Vom Sozialdarwinismus zum Kampf der Kulturen. Ein Beitrag von Volkhard Mosler aus unserer Theoriezeitschrift theorie21.
Mit Tiraden gegen Muslime und Migranten lässt sich derzeit gut Geld machen. Nachdem schon Thilo Sarrazin mit seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« alle Verkaufsrekorde für politische Sachbücher in den letzten Jahren durchbrochen hat, meldete sich mit dem Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, Buschkowsky, jüngst ein weiterer »Tabubrecher« zu Wort. Auch er macht eine angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft und kulturelle Rückständigkeit von Migranten für die sozialen Probleme in den Großstädten verantwortlich. Sarrazin und Buschkowsky, Demagogen eines neuen Rassismus, stellen jedoch nur die Spitze des Eisbergs einer Tendenz dar, die sich in den letzten Jahren ausgeprägt hat. Im Rahmen des so genannten »Kriegs gegen den Terror« wurde von Massenmedien und Politikern die Angst vor Muslimen geschürt, was Wirkung zeigt: Übergriffe auf Menschen muslimischen Glaubens haben in den letzten Jahren drastisch zugenommen, und rechtspopulistische Parteien mit rassistischer Programmatik bekommen in vielen Staaten Europas Zulauf.
Diese Entwicklung ist nicht das Produkt verblendeter Einzeltäter, sondern sie hat System. Rassismus begleitete die Entstehung des Kapitalismus seit seinen Anfängen, wenn sich auch seine politischen Mittel den jeweiligen Umständen anpassten und auch seine ideologischen Formen einem stetigen Wandel unterlagen.
Dieser Artikel will zweierlei leisten: Erstens, eine marxistische Erklärung zu Entstehung, Wandel und Wirkungsweise des Rassismus zur Debatte zu stellen, und zweitens, daraus Schlussfolgerungen für den Kampf gegen Rassismus heute zu ziehen.
Die zentrale These dieses Artikels lautet: Rassismus liegt weder in der Natur des Menschen, noch ist er eine spontane Reaktion von Menschen auf politische oder soziale Krisen. Rassismus ist eine »von oben« konstruierte Ideologie, ein Beispiel dafür, dass, wie Marx und Engels es formulierten, die »Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken sind.«1 Rassistische Ideologie wird unter bestimmten Umständen von den unterdrückten Klassen verstärkt aufgenommen – vor allem dann, wenn keine politischen Alternativen zur Verfügung stehen und sie keine dem Rassismus entgegenstehenden Erfahrungen von Solidarität machen.
Die rassistische Ideologie selbst ist historischem Wandel unterworfen: Die in der Vergangenheit dominanten, biologisch argumentierenden Rassentheorien sind auf dem Rückzug. Theorien kultureller Differenz, zum Beispiel zwischen »dem Westen« und der »islamischen Welt«, sind hingegen auf dem Vormarsch. Die Funktion des Rassismus bleibt jedoch gleich: Er nutzt den Herrschenden, weil er die Unterdrückten spaltet und so Kämpfe demobilisiert – deshalb die unermüdliche rassistische Ideologieproduktion der herrschenden Klassen in vielen Staaten der Erde.
Konservative Theorien des Rassismus
In Rostock-Lichtenhagen ereignen sich im August 1992 die schwersten rassistischen Ausschreitungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Über mehrere Tage greifen Hunderte Neonazis die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern an. Sie grölen, sie prügeln, sie zündeln: »Jetzt werdet ihr geröstet«, »Ausländer raus«, »Sieg Heil« und »Wir kriegen euch alle«. Unter dem Beifall von 2000 Anwohnern steckt der Mob ein Hochhaus in Brand, in dem 100 Vietnamesen und einige Deutsche eingeschlossen sind. Nur weil die Eingesperrten sich selbst befreien können, wird niemand getötet.
