Ende Februar fand in Caracas eine internationale Versammlung sozialer Bewegungen statt. Zwei Teilnehmerinnen aus Deutschland über die Lage in Venezuela und die Verantwortung der Linken
marx21: Kaum ein Bericht über Venezuela kommt ohne Verweis auf Mangelernährung aus. Wie schlimm ist der Hunger in Venezuela?
Tini und Sophie: Bei einem Besuch im Supermarkt ist uns sofort aufgefallen, dass man sehr einfach zwei komplett gegensätzliche Bilder zeigen könnte: Einige Regale waren prall gefüllt, andere komplett leer. Die Menschen haben uns erzählt, dass ihnen viel zugemutet wird: Lebensmittelpreise schwanken täglich, Milch und Hygieneprodukte sind teuer oder nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich.Vor allem Frauen sind betroffen: Tampons, Binden und Kondome sind zum Beispiel so gut wie nicht erhältlich.
Doch viele haben immer wieder betont, dass man nicht an Hunger stürbe. Zudem gibt es das staatliche Programm »Clap«, mit dem Grundnahrungsmittel an mehrere Millionen Menschen verteilt werden. Auf dem Land funktioniert die Eigenversorgung über die kleinbäuerliche Produktion ohnehin besser als in der Stadt.
Uns ist aufgefallen, dass die Straßen von Caracas erstaunlich normal wirken: Es gibt Marktstände und Kioske, die gut besucht sind, aber vor denen gleichzeitig keine Schlangen stehen. Anders sieht es bei der medizinischen Versorgung aus: Es mangelt an einfachen Medikamenten, weshalb Menschen an behandelbaren Krankheiten sterben würden.
Wer ist schuld an der schlechten Versorgungslage?
Die Leute, mit denen wir gesprochen haben, sagen ganz klar: Diejenigen, die jetzt unter dem Deckmantel der humanitären Krise die Regierung stürzen wollen, seien selbst Teil des Problems. Schuld an der aktuellen Situation seien die jahrelangen Handelsblockaden und Sanktionen, die bereits im Vorfeld das Land ausbluten und den Rückhalt für die bolivarische Regierung brechen sollten. Das hat offensichtlich nicht geklappt, denn der Großteil der Bevölkerung steht auch weiterhin hinter dem bolivarischen Prozess.
Die aktuelle Beschlagnahmung der Devisen des venezolanischen Staates auf ausländischen Konten spitzt die Lage weiter zu. Nachdem der direkte Putsch mit Guaidó als Statthalter der USA nicht gelungen ist, wird das Land nun erst recht ausgeblutet und auf Zeit gespielt.
Kritik an Nicolás Maduro
Viele, mit den wir gesprochen haben, haben allerdings auch Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro geäußert. Er ist weitaus unbeliebter als der Comandate Supremo Hugo Chávez, der eine Art Heiligenfigur im Stadtbild und bei politischen Versammlungen darstellt. Niemand negiert die internen Probleme, darunter das extraktivistische und rentenbasierte Wirtschaftsmodell, den Staatsklientelismus, die Korruption und Bürokratie. Diese internen, tief verwurzelten Probleme seien auch nach 20 Jahren Chavismus nicht beseitigt und hätten sich unter der jetzigen Regierung wieder vertieft.
Auch mit sich selbst sind die sozialen Akteure kritisch. Einige haben gesagt, es sei ein Versagen der Bewegung, wenn sich einige vom Chavismus abwenden, denn man habe die Menschen in den kommunalen Räten und Comunas nicht genügend eingebunden. Doch gerade jetzt dürfe man nicht aufgeben.
Die kommunalen Räte und Comunas sind Organe der Selbstverwaltung. Was verwalten sie und wie funktioniert das grundsätzlich?
Seit 2006 sind die kommunalen Räte in Venezuela in der Verfassung verankert, aktuell gibt es offiziell 47.866 registrierte »consejos comunales«. Diese werden in den Gemeinden gewählt und kommen als Sprecherinnen oder Sprecher ihrer jeweiligen Themengebiete in den »comunas« zusammen. Die Räte haben die Aufgabe, nachbarschaftliche Arbeiten zu koordinieren und Lösungen für lokale Probleme herbeizuführen. Für lokalpolitische Anliegen stehen ihnen staatliche Gelder zur Verfügung.
