Mehr als hundert Friedensaktivistinnen und –aktivisten wurden bei einem Terroranschlag in Ankara ermordet. Die türkische Regierung ist mitverantwortlich für das Verbrechen, meint Erkin Erdoğan.
Der größte Terroranschlag in der Geschichte der Türkei forderte am 10. Oktober in Ankara mehr als hundert Menschenleben. Zwei gleichzeitig gezündete Selbstmordsprengsätze galten der Kundgebung »Arbeiterschaft, Frieden und Demokratie«, organisiert von Gewerkschaftsverbänden und unterstützt von der HDP (Demokratische Partei der Völker).
Die Medien machten den IS für den Anschlag verantwortlich. Doch die Tatsachen weisen auf eine Beihilfe des türkischen Staates an diesem Verbrechen hin. Die Attentäter konnten sich frei im Land bewegen, obwohl sie als potenzielle Selbstmordattentäter bekannt waren. Auf der Kundgebung gab es keinerlei Sicherheitsmaßnahmen, obwohl es Warnungen vor möglichen Angriffen in Ankara gegeben hatte, einer Stadt in der üblicherweise jeder Quadratzentimeter von Geheimdiensten überwacht wird. Zudem handelte es sich bereits um den fünften verheerenden Anschlag auf die HDP innerhalb der vergangenen fünf Monate.
Die Türkei durchläuft gegenwärtig eine Phase, die den 1990er-Jahren ähnelt – diesmal jedoch im Zeitraffer. Die damalige Zeit war geprägt von einem kriminellen und korrupten despotischen Staatsapparat, der einen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden führte und demokratische Kräfte brutal unterdrückte.
Eine Hasskampange der Regierung
Die Reaktion der türkischen Regierung auf den blutigen Anschlag offenbart deren Anteil daran: Die Führung der Regierungspartei AKP lancierte eine neuerliche, abscheuliche Hasskampagne gegen die HDP. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sowie einige seiner Minister stellten die PKK und die kurdische Freiheitsbewegung als mögliche Verdächtige dar, obwohl das ganz offensichtlich Unsinn ist. Regierungsnahe Medien wiesen auf mögliche Stimmengewinne der HDP aufgrund der Bombenanschläge hin, und einige Kommentatoren der AKP unterstellten der Linkspartei gar, die Anschläge selbst verübt zu haben.
Etliche AKP-Unterstützer teilten in sozialen Netzwerken Beiträge, in denen es hieß, es gäbe an den Anschlägen nichts zu Betrauern, jedoch sehr viel zu feiern. Fußballfans aus Konya, einer Stadt, in der die AKP 65 Prozent der Wählerstimmen verbuchen konnte, störten die Schweigeminute vor dem Spiel der türkischen Nationalmannschaft mit »Gott ist groß«-Rufen. Diese Hasskampagne wurde losgetreten und geführt, um die HDP und ihre Unterstützer zu kriminalisieren. Sie entspricht der Strategie der AKP, die HDP bei der nächsten Wahl unter die Zehnprozenthürde zu drücken.
Die Polizei versprüht Tränengas
Die Vernachlässigung der Drohungen gegen die HDP ging einher mit einer leichtfertigen Handhabe der Ermittlungen. Innenminister Selami Altınok erwiderte lächelnd auf die Frage, ob er in Folge der Bombenanschläge zurücktreten werde: »Es gab keinen Verstoß gegen die Sicherheit.« Ministerpräsident Davutoğlu äußerte gegenüber der Presse, es gäbe zwar eine Liste von Menschen, die möglicherweise Sprengstoffanschläge verüben könnten, fügte aber hinzu: »In einem Rechtsstaat kann man Leute nicht verhaften, bevor sie handeln.« Dieser Grundsatz scheint allerdings nicht für Kurdinnen und Kurden, kurdische Bürgermeister und HDP-Politiker zu gelten. Denn hier ist der Rechtsstaat stets großzügiger mit Verhaftungen.
Die erste Handlung der Polizei beim Erreichen des Tatorts bestand darin, Tränengas und Pfefferspray zu versprühen. Hunderte Verletzte und umstehende Helfer mussten so zusätzliche Schmerzen erleiden. Einige Schwerverletzte fanden laut Zeugenaussagen durch das Gas den Tod. Durch die Polizeipräsenz wurden erste Hilfeleistungen verzögert und Krankenwagen aufgehalten, wodurch die Anzahl der Opfer anstieg.