Zwanzig Jahre später, am 25. August 2012, nimmt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Leitartikel das Thema Lichtenhagen auf. Unter dem Titel »Terror gegen Asylanten. Lichtenhagen: Ende der Sozialromantik« schreibt Jasper von Altenbockum, verantwortlicher Redakteur für Innenpolitik: »Die Exzesse gegen Asylbewerberheime Anfang der neunziger Jahre, denen Mordanschläge wie in Mölln und Solingen folgten, markierten das Ende der Utopie namens Multikulturalismus. Sie war gerade erst geboren worden und trug schon den Keim des Scheiterns in sich. Die Vision einer neuen Gesellschaft, in der die alten, spießigen Bürger keinen Platz mehr haben sollten, wirkte im Osten doppelt fatal. Denn sie kam als westdeutscher Import, als Teil der Wende daher, die nicht nur der Ausländer wegen Überfremdungsängste weckte. […] In Rostock und anderswo in Deutschland war längst ein makabres politisches und soziales Experiment im Gange: Wie lange hält es eine Gesellschaft aus, dass Monat für Monat zehn-, zwanzig- oder auch dreißigtausend Asylbewerber ins Land strömen? Das war verantwortungslos. Nur Romantiker können das nicht verstehen.« Für ihn hatte das Pogrom einen konkreten politischen Nutzen: »Erst ›Lichtenhagen‹ brachte manche dieser Sozialalchimisten zur Besinnung.«
Szenenwechsel: Im Februar 2011 nimmt Reinhard Grindel, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Bundesinnenausschuss, Stellung zu einem Antrag der Linksfraktion. Die Linke hatte die Abschaffung von Frontex, des EU-Grenzregimes zur Flüchtlingsabwehr, gefordert. Grindel antwortete: »Ihr Antrag hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben. Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hunderttausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen. Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit schüren.«
Von Altenbockum und Grindel formulieren die zentrale Rassismustheorie der Konservativen: Ursache von Rassismus ist eine zu große Zahl von Einwanderern. Rassismus ist aus dieser Sicht ein spontaner Reflex auf »Überfremdung«, eine anthropologische Konstante, vergleichbar mit der Verteidigung des Territoriums bei Tieren. Zu dieser Theorie passen die von dieser Seite angebotenen politischen Lösungen: Restriktive Migrationspolitik und die Durchsetzung einer »Leitkultur«, der sich Migranten zu unterwerfen haben oder aber aus dem Volkskörper so oder so zu entfernen sind.
Heitmeyers sozialpsychologischer Ansatz
Deutlich anders setzt sich der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld, seit Jahren mit den Ursachen von Rassismus auseinander. Im Jahr 2011 erschien der vorläufig letzte Band eines groß angelegten Forschungsprojektes über Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und weitere Elemente einer »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«. Von 2002 bis 2011 wurden im Rahmen der Studie 23.000 Personen befragt. Unter dem Obertitel »Deutsche Zustände« erschienen zehn Bände mit 150 Aufsätzen zu verschiedenen Themen aus diesem Bereich.
Wenn wir uns im nachstehenden Aufsatz kritisch mit einigen zentralen Aussagen der Studie auseinandersetzen, so wollen wir zunächst die Verdienste der Studie benennen. Heitmeyer bezeichnet das zurückliegende Jahrzehnt als ein Jahrzehnt der »Entsicherung«. Der »früher gezähmte Kapitalismus sei außer Kontrolle geraten«,2 gesellschaftliche »Instabilität sei zur neuen Normalität geworden«.3 Die Autoren stellen sich dann die richtige und wichtige Frage nach dem Zusammenhang von wahrgenommenen Entsicherungsprozessen (Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, Zerfall der Normalerwerbsbiografie, andauernde Prekarisierung der Arbeitswelt u.a.) und Desintegrationsprozessen in Form von Fremdenfeindlichkeit und Elementen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. So haben die Erhebungen der Studie für die Jahre 2011 und 2012 eine Tendenz zum »Klassenkampf von oben« festgestellt. Gerade unter den Gutverdienern wurde festgestellt, dass als »nutzlos und ineffizient deklarierte Gruppen wie Hartz-IV-Empfänger und Langzeitarbeitslose« zunehmend abgewertet werden.
Mit den letzten beiden Bänden weisen die Autoren auch nach, was vielfach bis weit in liberale und linke Kreise gerne übersehen wird: Auch in Deutschland gibt es eine wachsende Islamfeindlichkeit. In Band 9 heißt es, dass kein Element des Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit »in der jüngsten Zeit den öffentlichen Diskurs so bestimmt« habe wie die Islamfeindlichkeit.4 Die Autoren fanden auch heraus, dass die angeblich so aufgeklärte »christliche« Mehrheit unserer Gesellschaft selbst in hohem Maße sexistische und homophobe Vorurteile hat. Vorwürfe gegen Muslime, diese seien nicht integrationsfähig, weil sie sexistische Einstellungen hätten, wurden so als rassistisch motiviert überführt, auch wenn die Autoren den Begriff »rassistisch« meiden. Und es ist das Verdienst der Langzeituntersuchung, immer wieder öffentliche Debatten über ansonsten unterbelichtete Themen wie Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile gegen Minderheiten angestoßen zu haben.
