Die Journalistin Andrea Röpke hat ein Jahrbuch zur rechten Gewalt in Deutschland vorgelegt. Hier stellt sie ihren Befund dar: Im Schatten des Aufstiegs der AfD machen sich militante Neonazis, Reichsbürger und Rechtsterroristen breit
Im Jahr 2017 sind es nicht mehr die Bilder von lichterloh brennenden Flüchtlingseinrichtungen und einem wütenden Mob auf den Straßen, die den Hass in Deutschland symbolisieren. Im Jahr 2017 machen rechte Verschwörerkreise mitten in der Gesellschaft von sich reden. Staatsdiener sollen Anschläge und Attentate geplant haben, lauten die Meldungen. Geheime Zellen von Bundeswehroffizieren und Polizisten horten für den Fall eines Umsturzversuchs Waffen und Munition. In kurzen zeitlichen Abständen enttarnt das Bundeskriminalamt 2017 die Gruppe um Oberleutnant Franco A. aus Offenbach sowie die »Nordkreuz«-Chatgruppe aus Mecklenburg-Vorpommern, zu der ein Rechtsanwalt sowie Reserveoffiziere und Polizisten zählen.
Verfassungsschutz verharmlost »Reichsbürger«
Akteure beider konspirativer Zellen sind miteinander verbunden. Dass es weitere ähnliche Gruppierungen geben könnte, ist wahrscheinlich. »Reichsbürger« sind seit 2016 für den Tod eines Polizisten und mehrere Verletzte verantwortlich. 15.000 dieser politischen Verschwörungstheoretiker soll es inzwischen geben, doch erst im Dezember 2016, also zwei Monate nach den tödlichen Schüssen eines »Reichsbürgers« in Bayern, stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz sie als staatsfeindliche Bewegung ein. Die Warnung kommt spät und halbherzig. Denn der Inlandsgeheimdienst sieht nur einen Bruchteil der »Reichsbürger« als rechtsextrem an. Hierbei handelt es sich um eine politische Verharmlosung.
Die Ämter des Verfassungsschutzes versagten bereits im Hinblick auf die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) rigoros. Auch der Umgang mit vermeintlich unpolitischen Hooligans scheint skandalös. Gruppen wie die Faust des Ostens aus Dresden, Standarte Bremen oder Inferno Cottbus verbreiteten nicht nur in den Fankurven Angst, sondern auch im vorpolitischen Raum. Weitestgehend unbeachtet konnten sich Neonazis mit dynamischen und gewaltaffinen Subkulturen wie Hooligans, Teilen des Kampfsports bis hin ins kriminelle Spektrum der Rockerszene vermischen. Brotherhood, La Familia oder Riot waren bisher Begriffe, die nicht mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht wurden. Die Milieus aber verbünden sich, rekrutieren Nachwuchs und werden zu einer unberechenbaren politischen Größe, wie sich bereits beim Aufmarsch von über 5000 Anhängern im Jahr 2014 in Köln zeigte.
Eine Explosion rassistischer Gewalt
211-mal wurden Flüchtlingsunterkünfte in den ersten neun Monaten des Jahres 2017 angegriffen, meistens von Neonazis. Im Vorjahr waren es 921 Attacken auf Heime und ihre Bewohner, die registriert wurden. 93 Prozent der Taten waren rechtsradikal motiviert. Der Trend ist rückläufig, weil es weniger Einrichtungen gibt und kaum noch neue bezogen werden. Doch Ressentiments, Ablehnung und Übergriffe gegen Migranten und Geflüchtete reißen in Deutschland nicht ab.
Die Explosion rassistischer Gewalt um die Jahre 2015 und 2016 ist im Nachhinein betrachtet weniger spontan verlaufen als zunächst angenommen. Sie war vor allem dort stark, wo Neonazis und Rechte sich verankert hatten. Szene-Profis, darunter zahlreiche Frauen, mischten sich unter bürgerliche Antiasylinitiativen und heizten die Stimmung mit an.
Wichtiges Sprachrohr des Hasses wurde ab 2014 Pegida, deren Ableger sowie Hunderte von Antiasylinitiativen. Sie profitierten vom Zulauf aus den Communities von Spätaussiedlern, Waffenlobbyisten, Burschenschaften, völkischen Kreisen oder christlichen Fundamentalisten.