Die skandalöse Polizeigewalt gegen die Opfer war Thema breiter Medienberichterstattung, woraufhin die Regierung eine gerichtliche Verfügung gegen die Produktion, Verbreitung und Weitergabe jedweder Nachrichten oder Analysen des Blutbads von Ankara in Bild-, Druck- und sozialen Medien verhängte. Durch diese Sperre sollte die Rolle der Regierung verschleiert werden.
Der Krieg gegen die PKK und das Blutbad von Ankara
Um nachvollziehen zu können, weshalb die Friedenskundgebung in Ankara Ziel des Sprengstoffattentats wurde, muss man sich den Krieg der AKP in Kurdistan ins Gedächtnis rufen. Als die AKP im Sommer nach 13 Jahren Vorherrschaft im Parlament durch den Wahlerfolg der HDP ihre absolute Mehrheit verlor, beschloss Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die kurdische Freiheitsbewegung zu kriminalisieren, um die HDP zurück unter die Zehnprozenthürde zu drücken. Aus Sicht der AKP ist ein Krieg gegen die PKK sinnvoll, um mehr Stimmen in nationalistischen Kreisen zu erzielen. Dadurch soll die Herrschaft der Partei für weitere vier Jahre gesichert werden, um möglichst per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einzuführen.
Die Selbstmordattentäter haben dieser Strategie einen großen Dienst erwiesen. Einen Tag vor den Anschlägen hatte die PKK erklärt, dass sie einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen wolle, um die vorgezogenen Neuwahlen am 1. November unter friedlichen Bedingungen zu ermöglichen. Seitens der PKK wurde Wort gehalten, selbst nachdem in Ankara mehr als hundert Menschen ums Leben gekommen waren. Murat Karayılan, Mitglied des Zentralkomitees der PKK, erklärte den demokratischen Kampf für den Frieden zum Vermächtnis der Opfer von Ankara. Auch wenn man sich bei der PKK darüber im Klaren ist, dass das Blutvergießen in den Geheimdienstzentralen Ankaras geplant und ausgeführt wurde, wurde dennoch entschieden, den einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen aufrechtzuerhalten. Noch in der Nacht, in der diese Entscheidung gefällt wurde, kamen acht Guerillakämpfer durch Luftangriffe auf die Kleinstadt Lice ums Leben.
Erdoğan und die AKP versuchen sich durch den Einsatz brutaler Gewalt in Kurdistan und durch die Einschüchterung der Massen im Westen des Landes an der Macht zu halten. Wie wir aus Ankara gelernt haben, kann diese Einschüchterung viele Formen annehmen – auch die von Selbstmordattentaten, Polizeigewalt und Verfolgung von Politikern der HDP. Womit sie nicht rechnen, ist, dass die Reaktion der Massen Widerstand und Streiks sein werden, genau wie in den zwei Tagen nach den Anschlägen.
Die Rolle Deutschlands
Zwei Wochen vor den Neuwahlen in der Türkei besucht nun Angela Merkel Davutoğlu und Erdoğan, um über die »Flüchtlingskrise« zu sprechen. Die Bundesregierung setzt bei der Abwehr von Geflüchteten jetzt auf Erdoğan und will die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklären. Merkels Staatsbesuch kommt einer Hilfe beim Wahlkampf gleich und stärkt der AKP den Rücken bei ihrem Vorgehen gegen Frieden und die Opposition.
Die Zusammenarbeit Berlins mit der AKP muss endlich aufhören. Die militärische und polizeiliche Kollaboration muss beendet werden, ebenso wie die Waffenlieferungen in die Türkei. Darüber hinaus müssen wir uns weiterhin für eine Aufhebung des PKK-Verbots einsetzen. Gemeinsame Sache mit Davutoğlu und Erdoğan zu machen, kommt einer Verspottung all derjenigen gleich, die in Ankara getötet wurden – und derjenigen, die zuvor bei den Bombenanschlägen in Adana, Mersin und Diyarbakır sowie beim Massaker in Suruç gestorben waren. Einer Verspottung aller, die für Frieden und Demokratie einstehen.
Aus dem Englischen von Marion Wegschneider.
Foto: Housetier84
Schlagwörter: AKP, HDP, IS, Islamischer Staat, Kurden, PKK, Recep Tayyip Erdoğan, Terror, Terroranschlag, Türkei