Heitmeyer erklärt den Rassismus offenkundig anders als die Konservativen: Er sieht in der politischen und sozialen Entsicherung von Lebenslagen infolge von kapitalistischen Krisenprozessen die Ursache. Aber auch dieser Erklärungsansatz greift zu kurz und die Methodik und Schlussfolgerungen der Studie werfen große Fragen auf. Das erste Problem liegt im Begriff der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (GMF) selbst. Heitmeyer hat den Begriff in den 1990er Jahren in Abgrenzung zu einem von ihm scharf kritisierten »schwärmerischen Antirassismus« entwickelt.5 Heitmeyer bezichtigte die Akteure der antirassistischen Bewegung nach den Pogromen von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) eines »inflationären und undifferenzierten Gebrauchs« des Rassismusvorwurfs.
Die begriffliche Scheidung von Rassismus und Antisemitismus erlaubt auch die Erfindung eines nichtrassistischen Antisemitismusbegriffs. In Band 10 der Studie schreibt Anetta Kahane, dass »der moderne Antisemitismus […] fast immer einen weltpolitischen Zusammenhang zu Israel hat«. Die »Idee der Arbeit gegen strukturellen Rassismus« entspräche dagegen »nicht mehr den Realitäten«.6 Kritik an Israel und Antiimperialismus folge »dem alten Bild einer jüdischen Weltverschwörung«.7 Auch der sozialdarwinistische Rassismus der Nazis wird rückschauend zu einer Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erklärt.8 In dieser Sichtweise ist auch der Holocaust kein spezifisch rassistisches mörderisches Projekt mehr, sondern nur eine der vielfältigen Erscheinungsformen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die lose Sammlung der Erscheinungsformen unter dem Oberbegriff gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ohne Bezug auf die ideologische Grundlage dieser Phänomene führt dazu, dass Rassismus in der Studie so gut wie keine Rolle spielt.9 Das ist keine bloße Frage der definitorischen Begrifflichkeit. Rassistische Ideen und Ideologien haben in der Geschichte des Kapitalismus eine besonders bedrohliche, menschenfeindliche Rolle gespielt. Im Namen der Reinheit der Rasse wurde wertes von unwertem Menschenleben geschieden und haben Menschen andere Menschen verfolgt, vertrieben und ermordet. Rassistische Ideen spalten die unterdrückten Klassen wie kein anderes Vorurteil.
Eine Aufreihung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit oder auch Antiziganismus als Formen der GMF macht so wenig Sinn wie eine Aufreihung von Obst und Äpfeln oder Birnen, weil es sich hier um Gattungsbegriffe handelt, dort um Unterarten. Sechs von insgesamt zwölf Elementen der GMF sind nur Unterarten des Rassismus, werden aber im Modell der GMF als eigene Vorurteilsformen aufgeführt. Das GMF-Element »Rassismus« bezeichnen die Autoren der Studie als identisch mit Vorurteilen auf der Basis äußerlicher, unveränderbarer Merkmale wie Hautfarbe (Weiße gegen Schwarze). Die Auflösung des Rassismus in die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit macht es auch schier unmöglich, eine antirassistische Strategie zu entwickeln – ihr fehlt das Objekt, gegen das sie sich wenden kann.
