Während Medien und Regierung über die Fehler der Polizei sprechen, zeigt ein Blick auf das kurze Leben der Täter, was die wirklichen Ursachen für islamischen Terrorismus sind. Um Terrorismus wirksam zu bekämpfen, müssen neue Wege gegangen werden. Von Hans Krause
Als Chérif Chekatt im Dezember 2018 auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt fünf Menschen ermordete und elf verletzte, kamen die immer gleichen Vorschläge, die schon seit vielen Jahren nicht funktionieren: Mehr Polizei, mehr Geheimdienst, bessere Vernetzung über Landesgrenzen hinweg, denn Chekatt wurde in Frankreich in einer Liste angeblich »radikalisierter Personen« geführt, in Deutschland aber nicht.
Die französische Regierung hat schon nach den Anschlägen in Paris 2015 und Nizza 2016 das Abhören Verdächtiger erleichtert, 5000 neue Stellen bei der Polizei geschaffen, einfache Polizisten mit Sturmgewehren bewaffnet und sogar den wiederholten Besuch terroristisch orientierter Internetseiten(!) zur Straftat gemacht.
Auch in Deutschland erhöhen Bund und Länder seit Jahren die Zahl der Polizisten. Nach dem Anschlag von Anis Amri im Dezember 2016 in Berlin wurde der Polizei unter anderem erlaubt, Messenger-Dienste wie WhatsApp zu überwachen und in vielen Bundesländern Verdächtige zwei Wochen ohne Anklage ins Gefängnis zu sperren. Genützt hat es nichts.
Damals übernahm bedauerlicherweise sogar die LINKE-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht die Parolen der Rechten und forderte, die Polizei noch besser auszustatten. Demnach trage Kanzlerin Merkel eine Mitschuld am Berliner Anschlag, denn »neben der unkontrollierten Grenzöffnung ist da die kaputtgesparte Polizei«.
Terroristen abschieben ist rassistisch
Besonders rassistisch ist der vielfach gemachte Vorschlag, mehr Menschen abzuschieben, was unausgesprochen der Idee folgt: Je weniger Muslime es in Europa gibt, desto weniger islamistische Terroristen sind hier. Das Problem wird damit jedoch buchstäblich in andere Regionen abgeschoben, aber nicht gelöst.
Verständlicherweise haben Tunesier 2017 gegen die Abschiebung angeblich gefährlicher Menschen in ihr Land demonstriert. Denn diese Politik macht nur Sinn, wenn ein europäisches Leben zehn Mal mehr Wert ist als ein arabisches.
Rechnung geht nicht auf
Doch selbst wenn Regierungen bereit wären, tausende Unschuldige abzuschieben, um dabei vielleicht einen möglichen Terroristen zu erwischen, geht diese Rechnung nicht auf, wie der Anschlag von Chekatt beweist. Er war französischer Staatsbürger und in Straßburg geboren und aufgewachsen.
In Berlin hat das neu eröffnete Abschiebe-Gefängnis speziell für »Gefährder« derzeit drei Insassen. Alle anderen sind Deutsche oder die Staatsbürgerschaft kann nicht nachgewiesen werden.
Nun ist trotz großer Medien-Panikmache Terrorismus in unserem Kontinent ein sehr kleines Problem, verglichen mit fast allen anderen Regionen der Welt. Laut der »Weltweiten Terrorismus-Datenbank« der Universität von Maryland, stammten 2017 etwa 0,7 Prozent(!) aller Todesopfer aus Europa. Es ist 4000 mal wahrscheinlicher an Grippe zu sterben als durch einen Terroranschlag.
Aber während die Aufklärung vom rechtsradikalen Terrorismus der NSU verhindert wird, weil Verfassungsschutz-Mitarbeiter beteiligt waren, dramatisieren Medien und Politik die Gefahr durch islamistische Gewalt. Das Ziel ist, uns in Angst und Hysterie zu versetzen, um Krieg gegen islamisch geprägte Länder zu rechtfertigen und die Bürgerrechte auszuhöhlen.
