, und dass unsere Gegner, wenn sie diese Auseinandersetzung gewinnen, beim nächsten Mal umso stärker sein werden, ist sehr weit verbreitet.
Schließlich müssen wir verstehen, dass selbst wenn die Bewegungen mit ihren Abwehrkämpfen nicht erfolgreich waren, die Regierung im Allgmeinen gezwungen wurde, eine ganze Reihe anderer Angriffe auszusetzen. In diesem Monat wurden ein rassistisches Einwanderungsgesetz auf Eis gelegt und der Plan zur Wiedereinführung eines zweiwöchigen nationalen Wehrdienstes für alle jungen Menschen ausgesetzt.
Niedergang der Sozialistischen Partei
Dieser energische Klassenkampf hat die heutige politische Landschaft geprägt. Die sozialistische Partei wurde an den Wahlurnen demontiert, nachdem sie 2016 neue Arbeitsgesetze eingeführt hatte, welche die nationale Vereinbarungen mit den Gewerkschaften übergingen und die Bezahlung von Überstunden reduzierten. Bei den Wahlen 2022 erzielte die Partei 32 Sitze im Parlament – zehnmal weniger als 2012!
Millionen Menschen, die sich an den erwähnten Massenbewegungen beteiligten, suchten nach einem politischen Ausdruck für ihren Widerstand gegen den Neoliberalismus. Zu Marxist:innen wurden sie allerdings nicht. Einerseits ist der Marxismus in den Köpfen immer noch sehr stark mit dem Stalinismus und dem sowjetischen Imperialismus verbunden, andererseits waren die marxistischen Organisationen nicht groß oder intelligent genug, um viele Menschen an sich zu binden.
Die Menschen suchten nach einer linksradikalen, aufständischen Option. Das ermöglichte die France Insoumise. Man stelle sich vor, Jeremy Corbyn hätte die Labour-Partei verlassen, eine radikale linke Alternative aufgebaut und dann sieben Millionen Stimmen gewonnen. In etwa das ist die France Insoumise.
Aktuell ruft France Insoumise zu einer »Bürger:innenrevolution« auf, die die präsidiale Fünfte Republik beseitigen und eine Sechste Republik an ihre Stelle setzen soll. Dabei vertritt sie ein sehr radikales Programm: Rente mit 60, Umstellung auf 100 % erneuerbare Energien, 100 % biologische Landwirtschaft, eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, eine Milliarde Euro für Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und viele mehr.
Stärken und Schwächen der France Insoumise
Die FI-Bewegung und ihre 74 Abgeordneten haben bisher eine positive Rolle bei der derzeitigen Revolte gespielt. Als Premierministerin Borne ankündigte, dass der Angriff auf die Renten per Dekret durchgesetzt werden würde, hielten die FI-Abgeordneten Schilder in die Kameras die verkündeten: »Wir sehen uns auf der Straße!«. Als die nationalen Gewerkschaftsführer zehn lange Tage brauchten um einen weiteren Aktionstag einzuberufen, rief die FI zu Kundgebungen vor allen regionalen Regierungssitzen auf. Die Streikkasse der FI hat 900 000 Euro gesammelt. Und diese Woche steht FI-Chef Melenchon wegen »Beleidigung der Polizei« vor Gericht. Er hatte gefordert, dass eine besonders gewalttätige Polizeieinheit aufgelöst und die »jungen Männer in psychologische Behandlung« geschickt werden sollten. Normale Leute stiegen schließlich nicht freiwillig auf Motorräder und schlügen vorbeikommende Leute mit Schlagstöcken. Diese wenigen symbolischen Beispiele zeigen die Radikalität der FI.
Wenig überraschend hat Macron eine große Kampagne gegen die France Insoumise gestartet. Er wirft der FI vor, »die Institutionen delegitimieren zu wollen«. Auch Innenminister Gérard Darmanin prangert den »intellektuellen Terrorismus« der radikalen Linken an. Die gesamte Linke muss dazu bereit sein, die FI gegen die Angriffe der Rechten zu verteidigen, ganz gleich, welche anderen Meinungsverschiedenheiten es gibt.