Ein weiteres Problem der Studie ist, dass sie zu fatalistischen und pessimistischen Schlussfolgerungen führen muss Die zentrale These der Studie lautete zu Beginn, wachsende soziale Unsicherheit oder »Entsicherung« (zum Beispiel infolge von wachsender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt) trage dazu bei, dass »Menschen gewaltbereiter und menschenfeindlicher agieren«.10 Das ist zweifellos ein historisch zu beobachtender Zusammenhang. Jedoch – und hier wird der mangelnde Bezug zum Begriff des Rassismus als Ideologie deutlich – werden in zahlreichen Aussagen der Studie diese Zusammenhänge in viel zu direkter, unvermittelter Form behauptet. So wird zum Beispiel ein Zusammenhang festgestellt »zwischen wahrgenommenen Chancen auf einen Arbeitsplatz […] und dem Ausmaß der Abwertung von Migranten (als potenziellen Konkurrenten um Arbeitsplätze)«. Dies sei durch die Daten der Erhebungen in den Jahren nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 nachgewiesen worden, es gebe einen »direkten Effekt der sozialen Unterstützung auf fremdenfeindliche Einstellungen«.11
»Die Angst vor Prekarisierung […] und die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse« führe dazu, dass »eine Öffnung im Alltagsbewusstsein für rechtspopulistische und teilweise auch rechtsextremistische Orientierungen wahrscheinlicher wird«. Wer wollte dem widersprechen, dass eine solche Öffnung in Krisenzeiten des Kapitalismus wahrscheinlicher wird? Wahrscheinlicher wird aber auch das Gegenteil, nämlich Klassenkämpfe von unten, Solidarisierungsprozesse auf der Basis gemeinsamer Klassenlage. Beide Phänomene sind in Europa als Reaktion auf die Krise von 2008 zu beobachten. Die wirklich spannende Frage, warum sich die eine oder aber die andere Reaktion durchsetzt, ob sich Klassenkämpfe von unten und Solidarität der Unterdrückten auch über ethnische Zugehörigkeiten hinweg (Deutsche und »Ausländer«) entwickeln, oder ob es zum Anwachsen von Islamfeindlichkeit (wie in den letzten beiden Jahren des Untersuchungszeitraums) kommt, ist damit nicht beantwortet. Ungeklärt bleibt auch die Frage, wie es dazu kommt, dass Menschen, die selbst unter Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Arbeit leiden, Muslime oder Migranten verantwortlich für die erfahrene soziale Entwertung machen.
Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang von Krise und Rassismus im Sinne eines Modells von »Reiz und Reaktion«, von erfahrener Prekarisierung und wachsendem Rassismus? Heitmeyer ist darin zuzustimmen, dass es einen Zusammenhang gibt. Aber wie stellt sich dieser Zusammenhang her und vor allem: Wie direkt oder wie vermittelt ist er? Und kann man diesen Zusammenhang für die Entstehung rassistischer Einstellungen heute behaupten? Heitmeyer kommt in gefährliche Nähe zu der konservativen Ideologie, Rassismus als einen natürlichen Reflex darzustellen – nur mit dem Unterschied, dass dieser nicht auf die Anwesenheit von Migranten, sondern auf drohenden oder tatsächlichen sozialen Abstieg erfolgt. Das ist nicht nur fatalistisch, sondern lässt eine Ebene komplett außen vor: den »Rassismus von oben«, das bewusste Einwirken der herrschenden Klasse und ihrer Ideologie auf Einstellungen und Meinungen.
Dabei handelt es sich um ein grundsätzliches methodisches Problem des Instruments Meinungsumfragen. So wenig wie ein Fieberthermometer Aufschluss über die Ursache einer Krankheit gibt, so wenig sagen uns Meinungsumfragen irgendetwas über die Ursache und den Entstehungszusammenhang von Einstellungen. In einer Kritik der empirischen Sozialforschung haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Aussagen und Resultate von Meinungsumfragen, insbesondere der Vorurteilsforschung, hinterfragt: »Ohne kritische Reflexion darüber, dass die Verhaltensweisen und Bewusstseinsinhalte der Individuen unendlich vermittelt, gesellschaftlich produziert sind«, falle »die empirische Sozialforschung ihren eigenen Ergebnissen zum Opfer«. Und: »Wesentliche gesellschaftliche Tendenzen« richteten sich »oftmals nicht nach dem statistischen Querschnitt der Gesamtbevölkerung, sondern nach den stärksten Interessen und nach denen […], die die öffentliche Meinung machen«.
In dieser Kritik an der empirischen Sozialforschung kommt die Marx’sche Erkenntnis zur Geltung, nach der die »Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken [sind], das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht«.12 Wenn Bewusstseinsinhalte »gesellschaftlich produziert« sind, dann stellt sich die Frage nach ihrem wahren Ursprung oder nach ihren Produzenten. Wie kommt es dazu, dass Menschen in prekären, unsicheren Beschäftigungsverhältnissen auf die Idee kommen, dass daran Migranten, Flüchtlinge oder Muslime schuld sein könnten? Dieser Zusammenhang ist keineswegs »erfahrbar«, ihm liegt keine Wirklichkeit, keine Objektivität gesellschaftlicher Zustände zugrunde. Theodor W. Adorno hat in seinem Aufsatz »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit« auf die Falschheit des Gedankens verwiesen, dass »der Antisemitismus etwas Wesentliches mit den Juden zu tun habe«. Das Gleiche ließe sich von der grassierenden Islamfeindlichkeit, von Fremdenfeindlichkeit und von rassistischen Einstellungen überhaupt sagen. Wer nach den Erfahrungen der Menschen mit rassistischen Vorurteilen fragt, der stellt zunächst eine falsche Frage. Nach der Wiedervereinigung war Sachsen-Anhalt, das Bundesland mit dem niedrigsten Ausländeranteil, auch jenes mit den meisten ausländerfeindlichen Übergriffen.