Was tun gegen Terrorismus?
Und doch macht jeder Bericht von einem neuen Amoklauf vielen Menschen Angst und führt zur Bereitschaft, Unterdrückung und Gewalt durch den Staat hinzunehmen, in der Hoffnung, das diene der eigenen Sicherheit. Was ist also die Ursache von Terroranschlägen wie in Berlin 2016 und was kann man tatsächlich dagegen tun?
Anis Amri nahm etwa eineinhalb Jahre vor seinem Anschlag Kontakt zu Abu Walaa auf, einem Prediger aus Hildesheim, dem vorgeworfen wird, Soldaten für den »Islamischen Staat« in Syrien geworben zu haben. Doch was Amri und andere junge Männer zu Amokläufern machte, war nicht ihre recht kurze Zeit im Umfeld von Islamisten, sondern Regierungen, Justiz und Polizei, die ihnen ein menschenwürdiges Leben verwehrten.
Religion und Terrorismus
Selbst die Studie der »Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus« des Bundeskriminalamtes kommt zum Ergebnis, dass nicht Religion Menschen zu Attentätern macht, sondern Erfahrungen in Kindheit und Jugend, Armut, Hoffnungslosigkeit und daraus folgender Stress. Genau darunter litt Anis Amri nahezu sein gesamtes Leben: Er stammt aus Oueslatia, einer der armen Kleinstädte, die vom tunesischen Staat seit Jahrzehnten fast vollständig ignoriert wird. Als im benachbarten Libyen 2011 Bürgerkrieg ausbricht, geht auch der Tourismus deutlich zurück. Das führt zu noch mehr Arbeitslosigkeit.
Deutsche Medien stellen Tunesien oft als das einzige Land dar, in dem der Arabische Frühling erfolgreich war und tatsächlich haben die Menschen mit der Revolution 2011 Diktator Ben Ali gestürzt und Wahlen ermöglicht. Doch die neue Regierung hat die Armut nicht gemildert.
Nach Berechnung der Weltbank leben mit 15 Prozent heute ebenso viele Tunesier in großer Armut wie vor der Revolution. Ein durchschnittlicher Monatslohn beträgt umgerechnet etwa 250 Euro monatlich.
Flucht übers Mittelmeer
Auch Amri wächst mit acht Geschwistern in großer Armut auf. Seine Mutter arbeitet als Haushaltshilfe. Seinem Vater wurde nach einem Unfall ein Arm amputiert. Er beliefert Geschäfte mit einem Eselskarren.
Amri bricht mit 15 Jahren die Schule ab und macht Gelegenheitsjobs, später Kleinkriminalität wie Einbrüche und Drogenverkauf auf der Straße. Als ihm die Verhaftung droht, flieht er 2011 als 18-jähriger mit einem der lebensgefährlichen Boote übers Mittelmeer auf die italienische Insel Lampedusa. Von dort bringt man ihn in ein Lager bei Catania, in dem er mit über Tausend anderen Jugendlichen zusammengepfercht ist.
Amri legt Feuer im Lager
Nach einiger Zeit protestiert Amri dort mit anderen Geflüchteten öffentlich gegen das schlechte Essen, zu wenig Telefonier-Guthaben und die lange Dauer des Asylverfahrens. Im Oktober 2011 legt er aus Protest mit anderen Feuer im Lager, wofür er zu vier Jahren Haft verurteilt wird, die er vollständig absitzen muss.
Gerade in den süditalienischen Gefängnissen sitzen viele junge, kleinkriminelle Araber, verzweifelt über den Verlauf ihres Lebens und auf der Suche nach einem Ausweg. Hier hat Amri zum ersten Mal Kontakt mit islamistischer Ideologie. In Tunesien spielte Religion für ihn nach Aussage seiner Verwandten überhaupt keine Rolle.
Flucht vor dem Gefängnis
Im Mai 2015 kommt Amri mit 22 Jahren aus dem Gefängnis und wird wieder in eine heruntergekommene Unterkunft für Geflüchtete in Sizilien gesteckt. Der italienische Staat will ihn nach Tunesien abschieben, wo er mittlerweile in Abwesenheit wegen eines Raubüberfalls zu weiteren fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Doch Amri flieht im Juli erneut, diesmal nach Deutschland.