Die AfD lässt endgültig die Maske fallen
Nutznießer des gesellschaftlichen Rechtsrucks ist in Deutschland die Partei Alternative für Deutschland (AfD). Ihr gelang in wenigen Jahren der Einzug in 14 von 16 Landesparlamenten und schließlich 2017 auch in den Bundestag. Ein breit aufgestelltes Zusammenwirken zwischen Teilen von Pegida, Antiasylinitiativen, Identitärer Bewegung, Islamhassern, Szene-Medien, »Neuer Rechten« und anderen Gruppen im außerparlamentarischen Spektrum ermöglichte es der AfD, mit Hass und rassistischer Gewalt nicht unmittelbar in Verbindung gebracht zu werden.
Inzwischen verstecken sich Rassisten und völkische Nationalisten in der AfD nicht mehr. Nach der erfolgreichen Bundestagswahl im Oktober 2017 wird im eigenen Stall ausgekehrt: Politische Schwächlinge und Wendehälse weichen vor der harten Linie des innerparteilichen Machtzentrums um Alexander Gauland und anderen. Kritiker des extremen Höcke-Flügels werden kaltgestellt. Die AfD lässt endgültig die Maske fallen.
Rassismus gewinnt weltweit an Boden, er hat das Potenzial, gesellschaftlichen Unfrieden massiv zu erhöhen. Pseudowissenschaftliche Vorstellungen von »Rasse«, verbal verschleiert als »Volkskörper« oder »fremdes Genmaterial«, ziehen gefährliche politische Schlussfolgerungen wie den gesellschaftlichen Ausschluss bestimmter Menschengruppen nach sich. Teile der AfD betreiben eine völkisch-nationalistische Diskurserweiterung und gesellschaftliche Entgrenzung bis hin zur brachialen Gewalt.
»Grube ausheben, alle rein und Löschkalk rauf«
Wessen Geistes Kinder auch in der AfD zu finden sind, zeigen nicht zuletzt geheime Chatprotokolle des damaligen mecklenburg-vorpommerischen Landtagsabgeordneten Holger Arppe, die im Herbst 2017 publik wurden. Im August 2015 schrieb er, damals noch als Rostocker Stadtrat, an Parteikollegen: »Wir müssen ganz friedlich und überlegt vorgehen, uns ggf. anpassen und dem Gegner Honig ums Maul schmieren, aber wenn wir endlich soweit sind, dann stellen wir sie alle an die Wand. (…) Grube ausheben, alle rein und Löschkalk oben rauf«. Er ergänzt: »Da muss man einfach ausrasten und erstmal das ganze rotgrüne Geschmeiß aufs Schafott schicken. Und dann das Fallbeil hoch und runter, dass die Schwarte kracht!«.
Das Verstörende an rechter Gewalt ist die Banalität, mit der sie jederzeit und überall auftreten kann. 2017 war es die Frankfurter Buchmesse. Am 13. Oktober wurde der 74-jährige Musikverleger Achim Bergmann am Buchstand der Wochenzeitung »Junge Freiheit« niedergeschlagen, weil er Kritik an den Rechten geäußert hatte. Martin Sellner, Sprecher der Identitären Bewegung, betont bei seiner Rede am dritten Jahrestag von Pegida in Dresden 2017: »… bevor sie das Volk ausgetauscht haben, werden wir unsere Politiker austauschen, das versprech ich Ihnen. Wir holen uns zurück, was uns gehört. Stück für Stück, Haus für Haus. Buchmesse für Buchmesse.«
Nichtregierungsorganisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung zählen gemeinsam mit Journalisten 192 durch Rechte getötete Menschen seit 1990. Terrorforscher Daniel Köhler, Direktor des German Institute on Radicalization and Deradicalization Studies im kanadischen Calgary, hat 92 rechtsterroristische Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland seit 1963 gezählt. Eine mehr als erschreckende Bilanz.