Die Interpretation von Erfahrungen durch die einzelnen Individuen hängt von sehr vielen Faktoren ab. Ein wichtiger Faktor dabei ist die »Meinung der Herrschenden«, präsentiert durch die Medien, die sich in ihrem Besitz befinden oder – bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten – weitgehend unter ihrer politischen Kontrolle stehen. Das soll heißen: Der Werbeslogan der BILD–Zeitung »BILD Dir Deine Meinung« – von den Ärzten in ihrem Song »Lass die Leute reden« in der Textzeile »Die meisten Leute haben ihre Bildung aus der Bild« aufgegriffen – gibt einen Hinweis darauf, dass die Schlagzeilen dieser Zeitung ein zentraler Faktor bei der Entstehung des von Heitmeyer und anderen beobachteten und gemessenen Anstiegs bestimmter Formen des Rassismus sind (zum Beispiel für den steigenden antimuslimischen Rassismus in den letzten beiden Jahren). Die von Heitmeyer konstatierte Prekarisierung und Angst vor sozialem Abstieg ist real, doch die Ablenkung des daraus resultierenden Frusts auf Migranten, Minderheiten oder vermeintliche »Sozialschmarotzer« ist eine bewusste Strategie der Herrschenden. Wachsende materielle Verunsicherung kann die Aufnahme von Rassismus unter Umständen erleichtern, ist aber nicht deren Bedingung – das Westdeutschland der Nachkriegszeit brachte niedrige Arbeitslosigkeit und einen beispiellosen sozialen Aufstieg breiter Schichten, dennoch waren rassistische Einstellungen weitverbreitet. In den USA der 1950er und 1960er Jahre gab es beides zugleich – die »Goldenen Jahre« des längsten Booms der Nachkriegsgeschichte und die Rassentrennung im Süden.
Rassistische Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen lassen sich nicht aus individuellen, psychosozialen Verhaltensmustern erklären, als gewissermaßen natürliche Abwehr gegen die Gefährdung eigener Privilegien. Rassistische Vorurteile dienen auch nicht der Aufrechterhaltung von Privilegien der Mehrheitsgesellschaft gegen Minderheiten, die diese Privilegien gefährden, selbst wenn dies von den Einzelnen oft so wahrgenommen wird. Marx hat in einem Aufsatz über die fremdenfeindlichen, gegen irische Einwanderer gerichteten Einstellungen der englischen Arbeiterklasse eindrucksvoll argumentiert, dass die englische Arbeiterklasse sich damit selbst ein Bein stellt, indem sie sich so den englischen Kapitalisten unterwirft und somit gegen die eigenen Klasseninteressen verstößt. Dagegen wäre zu zeigen, dass Ideen von der Minderwertigkeit oder Überlegenheit von Ethnien (zum Beispiel der »weißen Rasse«) ihren Ursprung nicht im Erfahrungshorizont von Individuen haben, sondern in den vorgefundenen Herrschaftsideologien. Wie und warum entstanden aber rassistische Ideologien?
