Seit vierzig Jahren läuft die »Rocky Horror Picture Show« in den Kinos der Welt. Die einfache Botschaft des schrägen Musicals ist auch heute noch aktuell. Aber das ist nicht der einzige Grund, es sich mal wieder anzuschauen, findet unser Autor Phil Butland.
Am 14. August 1975 startete »Rocky Horror Picture Show« in den Kinos in Großbritannien. Allerdings ohne großen Erfolg. Auch in den USA war der Film zunächst ein Flop. Erst ein Jahr später entwickelte sich Rocky Horror in Mitternachtsvorstellungen zum Publikumsmagnet – besonders in Gegenden, wo es eine LGBT-Szene (das Kürzel steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, Anm. d. Red.) gab, und in Studentenstädten wie Austin, Texas. Heute ist der Film der fünftprofitabelste aller Zeiten: Er spielte schon 140 Millionen US-Dollar ein.
Transsexuell in Transsilvanien
Rocky Horror ist ein Musical, eine Komödie und eine Parodie der Science-Fiction-Filme der 1950er Jahre – viele von ihnen werden im Eröffnungslied »Science Fiction Double Feature« genannt. Diese Streifen wurden in der Hochphase des Kalten Kriegs gedreht, ihre bösen Wissenschaftler und grässlichen Außerirdischen symbolisierten die Bedrohung durch den Kommunismus. Doch im Jahr bevor Rocky Horror anlief, wurde die Watergate-Affäre um den US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon aufgedeckt. Daran erinnert der Film, indem in einer der ersten Szenen im Radio von Nixons Rücktritt berichtet wird: Es war längst nicht mehr so klar, woher die Bedrohung kommen würde.
Der Film erzählt die Geschichte eines frisch verlobten Paars, Brad Majors (Barry Bostwick) und Janet Weiss (Susan Sarandon). Die beiden scheinen noch die konservativen fünfziger Jahre zu repräsentieren. Nachdem ihr Auto eine Panne hat, landen sie im Schloss von Dr. Frank N. Further (Tim Curry), einem »süßen Transvestiten aus Transsexuell in Transsilvanien«. Dort findet gerade ein Fest statt und Frank und seine Gäste beginnen rasch, das spießige Paar zu korrumpieren. Dazu gibt es ein bisschen homo- (und hetero-) sexuellen Sex, Mord und Kannibalismus. Am Ende verwandelt sich das Schloss in ein Raumschiff, das zurück zum Planeten Transsexuell in der Galaxie Transsilvanien fliegt.
Genauso wie in den parodierten Science-Fiction-Filmen ist auch hier die Handlung weder plausibel noch sonderlich aussagekräftig. Die wichtigste Botschaft findet sich kompakt im Titel eines Lieds des Musicals: »Don‘t dream it be it« (»Träume es nicht, sei es einfach«). Dabei geht es nicht nur um eine entspannte Haltung zu Sex und Drogen. Der Film appelliert an das Publikum, sich zu allen Themen eine eigene Meinung zu bilden.
Gegen die Prüderie
In den frühen 1970er Jahren war diese Botschaft Dynamit. Das Musical, auf dem der Film basiert, feierte im Jahr 1973 in London Premiere, gerade sechs Jahre nachdem dort Homosexualität und Schwangerschaftsabbrüche legalisiert worden waren. Schwule und Lesben hatten erste Siege im Kampf gegen Unterdrückung zu verzeichnen, aber die Erfahrung der Mehrheit der LGBT-Leute war immer noch von Angst und Isolation geprägt. Frank N. Further stand mit seinem Auftritt in Korsett und Strapsen für viele, die anders dachten und aussehen wollten und sich vorher nie auf einer Leinwand repräsentiert sahen.
Für Aktivistinnen und Aktivisten wie James Michael Nichols, die für LGBT-Rechte kämpften, bildete Rocky Horror »einen Anlaufpunkt und schuf eine Gemeinschaft für viele junge Homosexuelle und Menschen, die sich fühlten, als passten sie einfach nicht ins Bild«. Die Nebendarstellerinnen und -darsteller im Film fand der Regisseur Jim Sharman über eine Agentur namens »Ugly« (»häßlich«). Sie vermittelte Schauspielerinnen und Schauspieler, die nicht wie Fotomodelle aussahen. Nicht nur Schwule und Lesben konnten sich also angesprochen fühlen, sondern alle, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden.