Ohne Schwächen ist der Ansatz der FI allerdings nicht. In vielerlei Hinsicht ist sie eine traditionelle reformistische Organisation, die das Parlament im Zentrum ihrer mittelfristigen Strategie sieht. Auch akzeptiert sie eine „Arbeitsteilung“ mit den Gewerkschaftsführungen und hält sich aus den Strategie-Debatten der Gewerkschaften heraus. Wenn die Strategie der Gewerkschaftsführung so absolut unzureichend ist, wie aktuell, ist dieser Ansatz katastrophal. Hinzu kommt, dass Teile der FI-Führung darauf bedacht sind, die aktuelle Auseinandersetzung zu gewinnen und „zur politischen Normalität“ zurückzukehren. Wir Marxist:innen hingegen hoffen, dass wir in diesem Kampf ein Bewusstsein und eine Organisation aufbauen können, die unsere Klasse in die Lage versetzt, eben nicht zur »politischen Normalität« zurückzukehren, sondern herauszufinden, wie der Kapitalismus gestürzt werden kann.
Der Aufstieg der France Insoumise hat die Kommunistische Partei Frankreichs an den Rand gedrängt. Sie hat noch 50 000 Mitglieder, von denen fast ein Drittel gewählte Kommunal- oder Regionalräte sind. Unter ihrem Vorsitzenden Fabien Roussel versucht sie, einen Platz deutlich rechts der France Insoumise zu besetzen. Ziel ist es einen Teil der ehemaligen Wähler:innen der sozialistischen Partei oder sogar einen Teil der rechtsextremen Wähler:innen zu gewinnen. Roussel zeigt das durch seine Unterstützzung für die Kernenergie, seine Teilnahme an Kundgebungen der rechtsextremen Polizeigewerkschaften und dadurch, dass er gerade jetzt der Kampagne für ein Referendum über das Rentengesetz Priorität einräumt.
Der Ansatz der revolutionären Linken
Was ist nun mit der revolutionären Linken? In Frankreich gibt es drei revolutionäre Organisationen mit jeweils einigen tausend Mitgliedern, eine Organisation mit etwa tausend Mitgliedern und vier weitere mit jeweils einigen hundert Mitgliedern. Eine oder zwei dieser Organisationen arbeiten innerhalb von France Insoumise. Einige der radikalsten Aktionen, wie die Teilnahme von Student:innen an den Streikposten der Ölraffinerien oder die Organisation regelmäßiger gewerkschaftsübergreifender Treffen, wurden von Revolutionär:innen initiiert. Auch die wichtigste Frage, nämlich wie wir von einer starken Defensivbewegung zu einer Offensive gegen Neoliberalismus und Kapitalismus übergehen können, werden von Marxist:innen gestellt.
Aber auch hier gibt es einen entscheidenden Mangel. Es gibt keine Organisation, die in jeder Stadt öffentliche Versammlungen mit dem Titel »Generalstreik: Warum und wie?« organisiert. Es gibt keine Organisation, die vor den regulären Versammlungen der nationalen Gewerkschaftsführungen Kundgebungen abhält, um sie zu einem echten Generalstreik zu drängen. Die meisten Revolutionär:innen versuchen, »die Bewegung so weit wie möglich voranzutreiben«. Das ist natürlich wichtig, überlässt aber die allgemeine Strategie den Gewerkschaftsführungen. Eine klare Analyse der Rolle der Gewerkschaftsbürokratie als professionelle Verhandlungsführer:innen mit spezifischen Interessen fehlt im Allgemeinen.
Der nächste Aktionstag findet am 13. April statt. Die Schwäche des wöchentlichen Aktionstages als einzige nationale Strategie wird allerdings immer deutlicher. Weniger kämpferische Organisationen fordern bereits eine monatelange Kampagne für ein Referendum zu führen. Was wir aber brauchen, ist ein unbefristeter Generalstreik.
John Mullen ist ein revolutionärer Sozialist, der in der Region Paris lebt und die France Insoumise unterstützt. Seine Website lautet randombolshevik.org
Bildquelle: John Mullen
Schlagwörter: Frankreich, Gewerkschaften, Linke, Streik