Kapitalismus als Basis rassistischer Ideologie
Die weite Verbreitung des Rassismus in modernen westlichen Gesellschaften verführt dazu, diesen als allgemeines, immer schon existierendes Menschheitsphänomen zu betrachten. Rassismus erscheint nach dieser weitverbreiteten, populären Einschätzung als natürliche Ablehnung von Menschen einer ethnischen Gruppe gegen fremde, andersartige Menschengruppen. So hat der Historiker Imanuel Geiss in seiner Studie über die »Geschichte des Rassismus« Vorformen (»Prototypen«) des modernen Rassismus in der Frühgeschichte der Menschheit ausgemacht. Er spricht von einem »universalen Verachtungsmechanismus«, der sich aus dem »sozialökonomischen Entwicklungsgefälle« zwischen verschiedenen Menschengruppen speise. Die »Höherstehenden« verachteten danach die »unter ihnen Stehenden«. Diese Verachtung sei »eine weltweite elementare Voraussetzung für Rassismus und seine Vorform«.13
Rassismus ist nach Geiss eine Spezialform der Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit), die wiederum das Ergebnis allgemeiner Nahrungsmittelknappheit in der Frühgeschichte der Menschheit gewesen sei.14
Eine weitere Brücke von Fremdenfeindlichkeit zu Rassismus sieht Geiss in der »Ethnozentrik«. Danach sähen Gruppen von Menschen sich im Zentrum der Menschheit und gegenüber allen anderen Gruppen (Völkern) überlegen. Die Ursache dafür sei, dass Fremdsein Ablehnung provoziere. Unterschiede im Aussehen, in den Essensgewohnheiten, der Religion, der Kleidung seien »Stoff für Fremdenfeindlichkeit«.15
Die Übergänge zwischen Ethnozentrismus und Rassismus sind bei Geiss fließend. Sklaven seien zwar im Altertum (Griechen, Römer) von unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe gewesen, allerdings habe sich die Vorstellung »Schwarze = Sklaven = minderwertig« dann eingestellt, wenn die »Sklaven für lange Zeit nur oder überwiegend aus einer Gruppe, zum Beispiel Negriden [kamen]«.16 Danach entstünde die Vorstellung der Ungleichwertigkeit von Sklaven einer Hautfarbe aus der Macht der Gewohnheit.
Gemeinsam ist solchen Theorien, dass sie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus als spontane, gewissermaßen natürliche Reaktion einer Gruppe von Menschen auf das »Andere« ableiten. Es sind Theorien, die sich bei den Feinden multikultureller Gesellschaften heute großer Beliebtheit erfreuen. Geiss bleibt freilich den wissenschaftlichen Nachweis seiner Behauptungen schuldig. Das Römische Reich des Altertums war ein Vielvölkerstaat mit Menschen sehr unterschiedlicher Hautfarben und Ethnien, das galt nicht nur für die Sklaven, sondern auch für die herrschenden Eliten. Einer besonderen Ideologie zur Legitimation von Sklaverei bedurfte es nicht, Unterwerfung und Versklavung von in Kriegen gefangen genommenen Menschen galt im ganzen Altertum als normale Verkehrsform zwischen Menschengruppen. Ideen von der natürlichen Gleichheit aller Menschen, wie sie in der Zeit der bürgerlichen Aufklärung in Europa entstanden, gab es nicht. Sklaven galten zwar als rechtlos, aber keineswegs als generell weniger intelligent. So erfahren wir von dem griechischen Philosophen Aristoteles: »Diejenigen, die glauben, die Sklaven hätten keine Vernunft, irren sich.«17 Sklaven aus Kleinasien galten allgemein als intelligenter als Sklaven aus dem wirtschaftlich rückständigen Norden Europas. Auch dies widerspricht der These von Geiss, dass es schon im Altertum einen Zusammenhang zwischen Hautfarbe und Ungleichwertigkeit von Menschen gegeben habe.
Ob im religiös begründeten Kastenwesen Indiens oder dem Gegensatz von Zivilisation und Barbarei als Selbstverständnis der griechischen Stadtstaaten, ob in ethnischen, religiösen, sozialen, nationalen oder sexistischen Formen der Unterdrückung – überall sieht Geiss »Vorformen des Rassismus«.18
Rassismus wird von Geiss und vielen anderen tendenziell synonym mit der Unterdrückung einer Gruppe von Menschen durch eine andere gesetzt und verliert damit seine begriffliche Trennschärfe gegenüber anderen Formen der Unterdrückung. Einem zu engen Begriff des Rassismus, wie er von Heitmeyer und anderen vertreten wird, steht bei ihnen ein zu weiter Rassismusbegriff gegenüber. Heitmeyers Kritik an einem angeblich unzulässig ausgeweiteten Rassismusbegriff der antirassistischen Bewegung der 1990er Jahre trifft auf Geiss durchaus zu.19
Marxistische Theoretiker haben dagegen den Rassismus als moderne Ideologie des entstehenden Kapitalismus betrachtet. Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung des Rassismus war die Rolle des Sklavenhandels in der frühen Phase der Industrialisierung. Über zwölf Millionen Afrikaner wurden vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Dreieckshandel von afrikanischen Menschenjägern, europäischen Sklavenhändlern und Plantagenbesitzern in Afrika gefangen genommen, als Sklaven verkauft, verschifft und in Amerika weiterverkauft. Über 1,5 Millionen Menschen verloren schon beim Transport ihr Leben. Sklavenhandel wurde zu einer wichtigen Profitquelle für Handelsgesellschaften in England, Schottland, den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal, sowie für die großen Plantagenbesitzer in den neuen amerikanischen Kolonialreichen.