Aufbruch in der Populärkultur
Die wachsende LGBT- und Frauenbewegung der 1970er Jahre beeinflusste auch ansonsten die zeitgenössische Populärkultur – von Lou Reeds »Walk on the Wild Side« (1972) über die transsexuellen Schauspielerinnen Holly Woodlawn und Candy Darling bis zum Album »The Man Who Sold the World« (1970), mit einem Foto des bisexuellen Sängers David Bowie in einem Kleid auf der Plattenhülle. Glam Rock, der gängige Geschlechterrollen in Frage stellte, führte die Hitlisten an. Diese Musikrichtung ebnete den Weg für den ein paar Jahre später aufkommenden Punk.
Musicals – bis dahin die Domäne einer verklemmten Mittelschicht – waren auch Teil der sexuellen Revolution. In dem Musikfilm »Cabaret« spielte Liza Minelli eine sexuell aktive Varietésängerin, das Hippiemusical »Hair« war berühmt für seine Nacktszenen, »Jesus Christ Superstar« (1971) brachte die Prostituierte Maria Magdalena auf die Bühne. Selten waren diese Musicals explizit politisch, aber sie bereiteten den Boden, auf dem Rocky Horror gedeihen konnte.
Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass mit der Parole »selbst entscheiden« auch die Bewertung von Kunst gemeint war. Rocky Horror fördert die Abschaffung der künstlichen Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur.
Dekor der B-Movies
Dabei geht es nicht nur um die Begeisterung für sogenannte B-Movies. In Franks Schloss hängen schlechte Reproduktionen von berühmten Kunstwerken (»American Gothic«, »Mona Lisa«, Michelangelos »David«). Manche Kritikerinnen und Kritiker interpretieren das als Zeichen für Franks schlechten Geschmack oder dafür, dass er als Außerirdischer keine Ahnung von Kunst hat. Aber Franks chaotische Ausstattung ist viel lebendiger als das, was man in bildungsbürgerlichen Wohnungen oder in Galerien zu sehen bekommt: Wir sollten uns zu der Kunst bekennen, die uns gefällt, statt immer dem Urteil von Experten zu folgen.
Der Film erzeugt eindrucksvolle ästhetische Effekte, indem er mit demselben Dekor und Budget wie B-Movies arbeitet – mit der Ausstattung in Primärfarben ähnelt er vor allem der Fernsehserie »Batman« aus den 1960er Jahren. Das bedeutet aber nicht, dass er sich gegen klassische Kunst positioniert. Der Drehbuchautor Richard O‘Brien beschrieb Frank als eine Mischung aus »Iwan der Schreckliche« des revolutionären russischen Regisseurs Sergei Eisenstein und Cruella De Vil aus dem Disney-Zeichentrickfilm »101 Dalmatiner«. Dr. von Scott ist ein zweiter Dr. Seltsam und zudem bedient sich die Geschichte – genauso wie der im Eröffnungslied genannte Film »Alarm im Weltall« – freimütig bei Shakespeares »Der Sturm«.
Humor und eingängige Melodien
Insgesamt beruht der Erfolg des Films hauptsächlich auf seinem Humor, den eingängigen Melodien und der hervorragenden darstellerischen Leistung der Schauspielerinnen und Schauspieler – allen voran Tim Curry als Frank und der jungen Susan Sarandon als Janet. Die beinahe universell gültige Botschaft, eigene Entscheidungen zu treffen – ob bei Kunst, Mode oder Sexualität – bedeutet, dass der Film mit jeder heranwachsenden Generation ein neues Publikum ansprechen kann. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, inwiefern Rocky Horror noch Relevanz besitzt. Die sogenannte Homoehe ist inzwischen in vielen Ländern eingeführt (wenn auch noch nicht ganz in Deutschland) und Szenen, die damals schockierten, sind heute überall im Internet und sogar tagsüber im Fernsehprogramm zu sehen.
Im Jahr 1975 war die Rocky Horror Picture Show einzigartig. Ist sie heute noch etwas Besonderes? Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass auch jetzt noch Zehntausende in Paris gegen die Homoehe oder Tausende in Berlin gegen das Recht auf Abtreibung demonstrieren. Frömmlerinnen und Frömmler machen mobil und allein, dass Rocky Horror weiter läuft, ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die unsere Selbstbestimmung beschneiden wollen. Frank N. Further, der trägt, was er will, und schläft, mit wem er will, ohne sich dafür zu entschuldigen, ist aber auch in der Kunst immer noch eine Seltenheit. In den letzten vier Jahrzehnten haben LGBT-Leute und andere gemeinsam gekämpft und viel gewonnen. Aber immer noch sieht man viel zu wenige Schwule, Lesben und Transgender auf der Leinwand, deren Geschichte nicht voller Elend ist. Rocky Horror zeigt, dass wir lustvoll und offen unsere Sexualität feiern und dabei gegen Ungleichheit kämpfen können.
