Die Situation für LGBTIQ-Menschen in Ägypten hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Wir sprachen mit dem Menschenrechtsaktivisten Scott Long über ihre Lage und die Möglichkeiten für globale Solidarität
Scott Long ist Aktivist für internationale Menschenrechte mit Schwerpunkt auf die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen, Transgendern und queeren Menschen. Seit über 25 Jahren setzt er sich in zahlreichen Ländern für Genderrechte und die Freiheit sexueller Orientierung ein. Er war Gründer des LGBTIQ-Programms bei Human Rights Watch und Autor des politischen Blogs »A Paper Bird«. Seit 2001 engagiert er sich in Ägypten.
Scott, du hast von 2012 bis 2016 in Kairo gelebt. Wie ist dort die Situation für LGBTIQ-Menschen?
Wir wissen von etwa 250 Menschen, die aktuell in Ägypten wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Genderidentität eingesperrt sind. Unmittelbar nach dem Putsch von Abdel al-Fattah as-Sisi im Juli 2013 fing die neue Regierung damit an, insbesondere Trans-Frauen und schwule Männer zu verhaften. Die Verbindungen zwischen sexueller Unterdrückung und anderen Unterdrückungsformen sind in Ägypten sehr eng.
Wie äußert sich das?
Die Regierung greift hart gegen Revolutionäre und andersdenkende Jugendliche durch, besonders gegen Männer, die nicht mit den staatlichen Vorstellungen von Männlichkeit konformgehen. Sie geht aber auch hart gegen Straßenkünstler, kleine Händler und Cafés im Zentrum von Kairo vor. Die Unterdrückung von LGBTIQ-Menschen ist Teil eines großen Komplexes von repressiven Strategien, die das Sisi-Regime einsetzt. Seit dem Jahr 2014 hat sich die Funktion der Verhaftungen jedoch gewandelt. Als die Muslimbruderschaft anfing, Sisi der »Weichheit« gegenüber sexuellen Minderheiten zu beschuldigen, verstärkte dieser seine rechte Flanke, indem er noch härter gegen LGBTIQ-Menschen vorging.
In deinen Artikeln und Interviews bezeichnest du Sisis Militärputsch als Konterrevolution. Ist Ägypten unter dem Sisi-Regime noch schlimmer als unter Mubarak?
Ja, ich denke schon. Die Regierung argumentiert heute, Mubarak habe zu viel Freiraum für die Zivilgesellschaft gelassen. Das jetzige Regime ist höchst unberechenbar. Der Grad der Brutalität ist beispiellos in der jüngeren Geschichte Ägyptens. Seine Basis hat das Regime wie schon unter Mubarak im Militär. Das Militär ist jedoch nicht nur Sisis Hauptstütze, sondern in vielerlei Hinsicht seine einzige Stütze. Gleichzeitig ist es ein instabiles Regime – eine gefährliche Kombination.
Wie würdest du die drei Regimes – Mubarak, Mursi und Sisi – bewerten, was LGBTIQ-Sexualität und Genderrechte angeht?
Die Haltung des Mubarak-Regimes gegenüber LGBTIQ-Menschen war im Kern eine instrumentelle. Die sexuelle Orientierung war bis um die Jahrtausendwende kein größeres Thema. Zwischen 2001 und 2004 kam es dann zu einer Verhaftungswelle, die von einer unglaublichen Verunglimpfung homosexueller Menschen in der Presse begleitet wurde. Es gab Gerüchte, Mubaraks Sohn und wahrscheinlicher Nachfolger Gamal sei schwul. Das Regime wollte daraufhin zeigen, dass es alles andere als »schwulenfreundlich« sei.