Im selben Zeitraum entstanden, angestoßen durch den Kampf des aufstrebenden Bürgertums gegen den Feudalismus, neue Ideen der Aufklärung von allgemeinen, unveräußerlichen Menschenrechten. Zentral für diese ist die Feststellung, dass »alle Menschen von Natur aus gleich« sind. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es gleich im ersten Satz: »All men are created equal« – alle Menschen wurden gleich erschaffen.20
Der Widerspruch zwischen den aufkommenden Ideen der natürlichen Gleichheit aller Menschen und der weiten Verbreitung der Sklaverei auf den großen Plantagen in den Mittel- und Südstaaten der neuen Republik war nicht zu übersehen. Ein Gegner der Sklaverei, Thomas Day, schrieb über die Heuchelei bei der Verabschiedung der Unabhängigkeitserklärung: »Wenn es eine wirklich lächerliche Sache gibt, dann ist es ein amerikanischer Patriot, der mit der einen Hand Unabhängigkeitserklärungen unterschreibt und mit der anderen die Peitsche über seine verängstigten Sklaven schwingt.«21
Wie ließen sich die Ideen der bürgerlichen Aufklärung mit der Praxis des Sklavenhandels vereinbaren?
Die Antwort gab der schottische Aufklärer David Hume im Jahr 1752: »Ich bin geneigt zu vermuten, dass die Neger und generell die anderen Menschenarten (es gibt vier oder fünf verschiedene Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind.«22 Nur 60 Jahre zuvor hatte ein anderer großer britischer Aufklärer, John Locke, die Idee zurückgewiesen, dass Afrikaner von Natur aus anders seien als Europäer. Er tat dies, obwohl er selbst Aktien an der Royal African Company besaß und so auch persönlich vom Sklavenhandel profitierte.23 Der Unterschied zwischen Hume und Locke weist auf den Umstand hin, dass im 17. Jahrhundert die Sklavenhändler und Sklavenbesitzer noch nicht auf das Argument der Rassenunterschiede als Rechtfertigung ihres Geschäfts zurückgriffen, sondern auf alte griechische und römische Texte, nach denen Versklavung von Menschen gerechtfertigt sei, die als Kriegsgefangene in den Besitz der Sieger übergingen. Aber Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der Sklavenhandel ein Ausmaß angenommen, das mit den alten Ideen nicht mehr zu begründen war. Händler und Besitzer wussten, dass die afrikanischen Sklaven nicht Kriegsgefangene waren, sondern von afrikanischen Zwischenhändlern gekauft wurden, die ihrerseits Menschenjagden organisierten.
Der britische Marxist Chris Harman fasste die Entstehung des modernen Rassismus in der Zeit des Sklavenhandels und der Aufklärung wie folgt zusammen: »Der Rassismus entwickelte sich von einer Rechtfertigung für die Versklavung von Afrikanern zu einem komplexen System von Ideen, nach dem alle Völker der Erde als ›Weiße‹, ›Schwarze‹, ›Braune‹, ›Rote‹ oder ›Gelbe‹ einzuordnen seien – obwohl viele Europäer rosarot sind, viele Afrikaner braun, eingeborene Amerikaner ganz sicher nicht rot, Chinesen und Japaner ganz sicher nicht gelb sind!«24 Von dieser Kategorisierung der Menschheit war es nur noch ein kleiner Schritt zu Ideologien einer »weißen« Herrenrasse.