So hat beispielsweise die Einwohnerschaft der selbstverwalteten Siedlung Kaika Shi ihre Wohnsiedlung selbst gebaut: Die finanziellen Mittel stellte der Staat, die Planung und letztendliche Umsetzung des Wohnprojekts lag in der Hand der zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner. Was als illegale Landbesetzung anfing, ist heute ein Wohn- und Lebensraum für 92 Familien. Außerdem finden in den Gemeinschaftsräumen von Kaika Shi Treffen der insgesamt 150 kommunalen Räte des gesamten Stadtviertels La Vega statt. Bei unserem Besuch haben wir beispielsweise die Räte für Gesundheit, Bildung, Kinder- und Jugendarbeit und ihre Projekte kennengelernt.
Und wie funktioniert das noch unter den Bedingungen der Krise?
Pauschal können wir das natürlich nicht beantworten, aber in Kaika Shi haben uns die Menschen gesagt:
»Früher haben wir einfach konsumiert und für alles bezahlt, da ja alles verfügbar war. Die wirtschaftlichen Sanktionen haben uns gezwungen, altes Wissen wieder zu erlernen. So bauen wir unser Gemüse jetzt selbst an, anstatt im Supermarkt dafür anzustehen und wegen des Medikamentenmangels nutzen wir lang vergessene Heilpflanzen.«
Selbstverwaltung in Venezuela
In Kaika Shi haben uns die Räte ihre eindrucksvollen Projekte vorgestellt: Workshops zum Recyceln von Kleidung, Werkstätten für arbeitslose Jugendliche sowie Musikunterricht für die Kinder des Viertels. Da Industrieprodukte häufig sehr teuer sind, gibt es auch Workshops zur Herstellung von Nudeln, Mayonnaise, Butter oder Windeln.
Natürlich seien diese Arbeiten auch oft mühsam. Doch gleichzeitig befeuern die kollektiven Arbeiten auch das Gemeinschaftsgefühl – ein unbezahlbarer Effekt, der die Menschen nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch in ihrem politischen Kampf für ein besseres Leben stärkt.
Auch aus anderen Comunas haben wir von solch einer Willensstärke gehört, sich trotz des Konflikts auf der internationalen politischen Bühne nicht einschüchtern zu lassen und gerade jetzt die Basis und Selbstverwaltung zu stärken. Denn: »Das sozialistische Projekt ist ein Prozess und wir sind noch nicht fertig!«
Der nächste Punkt, der gegen Maduro ins Feld geführt wird, ist die Auswanderung. Gibt es eine Massenflucht aus Venezuela?
Klar gibt es viele, die aus der Not woanders eine bessere medizinische Versorgung suchen oder einfach nur dem Wohlstandsversprechen folgen, und beispielsweise nach Kolumbien und Chile gehen – häufig nur, um dort Armut und Rassismus zu erfahren. Natürlich ist es schlimm, wenn Menschen aufgrund fehlender Lebensgrundlagen ihre Heimat verlassen müssen. Viele Chavistas haben uns gesagt, dass zumeist die privilegierte Mittelschicht ihre Kontakte ins Ausland nutzt und auswandert. Solch eine Relativierung finden wir falsch.
Doch vergessen wir nicht: Auch ohne äußeren Druck durch Blockaden ist im Nachbarland Kolumbien etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausgewandert. Dass die deutschen Medien und Politik auf einmal ihr Herz für Flucht und Migration entdecken, aber sich beispielsweise nicht für die Massenflucht aus Kolumbien aufgrund der Jahrzehnte anhaltenden Menschenrechtsverbrechen, in die der Staat tief verstrickt ist, interessiert, zeigt doch die Doppelmoral und politische Agenda dahinter.
Wie ergeht es den Venezolanerinnen und Venezolanern in Kolumbien?