»Arschloch« und »Schlampe«
Allerdings läuft Rocky Horror im Jahr 2015 nicht ohne Probleme. Neuerdings gibt es bedauerlicherweise Kritik, die behauptet, der Film und das Musical seien transphobisch, weil die Mehrheit der Transgender ganz anders als Frank sind – richtig, geht aber am Thema vorbei: es handelt sich nicht um einen Dokumentarfilm –, oder weil ein unsympathisches Publikum angezogen würde (auch teilweise richtig, dazu später mehr). Außerdem haben die Eigentümer der Rechte am Film und am Stück immer wieder versucht, ihre künstlerische Vision weiter auszubeuten. So etwa bei der Neuinszenierung des Musicals im Jahr 2000: Zusätzlich zu den 80 Dollar für die Karte sollten Besucherinnen und Besucher 10 Dollar für »Requisitenpakete“ ausgeben. Damit sollten sie für die Mitspielmöglichkeiten des Publikums ausgerüstet werden. Die ritualisierten Zuschauerreaktionen sind eigentlich Teil der gewachsenen Fankultur in den Mitternachtsvorstellungen: Das Publikum spricht und singt mit und wirft an bestimmten Stellen etwa mit Mehl oder Toastbrot.
Weil nicht genug Leute die Pakete kauften, bezahlte das Theater Schauspieler, die getarnt im Publikum saßen und von den Requisiten Gebrauch machten. Die einst spontanen Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer werden wohl auch noch von anderer Seite instrumentalisiert. Das Pärchen Brad und Janet wurde bei ihrem ersten Auftritt als »Arschloch« und »Schlampe« beschimpft. Zugegebenermaßen problematisch, aber man konnte das als Wut gegen den kleinbürgerlichen Konservatismus der beiden verstehen. Jetzt mehren sich Klagen, die Mitternachtsvorstellungen der kleinen Kinos würden in manchen Städten von Sexisten in Besitz genommen, die dort frauenfeindliche Beleidigungen grölen.
Anderswo ist das freie Mitspielen zur öden Pflicht geworden. Besonders in Theatern, wo die Karten am teuersten sind und das Publikum am weitesten von der Zielgruppe der Außenseiter entfernt ist, wird die innovative Verkleidung zur düsteren Uniform. Wo den Zuschauenden die eigenen Gedanken fehlen, werden sie von den Theaterbetreibern mitgeliefert.
Der Film als kollektives Erlebnis
Das klingt jetzt alles furchtbar, aber jedes Wochenende in irgendeinem heruntergekommenen Kino in New York oder im Sommer im Freiluftkino in Berlin-Wedding sieht es ganz anders aus: Dort kann man noch kreatives Zusammenspiel erleben, wenn das Publikum in einer Mischung aus Film und Theater mit der Leinwand interagiert – etwas, zu dem zeitgenössisches Kino kaum die Möglichkeit bietet. Der Film ist ein kollektives Erlebnis und nicht etwas, das man allein in der Dunkelheit konsumiert.
Darüber schrieb Jonathan Rosenbaum schon 1980 in der Filmzeitschrift »Sight and Sound«: »Vielleicht das Interessante am Kult um die Rocky Horror Picture Show ist, dass er – wie ein verwunschenes Haus – das Kino als Gemeinschaft wachruft und auf seltsame Weise wieder zum Leben erweckt. Solches Kino gab es einst in den USA, als Hollywood seine Blütezeit erlebte. Damals war ein Kinobesuch automatisch ein soziales Ereignis, die sprichwörtliche ›night at the movies‹, und sogar eine kollektive Form der Selbstdarstellung – ein Moment, in dem es erhebend war, und nicht etwa peinlich, neben anderen Leuten in der Dunkelheit zu sitzen.«
In einer Zeit, wo das Kino überwiegend von Computeranimationen und den explodierenden Kosten der Trickeffekte bestimmt wird, kann es sehr erfrischend sein, Filme zu sehen, deren Wert in ihrem Inhalt und der Schauspielerei liegt. Umso besser, wenn sie zudem die Botschaft von sexueller Selbstbestimmung und Anerkennung verbreiten – wie es die Rocky Horror Picture Show seit vierzig Jahren tut.
Die Rocky Horror Picture Show läuft diesen Sommer zum Beispiel noch in folgenden Kinos:
Freiluftkino Friedrichshagen, Berlin: 28. August 2015, 20.30 Uhr
Freiluftkino Rehberge, Berlin: 29. August 2015, 19.30 Uhr
Sion Sommerkino am Rheinauhafen, Köln: 21. August 2015, 21.30 Uhr
Museum Lichtspiele, München: jeden Freitag und Samstag in der Spätvorstellung, ca. 23 Uhr
Foto: Thomas Hawk
Schlagwörter: LGBT, Transgender