Um Geld zu verdienen, verkauft er hier Drogen vor Klubs, nimmt auch selbst öfter Kokain. Im April 2016 stellt er einen Asylantrag. Schon im Mai, sieben Monate vor seinem Anschlag, kommt die Ablehnung. Ab Juni ist er ausreisepflichtig. »Als Amris Asylantrag abgelehnt wird, reagiert er mit Gewalt und der radikalen Ablehnung jedweden politischen Systems«, so Allaya Allani, Experte für Islamismus der Manouba-Universität in Tunis.
Amri wollte heiraten
Zwar hat Amri schon vor Jahren im italienischen Gefängnis und auch in Deutschland Kontakt zu Islamisten gehabt. Doch das hat ihn nicht zum Attentäter gemacht.
Vielmehr will er noch fünf Monate vor dem Anschlag seinem Leben eine entscheidende Wende geben und versucht im Juli, illegal nach Zürich in der Schweiz zu reisen. Dort will Amri jemanden treffen, die ihn mit einer Ehe vor der Abschiebung retten könnte. Doch die Polizei verhaftet ihn am Busbahnhof Friedrichshafen, wenige Kilometer vor der Schweizer Grenze.
Kurz vor der Abschiebung
Amri wird ins Gefängnis gesperrt, um abgeschoben zu werden, aber im August wieder freigelassen, weil Tunesien die Aufnahme zunächst verweigert. Im November werden Abu Walaa und ein anderer Islamist, bei dem Amri gewohnt haben soll, verhaftet. Gegen beide läuft ein Prozess wegen des Werbens von Soldaten für den IS in Syrien. Langjährige Haftstrafen sind wahrscheinlich.
Anfang Dezember ist Amris Verhaftung oder endgültige Abschiebung eine Frage von Wochen. Ob er wegen dieser Situation oder etwas anderem endgültig entscheidet, den Anschlag in Berlin auszuführen, wurde niemals bekannt. Am 19. Dezember ermordet Amri zwölf Menschen und verletzt 55 teils schwer. Am 23. Dezember schießt er bei einer Ausweiskontrolle bei Mailand auf Polizisten und wird dabei einen Tag nach seinem 24. Geburtstag selbst erschossen.
Niemand weiß, was ein »Gefährder« ist
Viele Medien kritisieren heute »Polizeipannen«, durch die Amri vor dem Amoklauf nicht abgeschoben oder verhaftet wurde. Und tatsächlich kann man überlegen, warum er 2016 als »Gefährder« eingestuft und dementsprechend überwacht wurde – aber nur von Montag bis Freitag. Doch muss man bedenken, dass allein die deutsche Polizei etwa 770 Menschen als »Gefährder«führt.
Dabei lässt der Begriff »Gefährder« vermuten, dass eine Behörde wisse, dass diese Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schweres Verbrechen begehen werden. Doch das ist nicht so.
»Gefährder« sind weder Täter noch Verdächtige. Sie haben weder eine Straftat begangen, noch eine vorbereitet oder geplant. Der Begriff ist zudem weder in einem Gesetz noch einer Verordnung definiert und wird von unterschiedlichen Einheiten von Polizei und Geheimdienst verschieden benutzt.
Auf einer Skala von 1 bis 8 …
Statt einer eindeutigen Definition verwendet das Bundeskriminalamt eine achtstufige Skala, um angebliche »Gefährder« einzuteilen. Wobei Stufe 8 bedeutet: »Der Eintritt eines gefährdenden Ereignisses ist auszuschließen«.
Rechtlich sind Gefährder demnach Unschuldige, die in Zukunft eine Straftat begehen könnten. Jeder kann sich ausmalen, auf wie viele Menschen diese Bezeichnung angewendet werden könnte. Trotzdem zwingen Polizei und Gerichte immer mehr Menschen, eine elektronische Fußfessel zu tragen, weil sie angeblich »Gefährder« seien.