In den Jahren vor der Revolution wurde jedoch zunehmend deutlich, dass das Mubarak-Regime müde wurde. Die tagtägliche Überwachung der Moral wurde weniger streng. Die Aufmerksamkeit der Polizei konzentrierte sich vermehrt auf politische Dissidenten. LGBTIQ-Menschen konnten sich hingegen erstmals öffentliche Räume aneignen. Besonders in Kairo und Alexandria entstanden Cafés und Bars, in denen sie sich treffen konnten. Es gab in Kairo gegen Ende des letzten Jahrzehnts mehr Sichtbarkeit von dem, was man als »alternative« Identitäten bezeichnen könnte
Und nach dem Sturz Mubaraks?
Die zwölfmonatige Episode der Regierung der Muslimbruderschaft unter Mursi war zu kurz, um zu verallgemeinern, was längerfristig passiert wäre. Es war ein Jahr, geprägt von der absoluten Unfähigkeit der Regierung. Sie hatte keine klaren ideologischen Vorstellungen, kein soziales oder ökonomisches Programm und auch kein Programm im Sinne der Durchsetzung einer bestimmten Moral. Mursi hatte andere Prioritäten als die Verfolgung sexueller Minderheiten. Es ging ihm um die Eroberung der ökonomischen und politischen Ressourcen des Staats für seine Wählerbasis. Die Unterdrückung von LGBTIQ-Menschen war kein Kernelement von Mursis Politik. In gewisser Weise war daher die Zeit unter der Muslimbruderschaft sogar die freieste Periode für LGBTIQ-Menschen in Ägypten.
Was geschah nach dem Putsch Sisis?
Sisi ist zum früheren Muster unter Mubarak zurückgekehrt, aber er geht noch weiter. Die Regierung geht gezielt mit Razzien gegen LGBTIQ-Menschen vor. Das ist der konsequente Versuch, moralische Empörung für Staatszwecke auszunutzen. Und das passiert nicht nur gegen Schwule. Das Sisi-Regime ist auch reaktionärer als das Mubarak-Regime, was seine Vorstellungen über die Rolle der Frauen angeht.
Viele Linke argumentieren, dass wenn es um die Rechte von LGBTIQ-Menschen und Frauen geht, säkulare Regierungen besser sind als Regierungen, die sich auf Religion stützen. Was meinst du dazu?
Das Sisi-Regime präsentiert sich gern als säkular, genau wie damals das Regime unter Mubarak. In Wirklichkeit haben aber beide die Religion für ihre Zwecke instrumentalisiert. Mubarak hatte überhaupt kein Problem damit, sich zwischen 2001 und 2004 auf religiöse Rechtfertigungen für die Verhaftungen von LGBTIQ-Menschen zu berufen. Aber diese religiösen Rechtfertigungen sind nur ein Teil dieser reaktionären Ideologie – einer Mischung aus Nationalismus und Nationalmoral, verbunden mit einer Berufung auf die Religion.
Ein großer Teil dessen, was heute als »religiöser Fundamentalismus« bezeichnet wird, ist eigentlich eine Art Entfesselung von ideologischen und politischen Kräften innerhalb des Islam, die man seit Generationen nicht gesehen hat und die einige der traditionellen institutionellen Pfeiler des Glaubens erschüttert haben. Die meisten sogenannten Fundamentalismen sind nicht in der islamischen Theologie oder Praxis verwurzelt.
Wenn das Sisi-Regime eine so enge und unberechenbare militärische Basis hat, wie kann es sich halten?
Das Regime stützt sich auf die Militärhilfe aus dem Ausland. Das sind insbesondere die 1,3 Milliarden Dollar, die es jährlich von den USA bekommt. Deutschland ist neben den USA eine der größten Waffenquellen für das Sisi-Regime. Europa ist ein wichtiger Lieferant von Überwachungsanlagen. Diese Anlagen stützen das Regime unmittelbar, indem sie seine Fähigkeit stärken, das eigene Volk zu überwachen, zu kontrollieren, einzusperren oder auch zu töten. Die Sisi-Regierung hat explizit erklärt, dass auch LGBTIQ-Menschen und die »sexuelle Perversität« Ziele der Internetüberwachung sind. Wenn man Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten in Ägypten fragt, was der Westen in Ägypten machen sollte, antworten sie: Stoppt die Militärhilfe!