Breivik und das Phänomen »Einsamer-Wolf«
Das Phänomen »Einsamer-Wolf-Terrorist« ist auf dramatische Weise virulent, betont der Bonner Politikwissenschaftler Florian Hartleb in einem Artikel für die Gewerkschaft der Polizei. Die Bezeichnung »Lone-Wolf-Terrorism« wurde von US-Behörden eingeführt und popularisiert, erklärt er. Der Begriff geht zurück auf den militanten weißen Rassisten Alex Curtis, der Ende der 1990er-Jahre Gleichgesinnten empfahl, ganz auf sich gestellt Anschläge zu begehen. Der Einsame-Wolf-Terrorismus stehe »in begrifflicher Verwandtschaft« mit dem Konzept des führerlosen Widerstands (Leaderless Resistance), bei dem die Anschlagsplanung durch kleine, unabhängig voneinander agierende Zellen durchgeführt wird.
Hartleb nennt als dramatischstes Beispiel für die Einsame-Wolf-Theorie den Rechtsterroristen Anders Behring Breivik aus Norwegen. Der 32-Jährige tötete am 22. Juli 2011 zunächst mit einer Autobombe im Regierungsviertel von Oslo acht Menschen und richtete wenige Stunden später, als Polizist verkleidet, auf der kleinen Insel Utøya ein Massaker unter rund 500 sozial und politisch engagierten Menschen an. 69 wurden getötet, 33 verletzt. Hartleb betont den »starken politischen Hintergrund« dieses Terrorismus. Die Tat könne daher nicht als Amoklauf abgetan werden. Breivik genießt Vorbildcharakter in Teilen der neonazistischen Szene.
Amoklauf oder Rechtsterror?
Bei rechten Tätern scheinen die behördlichen Einschätzungen eher zum Amoklauf als zum Terrorakt zu tendieren. So auch im Fall von David Ali Sonboly. Der 18-jährige Deutsch-Iraner erschoss am 22. Juli 2016, dem Jahrestag des norwegischen Massakers, Armela Segashi, Can Ley-la, Chousein Daitzik, Dijamant Zabergja, Guiliano Josef Kollmann, Janos Roberto Rafael, Sabine Sulaj, Selcuk Kilic und Sevda Dag im Olympia-Einkaufszentrum in München. Offiziell galten diese Morde zunächst als nichtpolitischer Amoklauf, der Täter als psychisch labiler Rächer. Die Staatsanwaltschaft München, das Landeskriminalamt und die Staatsregierung vertraten die Auffassung, der Schüler habe nach Mobbingattacken aus »privaten beziehungsweise psychopathischen Gründen« gehandelt. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Im Oktober 2017 aber kommen drei von der Fachstelle für Demokratie der bayerischen Landeshauptstadt beauftragte Gutachter unabhängig voneinander zu einem anderen Ergebnis.
Die Sozialwissenschaftler Matthias Quent, Christoph Kopke und der Politikwissenschaftler Florian Hartleb stufen die neun Morde als politisch motivierte Kriminalität ein und fordern dazu auf, die von Sonboly Getöteten als Opfer rechter Gewalt anzuerkennen. Denn alle Opfer hatten einen Migrationshintergrund. Sonboly hatte ein festes extrem rechtes Weltbild und sei stolz darauf gewesen, ein »Arier« zu sein. Sein Hass fokussierte sich auf Türken, Albaner und Bosnier. Die Gutachter kritisieren auch die polizeiliche Fixierung auf Mobbing als Auslöser der Tat. Sie betonen, dass David Sonboly nach dem Wechsel an eine neue Schule sogar Klassensprecher wurde. Das Geschehen könne »als Akt eines allein handelnden Terroristen« bezeichnet werden, heißt es im Gutachten des Direktors des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent. Sein Kollege Hartleb bezeichnet Sonboly als Rechtsterroristen der Kategorie »Einsamer Wolf«.
Rechte Gewalt und »führerloser Widerstand«
Aus der Sicht von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann kann Sonboly kein Rechtsterrorist sein, weil bei ihm kein Parteiausweis gefunden wurde, er niemals einer extrem rechten Organisation angehört habe. Hartleb kontert in seiner Studie, dass es bei islamistischen Einzeltätern für eine Einstufung als »Terrorist« hingegen schon genüge, »wenn der Gewalttäter ein IS-Symbol im Zimmer oder auf dem Rucksack hat«. Nach Ansicht des Experten gehe die Argumentation, man müsse bei rechtsterroristischen Verbrechen eine Partei- oder Kameradschaftszugehörigkeit nachweisen, »von dem stark antiquierten Verständnis aus«, im virtuell geprägten Zeitalter sei ein »Einsamer-Wolf-Terrorismus« nicht mehr zeitgemäß.