Wir haben zum Beispiel ein junges Studi-Pärchen getroffen, das nach einem Jahr Kolumbien wieder nach Venezuela zurückgekehrt war. Zwar hätten sie in Kolumbien etwas mehr verdient als in Venezuela, doch unterm Strich hätten sie wegen der viel höheren Lebenshaltungskosten weniger Geld gehabt. Neben der vielen Arbeit zur Erhaltung der Lebenskosten hätten sie nebenbei nicht mehr studieren können. Daher seien sie zurückgekehrt, denn anders als in Kolumbien sei in Venezuela vieles umsonst, beispielsweise die U-Bahn.
Wie sehr beeinflusst der anhaltende Konflikt zwischen Guaidó und Maduro das Alltagsleben?
Die Straßen in Caracas waren erstaunlich ruhig, die Menschen schlenderten, kauften ein, saßen auf den Plätzen. Uns überraschte, wie wenig präsent das Militär trotz der akuten Bedrohungslage war. Ein entspannender Effekt der Krise: Der Autoverkehr sei weniger geworden, seit man kaum noch Ersatzteile bekomme.
Von einer politischen Polarisierung war nicht viel zu spüren. Die Hauptstadt ist traditionell Chavista und die Straßenzüge waren geprägt von unzähligen – wahrscheinlich staatlich beauftragten – Chávez- und Maduro-Graffitis. Maduro-kritische Tags haben wir nur eine Handvoll gesehen. Guaidó war hingegen überhaupt nicht sichtbar.
Gehen die Menschen zur Arbeit?
Ha! Danke für die Frage! Natürlich gehen die Menschen zur Arbeit. Das Leben geht weiter. Doch die Tatsache, dass wir uns das aus deutscher Perspektive gar nicht mehr vorstellen können, zeigt, was für ein verblendetes Bild in den deutschen und europäischen Medien gezeichnet wird.
Ihr habt eben von Korruption gesprochen. Ist sie die Ursache der Krise?
Korruption gibt es in vielen Ländern und führt zwar zu extremer Ungleichheit, aber nicht zur Versorgungskrise. Die ist im Fall von Venezuela vielmehr bedingt durch zwei Faktoren. Erstens, das extraktivistische und rentenbasierte Wirtschaftsmodell: Wie allgemein bekannt ist, exportiert Venezuela hauptsächlich Erdöl und ist stark von ausländischen Devisen und Importen anhängig.
Zweitens, die ausländischen Sanktionen, die aufgrund dieser Abhängigkeit besonders folgenreich sind. Das heißt: Die USA und Co. führen eine Versorgungskrise durch Handelsembargos und Devisenbeschlagnahmung herbei, um dann unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe einen Putsch herbeizuführen. Ohne die Sanktionen könnte der venezolanische Staat mit seinen Devisen die notwendigen Güter selbst importieren.
Ist der Sozialismus in Venezuela die Ursache der Krise?
Nein. Natürlich nicht. Ursache der Krise ist in erster Linie die imperialistische Politik der USA, der keine alternativen, sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle zulässt, insbesondere nicht in ihren rohstoffreichen Hinterhöfen. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern hat, wie wir wissen, auf dem Kontinent eine lange und blutige Geschichte. Die EU steht dabei unterstützend zur Seite.
Dennoch muss auch Selbstkritik geübt werden. Denn auch 20 Jahre Chavismo haben es bisher nicht geschafft, das extraktivistische und rentenbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas und die daraus resultierenden Abhängigkeiten, Korruption und internen staatsklientelistischen Strukturen aufzulösen. Die weltweite Linke muss sich daher auch weiterhin mit der »Kuba-Frage« auseinandersetzen: Wie kann Sozialismus in einem Land unter einer kapitalistischen Weltordnung gelingen? Vor allem dann, wenn es, wie die meisten Länder im Globalen Süden, in neokoloniale, rohstoffbasierte Wirtschaftsmodelle eingebunden ist?
Inwiefern fordert das venezolanische Modell den westlichen Imperialismus heraus?
Natürlich widerspricht der Aufbau eines sozialistischen Projektes sowohl ideologisch als auch realpolitisch den Interessen der bürgerlich-kapitalistischen Hegemonie. Wäre Venezuela ein kleines, rohstoffarmes Land ohne geostrategisches Interesse für die USA oder auch andere imperialistische Mächte wie die EU, Russland oder China, würde diesem Projekt und den inneren Prozessen im Land vielleicht gar nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt werden. Doch erstens wissen wir um Venezuelas Reichtum an natürlichen Ressourcen, vor allem Erdöl, aber auch Gold, Coltan, Eisen, Bauxit und Diamanten. Die Verstaatlichung der Erdölindustrie und anderer natürlicher Ressourcen unter der bolivarischen Verfassung fordert direkt die Raubbaupolitik westlicher Staaten für die Profite ihrer multinationalen Konzerne heraus.