Kann der Westen auch irgendeine hilfreiche Rolle im Leben der LGBTIQ-Menschen und der Frauen im Nahen Osten spielen?
Die Vorstellung, dass der Westen irgendeine Art von Freiheit für LGBTIQ-Menschen oder für Frauen im Nahen Osten oder sonst irgendwo bringen wird, ist totaler Quatsch. Das zeigt schon ein kurzer Blick auf die Ursachen der aktuellen Entwicklungen: Die Beliebtheit islamistischer Bewegungen etwa ist in der ganzen Region erst seit dem Jahr 1973 zu beobachten. Das ist der Beginn der Ölkrise, die zu einer gewaltigen Verschiebung der Macht innerhalb der Region geführt hat – in Richtung der Länder, die Erdöl haben, und weg von den Ländern ohne Erdöl. Gleichzeitig markiert das Jahr den einsetzenden Siegeszug des Neoliberalismus. Ganz plötzlich wurde Ägypten finanziell von den benachbarten Feudalmonarchien abhängig, von denen viele streng religiös waren. Die Ägypterinnen und Ägypter sahen die Schwäche der eigenen Regierung und ihre Unfähigkeit, für ihr Wohl zu sorgen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Also begannen sie damit, sich Ideologien zuzuwenden, die ihnen dabei halfen, zu reagieren und Widerstand zu leisten. Damit verbunden ist auch die Tatsache, dass die USA in einem Land nach dem anderen den Kampf gegen die Linke geführt und befördert haben. In Ägypten wurde in den 1970er Jahren unter Sadat damit begonnen, Linke zu verfolgen, nachdem er von Breschnew zu Nixon übergelaufen war. Die ägyptische Linke hat zwar bis heute überlebt, sie ist aber effektiv daran gehindert worden, Menschen zu mobilisieren, sich zu organisieren und intellektuellen Einfluss zu gewinnen. Das Gleiche gilt für zahlreiche andere Länder in der Region. Die Konsequenz all dessen sind Phänomene wie der »Islamische Staat«. Auffällig ist auch die Tatsache, dass er seine Wurzeln in zwei der gebildetsten Ländern des Nahen Ostens hat – in Syrien und im Irak. Das wurde nur möglich, durch die Vernichtung der Linken und die Zerstörung intellektueller Bewegungen. Der IS ist Teil des Ergebnisses der Gesamtintervention der USA.
Wie können Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland eine internationale Perspektive zu den Kämpfen um Menschenrechte einnehmen, ohne militärische oder neoliberale Interventionen zu unterstützen?
Es ist absolut entscheidend, dass es hier in Deutschland und anderswo eine LGBTIQ-Öffentlichkeit gibt, die aufmerksam und kritisch gegenüber der gesamten Außenpolitik ist, und nicht nur in LGBTIQ-Fragen. Fragt nicht bloß: Was hat meine Regierung in der letzten Zeit über Uganda oder Namibia oder Ägypten gesagt? Fragt stattdessen: Wie unterstützt meine Regierung die Regierungen dieser Länder? Was ist das finanzielle, ökonomische und militärische Verhältnis zu diesen Regierungen? Ägyptische Aktivistinnen und Aktivisten in der Menschenrechts- und der LGBTIQ-Bewegung fordern ein Ende der militärischen Unterstützung aus dem Ausland. Jeder Aktivismus, der diese Forderung nicht berücksichtigt, geht in die falsche Richtung.
Das Interview führten Kate Davison und Irmgard Wurdack
Foto: Giulia Cimarosti
Schlagwörter: Ägypten, al-Sisi, Arabischer Frühling, Homophobie, Homosexualität, Islam, LGBT, Menschenrechte, Militär, Militärdiktatur, Mubarak, Nationalismus, Religion, Religionsfreiheit, Revolution, Sexualität, Sisi, Waffenexporte