Im Mai 2017 erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main Anklage gegen John Ausonius wegen Mordes. Der Schwede mit deutsch-schweizerischen Wurzeln ist in seinem Heimatland als »Lasermann« bekannt geworden, da er ein Gewehr mit Laserzielvorrichtung benutzte. Seine Opfer waren Einwanderer, acht überlebten die Schüsse schwerverletzt, der iranische Student Jimmy Ranjbar aber wurde von Ausonius aus nächster Nähe getötet. 1994 verurteilte ein schwedisches Gericht den Rassisten zu lebenslanger Haft, 2016 wurde er ausgeliefert. Ausonius, dessen Mutter aus Deutschland stammt, wird zudem vorgeworfen, 1992 in Frankfurt am Main die 68-jährige Jüdin Blanka Zmigrod mit einem Kopfschuss getötet zu haben. In einem Interview sagte er 2015, seine Taten würden Flüchtlinge »abschrecken und so dazu beitragen, dass weniger von ihnen nach Schweden kommen«. Den Mord an der Frankfurterin Zmigrod 1992 streitet John Ausonius ab, zu den anderen Taten bekannte er sich erst im Jahr 2000. Im selben Jahr erkor der britische Ableger des internationalen Neonazi-Netzwerks »Blood & Honour« den »Lasermann« in seinem Field Manual (Feldhandbuch) zum Vorbild für das Modell des »führerlosen Widerstands«.
NSU-Komplex und Verfassungsschutz
Nach über vier Jahren geht der Terrorprozess gegen den NSU vor dem Landgericht in München allmählich zu Ende. Die Generalbundesanwaltschaft fordert für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Ihre vier Mitangeklagten sollen viele Jahre ins Gefängnis. Das harte Vorgehen der Anklagebehörde aus Karlsruhe kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Fragen im NSU-Komplex unbeantwortet geblieben sind. Die meisten Angehörigen der zehn vom NSU Ermordeten glauben nach wie vor nicht an eine zufällige Auswahl ihrer Familienmitglieder als Opfer. Nach aktuellem Stand sollen sich über vierzig V-Leute im Umfeld des 1998 abgetauchten Kern-Trios des NSU aufgehalten haben. Doch was sie wirklich wussten, und vor allem, welche Informationen sie genau an die Behörden weitergegeben haben, wird nicht offengelegt. Trotz gegenteiliger Erkenntnisse sprachen die obersten Ankläger deutsche Behörden von jeder Verantwortung am NSU-Terror frei.
Das »Jahrbuch rechte Gewalt« will denen Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, die in Angst leben in diesem Land. Opfer rechter Gewalt sollten nicht ins Vergessen abgeschoben werden, es gibt eine gesellschaftliche Verantwortung, der es sich zu stellen gilt. Der Dialog mit den Opfern, nicht mit den Tätern, ist vorrangig und macht die Qualität einer Gesellschaft aus, in der sich alle wohlfühlen. Für die Aufklärung gewaltbereiter Strukturen ist investigative journalistische Recherche notwendig. Das stört die Rechten. Lautstark fordern sie die Fairness ein, die sie anderen nicht gewähren. Wichtiger als ihr Gezeter ist aber die Frage: Was verschweigen sie?
Die Autorin: Andrea Röpke ist eine führende Journalistin zum Thema Rechtsradikalismus. Ihre Texte erscheinen in der SZ, im »Spiegel«, »Focus« und »Stern«. Für ihre Arbeit wurde sie mehrmals ausgezeichnet, unter anderem als »Reporterin des Jahres« und »Journalistin des Jahres«. Ihr »Jahrbuch rechte Gewalt 2017« versammelt erstmals in einer Chronik alle Gewaltverbrechen mit rechtsradikalem Hintergrund, dokumentiert einzelne Fälle und Täter in Reportagen und Porträts. Dieser Text ist eine gekürzte Version des Vorworts.
Das Buch:
Andrea Röpke
2017 Jahrbuch rechte Gewalt
München 2017
Knaur TB
304 Seiten
12,99 Euro
Foto: HU Kampa
Schlagwörter: AfD, Amoklauf, Geheimdienst, Gewalt, Nationalsozialistischer Untergrund, Nazis, NSU, NSU-Morde, Rechtsterror, Rechtsterrorismus, Terror, Verfassungsschutz