Rechte Regierungen in Lateinamerika
Zweitens geht es auch um eine politische und ideologische Hegemonie auf dem Kontinent. Die USA begreifen den lateinamerikanischen Kontinent traditionell als ihren Hinterhof. Im 20. Jahrhundert haben sie reihenweise Militärdikaturen an die Macht geputscht, um eine erste Welle sozialistischer Regierungsprojekte, damals noch im Kontext des Kalten Krieges, zu ersticken. Als würde sich die Geschichte wiederholen, scheinen wir nun Ähnliches zu erleben: mit Macri in Argentinien, Bolsonaro in Brasilien – und Guaidó in Venezuela?
Venezuela spielt für linke Alternativen auf dem lateinamerikanischen Kontinent eine zentrale Rolle. So war auch der Versuch von Chávez, mit dem Alba-Netzwerk ein kontinentales Staatenbündnis ohne Nordamerika aufzubauen, ein direktes Gegenprojekt zu den von den USA forcierten neoliberalen Ausbeutungsverträgen. Wenn Venezuela fällt, sieht es für linke und sozialdemokratische Regierungen finster aus und wir können uns womöglich auf Jahre bis Jahrzehnte neoliberale und extrem rechte Regierungen im ganzen Kontinent einstellen, in denen Aktivistinnen und Aktivisten wie in Brasilien und Kolumbien kriminalisiert und ermordet werden.
Wie könnte die Versorgungskrise gelöst werden?
Ganz einfach: Durch ein Ende der Sanktionen und volle Souveränität der Regierung, damit der venezolanische Staat mit seinen ausländischen Geldern eigenmächtig die benötigten Lebensmittel importieren kann. Da eine baldige Aufhebung der Sanktionen unrealistisch ist, außer wir stürzen die Regierungen der USA und Deutschlands, sollten Hilfsgüter ausschließlich über internationale Akteure, wie beispielsweise die Uno, geliefert werden. Diese Lösung hat auch die venezolanische Regierung begrüßt.
Die für eine emanzipatorische Linke weitaus problematischere Lösung wäre eine Vertiefung der bereits begonnenen Deals mit Erdogan und Putin. Aus einer national-kapitalistischen Sicht bleiben Maduro angesichts der wirtschaftlichen Erpressung kaum andere Wege übrig als mit all jenen Staaten zu kooperieren, die noch bereit dafür sind. Für eine emanzipatorische Linke sind solche Allianzen, die beispielsweise den Kampf der kurdischen Genossinnen und Genossen gegen den Diktator Erdogan verraten, strikt abzulehnen. Der Kampf gegen Faschismus und für Befreiung ist international und kann nicht für nationale Interessen geopfert werden. Um darauf aufmerksam zu machen, ist der Druck von unten aus den sozialen Bewegungen in Venezuela und weltweit umso nötiger.
Ist Maduro ein Diktator?
Aus den Präsidentschaftswahlen ist Maduro als legitimer Präsident hervorgegangen. Ja, er ist weniger beliebt als sein Vorgänger Chávez. Auch wurde unter Maduro die betriebliche und kommunale Selbstverwaltung nicht mehr so aktiv gefördert wie unter Chávez. Nichtsdestotrotz bestehen diese dezentralen Strukturen der Macht von unten weiterhin und ihre Wirkung ist nicht zu unterschätzen: Noch nie zuvor haben wir erlebt, dass beispielsweise auf Kiezversammlungen wirklich alle Teilnehmenden aus dem Stegreif eine starke politische Rede schwingen und ihre durchaus auch kritische Meinung mit Inbrunst vertreten. Wer solche selbstermächtigenden Strukturen und Umverteilung der Macht zulässt, ist kein Diktator.
Maduro wird vorgeworfen, die Demokratie abgeschafft zu haben.