Posieren mit Pistolen aus Plastik
Das »Verbrechen« dieser Leute ist oft, in Chats damit zu prahlen, Menschen umzubringen und Bilder in soziale Netzwerke hochzuladen, auf denen sie mit Schreckschuss-Pistolen und Plastik-Gewehren posieren, so wie es Amri getan hat.
Aber selbst wenn man diese Menschen alle verhaftet: Für welche Straftat soll man sie anklagen? Zu behaupten man sei ein Massenmörder, ist in einer Demokratie legal und bei deutschen Pop-Stars Standard. Maulhelden sind von echten Terroristen laut Ermittlern nicht zu unterscheiden.
Terrorismus verstehen heißt nicht rechtfertigen
Kein noch so furchtbares Schicksal rechtfertigt das Töten unschuldiger Menschen. Doch darf uns das Kopfschütteln über die moralische Verwerflichkeit solcher Taten nicht davon ablenken, nach den gesellschaftlichen Ursachen zu fragen. Denn diese liegen nicht in einer Kultur oder Religion, deren Anhänger zu 99,999 Prozent friedliebende Menschen sind.
Wer die Ursachen von Terrorismus versteht, rechtfertigt ihn damit nicht. Auch wer beispielsweise die Ursachen von sexueller Gewalt untersucht, unterstützt damit keine Vergewaltigung. Vielmehr ist dieses Verständnis unbedingt notwendig, um für eine Politik einzutreten, die solch grauenhaften Verbrechen wie denen Amris vorbeugt.
Terrorismus: Den Opfern gerecht werden
Auch um Rassismus bekämpfen zu können, ist es wichtig, dass Linke Terrorismus verstehen. Denn nur dann können wir Millionen Muslime und Migranten verteidigen, die wegen ganz wenigen Terroristen unter Generalverdacht gestellt werden. Aber ebenso werden wir nur so den Opfern der Anschläge und ihren Angehörigen gerecht. Denn gerade sie haben es verdient, dass wir ernsthaft daran arbeiten, Gewalt und Terrorismus vorzubeugen, statt rassistische Phrasen zu dreschen, die bestenfalls nutzlos sind, wahrscheinlicher aber zu neuer Gewalt führen.
Jeder und jede die keinen Polizeistaat will, in dem alles und jeder verdächtigt wird, sollte in die entgegengesetzte Richtung gehen und gegen eine Gesellschaft kämpfen, die Menschen wie Anis Amri das Leben zur Hölle macht, lange bevor sie ein Attentat als scheinbaren Ausweg aus ihrem tragischen Dasein wählen. Nicht immer mehr staatliche Gewalt und Rassismus verhindern weitere Anschläge, sondern eine Bewegung für echte Perspektiven und gleiche Rechte für Einwanderer und Deutsche, Muslime, Christen und nicht religiöse Menschen, Schwarze und Weiße, egal woher sie kommen.
Krieg ist Terror
Wer Terrorismus aufhalten will, muss Rassismus bekämpfen und zudem den viel größeren Terror stoppen, den »unsere« Regierungen und Armeen in Afrika und Westasien verbreiten. So begründete der »Islamische Staat« seine Anschläge in Paris 2015 mit 137 Toten im Bekennerschreiben: »Frankreich und alle die seinem Weg folgen, müssen wissen, dass sie die Hauptziele des ‚Islamischen Staates‘ bleiben, weil sie den Kreuzzug anführen, weil sie sich damit brüsten, Muslime auf dem Boden des Kalifats anzugreifen mit ihren Flugzeugen«.
Und auch der Mann, der in der Silvesternacht 2018 in Manchester mit einem großen Messer drei Menschen verletzt hatte, rief nach Augenzeugenberichten nicht nur »Allah«, sondern auch: »So lange ihr weiter andere Länder bombardiert, wird diese Art von Mist weiter passieren«.
Foto: wikimedia / Bundeskriminalamt
Schlagwörter: Inland, Islam, Islamismus, Rassismus, Terror, Terrorismus