Er hat keineswegs die Demokratie abgeschafft. Vielmehr ist Venezuela aufgrund der Festschreibung plebiszitärer Elemente in der bolivarischen Verfassung eines der Länder mit den weltweit tiefsten Wahlprozessen. Zudem finden die Präsidentschaftswahlen immer unter internationaler Beobachtung statt. So auch die letzte Wahl im Mai 2018. Es konnten keine Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. Es ist also vielmehr die Nicht-Anerkennung Maduros durch die Opposition und Länder wie die USA, die illegitim ist. Sogenannte westliche Demokratien, wie beispielsweise Deutschland, in denen man alle paar Jahre an die Wahlurne darf und ansonsten kaum direkt demokratische Elemente bestehen, sind alles andere als Vorbilder.
Ist Guaidó durch die Parlamentswahl demokratisch legitimiert?
Er ist demokratisch legitimiert als Präsident der Nationalversammlung, zu dem er am 5. Januar, erst kurz vor seiner Selbsternennung zum Interimspräsidenten, gewählt wurde. Bei ihrem Putsch beziehen sich Guaidó und die Opposition auf Artikel 233 der bolivarischen Verfassung. Demnach übernimmt der Vorsitzende der Nationalversammlung vorübergehend das Amt des Staatschefs, sofern es keinen rechtmäßigen Präsidenten gibt. Das sei laut Opposition der Fall, da sie die Wahl Maduros zum Präsidenten im Mai 2018 nie anerkannt hat.
Die Selbsternennung Guaidós ist eindeutig abzulehnen. Sie ist ein Putsch unter rechtlichem Deckmantel. Ob man Maduro nun mag oder nicht: Die Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 liefen ohne Irregularitäten ab. Maduro ist der legitime, durch die Menschen Venezuelas gewählte Präsident.
Guaidós Selbsternennung ist abzulehnen
Guaidós Anerkennung ist ungefähr so, als wenn die Bundesregierung Trump als US-Präsidenten nicht anerkennen und Neuwahlen fordern würde, weil er in der internationalen Staatengemeinschaft Chaos auslöst. Nur, dass dies unter imperialistischen Supermächten natürlich nicht passiert – im Gegensatz zu schwachen Staaten im Globalen Süden, die die Alternativlosigkeit des globalen Kapitalismus herausfordern.
Die Nicht-Anerkennung Maduros durch die Opposition und Staaten wie die USA und Deutschland sind rein politisch. Und hier sollte Druck aus der deutschen Linken gegen die Bundesregierung gemacht werden. Dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestages die Anerkennung Guaidós als wahrscheinlich völkerrechtswidrig erklärt hat ist ein erster wichtiger Schritt, den die deutsche Linke aufgreifen muss.
Stehen die Venezolanerinnen und Venezolaner hinter Guaidó?
Guaidó war bis zur Selbsternennung als Interimspräsident weitestgehend unbekannt. Er vertritt eine wohlhabende Elite und steht für das Gegenteil dessen, was Chávez aufgebaut hat: Zugang zu Bildung, kostenloser Nahverkehr, sozialer Wohnungsbau, Lebensmittelpakete – damit wäre es wohl unter Guaidó vorbei. Das sagen auch viele Menschen, die der Maduro-Regierung sehr kritisch gegenüberstehen: Wer für soziale Verbesserungen und Umverteilung ist, kann nicht für Guaidó sein. Es gibt also auch eine kritische Auseinandersetzung der Basis mit der Regierung. Doch angesichts der konkreten Bedrohung durch eine US-Intervention müsse man jetzt die Regierung verteidigen. Alles andere würde den Rechten in die Hände spielen und den Spielraum für Veränderung durch die sozialen Bewegungen nur noch verkleinern.
Ist Guaidós Forderung nach Neuwahlen richtig?
Von den verschiedenen Basisaktivistinnen und -aktivisten, die wir getroffen haben, hat sich niemand für Neuwahlen ausgesprochen. Es heißt, Venezuela habe in den letzten Jahren so viele Wahlen abgehalten und sei eines der Länder mit den meisten Wahlen weltweit.
Ihre Ablehnung von Neuwahlen ist nachvollziehbar: In der aktuellen zugespitzten Situation kann es keine vermeintlich neutrale Position, keinen dritten Weg zwischen Maduro und Guaidó geben. Wer jetzt beispielsweise Neuwahlen fordert, so wie auch einige Linke in Deutschland, der spielt der rechten Opposition und ausländischen Erpressung in die Hände. Wenn schon der direkte Putsch der von den USA eingesetzten venezolanischen Rechten nicht geklappt hat, dann soll die Maduro-Regierung eben durch extern aufgezwungene Neuwahlen abgeräumt werden. Außerdem: Von außen aufgezwungene Neuwahlen im Schatten einer drohenden Militärintervention wären ja wohl kaum frei und unabhängig. Und man muss dazu wissen, dass die politischen Lager im Land polarisiert sind zwischen der bolivarischen Regierung und einer stets rechten Opposition; so etwas wie ein linkes Oppositionslager gibt es nicht.
Wie verhalten sich die Aktivistinnen und Aktivisten, mit denen ihr gesprochen habt, in dem Konflikt zwischen Guaidó und Maduro?
Alle, die wir getroffen haben, beziehen sich grundsätzlich positiv auf die Handlungsspielräume, die unter Chávez an der Basis ermöglicht wurden: Sei es kommunale oder betriebliche Partizipation und Selbstverwaltung, Frauenrechte, Bildung, Gesundheit, Lebensmittelverteilung… Um diese Macht von unten zu erhalten und zu erweitern, gilt es in der aktuellen Situation zunächst die Maduro-Regierung zu erhalten, denn von Guaidó und der Opposition ist keine Ausweitung, sondern vielmehr eine Einschränkung der in den letzten zwei Jahrzehnten eröffneten Freiräume zu erwarten.
Mitbestimmung und Selbstverwaltung aufzubauen braucht Zeit und ist unter einem drohenden Krieg oder einer rechten Regierung kaum möglich. Daher lehnen die Aktivistinnen und Aktivisten beides klar ab – und betonen, dass nur sie selbst durch die Erweiterung der Macht von unten gesellschaftliche Veränderungen bewirken und die Regierung im Sinne eines sozialistischen Prozesses vor sich hertreiben können.
Was erwarten sie von ihren Unterstützerinnen und Unterstützern im Ausland?
Ob auf dem Markt oder in den selbstverwalteten Kiezhäusern: Viele Menschen haben uns gebeten, unsere Eindrücke über die Normalität des venezolanischen Alltags in die europäische Öffentlichkeit zu tragen. Sie haben auf Eisdielen, Bars, Schach spielende Alte und herumtobende Kinder gezeigt und gesagt: »Guckt mal, das Leben geht weiter hier« und »Seht ihr, es gibt genug zu essen hier.« Die Skandalbilder der westlichen Medien zeichnen hingehen das Bild eines Ausnahmezustands. Das ist eine politische Berichterstattung, die an der Realität vorbei geht, die dem rechten Putsch in die Hände spielt, und der es etwas entgegenzusetzen gilt.
Der Konflikt zwischen Maduro und Guaidó wird vor allem auf internationaler Ebene ausgetragen. Deutschland und das Europäische Parlament haben Guaidó als legitimen Präsidenten anerkannt. Im Sinne der Venezolanerinnen und Venezolaner muss die deutsche Regierung diese Anerkennung schnellstmöglich zurücknehmen. Und hier Druck zu machen, wäre die internationalistische Verantwortung der deutschen Linken, um den Genossinnen und Genossen in Venezuela den Rücken freizumachen für den Aufbau und Ausbau des sozialistischen Projektes. Denn so oft haben wir gehört: »Die Schwierigkeiten, die wir haben, können wir nur selber lösen – ohne Einmischung von außen, ohne wirtschaftliche Erpressung und ohne militärische Intervention.«
(Die Fragen stellte Jan Maas.)
Zur Person:
Tini und Sophie sind aktiv bei der Interventionistischen Linken (iL) und waren als Delegierte im Rahmen der International Peoples‘ Assembly vom 20. bis 27. Februar in Caracas und anschließend mit der Red de Hermanidad y Solidaridad und dem Congreso de los Pueblos in Kolumbien.
Foto: Interventionistische Linke
Schlagwörter: Guaido, Maduro, Putsch, Räte, Venezuela