Kein spontaner Lernprozess der Unterdrückten
Gerade bei der Erforschung rassistischer Einstellungen wäre also zunächst nicht nach den Meinungen, sondern nach den Meinungsmachern, nach der »Schlüsselgruppe« zu fragen, die rassistische Vorurteile erst »gesellschaftsfähig« über einen exotischen Rand hinaus zu machen imstande ist. Im Falle der Entstehung des Rassismus in der Zeit des Sklavenhandels und der bürgerlichen Aufklärung waren es zwei mächtige Schlüsselgruppen: die großen europäischen Handelsgesellschaften sowie die mächtige Gruppe der Plantagenbesitzer in den neuen Kolonien. Im Jahr 1774 schrieb der britische Plantagenbesitzer und Historiker Edward Long das einflussreiche Buch »Die Geschichte Jamaicas«, in dem er die Sklaverei rechtfertigte und die Afrikaner als »wilde Untermenschen« darstellte. Der deutsche Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant veröffentlichte nur ein Jahr später einen Aufsatz,25 in dem er die natürliche Überlegenheit der »Race der Weißen« über Afrikaner und Amerikaner (amerikanische Ureinwohner) behauptete. Umgekehrt war die französische Revolution von 1789 Ansporn für die einzige erfolgreiche Sklavenrevolution in der Weltgeschichte, nämlich in der französischen Kolonie Haiti (1791) – die C. L. R. James in seinem »The Black Jacobins« so eindrucksvoll beschreibt.
Die Parallelität von bürgerlicher Revolution, Proklamation angeblich unteilbarer Menschenrechte und Sklaverei in den neuen Kolonien erwies sich als eine explosive Mischung, die nicht nur den Sklavenhandel gefährdete, sondern gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend auch das System der Sklavenarbeit auf den Plantagen. Arme »Weiße« und Afrikaner hatten immer häufiger gemeinsam rebelliert. Rassistische Ideen dienten zunächst der Legitimation des Ausschlusses einer Gruppe von Menschen mit dunkler Hautfarbe von den angeblich unteilbaren Menschenrechten. Vor allem in den Staaten der USA mit großen Plantagen dienten sie der Unterdrückung des Widerstands durch Spaltung der unterdrückten Klassen. Arme »Weiße« wurden durch die Verbreitung rassistischer Diskriminierung geadelt, fühlten sich den armen »Schwarzen« überlegen und wurden so selbst zu einer wesentlichen Stütze der Plantagenbesitzer und der Reichen in den Südstaaten der neu entstandenen Staatenunion der USA.
Ungleichbehandlung und Diskriminierung ist nicht das Ziel, sondern ein Mittel der Herrschaftssicherung. Menschen in ähnlicher oder gleicher Klassenlage als Ausgebeutete werden so gegeneinander aufgehetzt.
Karl Marx beschrieb diesen Mechanismus exemplarisch am Verhältnis von irischen und englischen Arbeitern im 19. Jahrhundert, als irische Arbeiter in großer Zahl nach England einwanderten. Durch die Einwanderung billiger Arbeitskräfte aus Irland gerieten die Löhne der englischen Arbeiter unter Druck, ähnlich wie durch die Zuwanderung aus Ost- und Südeuropa heute die Löhne in Westeuropa unter Druck geraten. Die herrschende Klasse nutzte diese zunächst wirtschaftliche Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen von Lohnarbeitern und formte ihn aus zu einer »herrschenden Meinung«, zu einem allgemeinen Vorurteil gegen Iren. Marx nennt »die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel«.26 Durch die Befestigung der ökonomischen Konkurrenz zu einem System von rassistischen Vorurteilen gegen »die Iren« wird die englische Arbeiterklasse auf Dauer zur Ohnmacht und Unterwerfung unter ihre herrschende Klasse verurteilt. Die Spaltung zwischen englischen Arbeitern und irischen Migranten in England nutzte allein der britischen Bourgeoisie.
Festzuhalten gilt, dass Rassismus als eine moderne Herrschaftsideologie der Bourgeoisie entstanden ist, die im Wesentlichen darauf beruht, Menschen anderer Herkunft als die eigene dauerhaft zu entwerten. Mit Blick auf die viel ältere Diskriminierung von Juden in Europa ist zu sagen, dass diese bis ins frühe 19 Jahrhundert religiös und nicht »ethnisch« begründet war und daher auch kein unentrinnbares Schicksal bedeutete. Natürlich gab es eine Kontinuität mit der Unterdrückung und Verfolgung von Juden in Europa seit Beginn der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert. Die Übergänge vom religiös motivierten Antijudaismus zum modernen Rassenantisemitismus erfolgten auch nicht plötzlich, sondern allmählich, über einen Zeitraum von etwa 25 bis 30 Jahren. Der erste politische Führer der antisemitischen Bewegung Österreichs, Georg von Schönerer, prägte den bewussten Bruch mit dem christlichen Antijudaismus zu einem modernen rassischen Antisemitismus in die agitatorische Parole: »Ob Jud, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei.«27
Historische Anpassungsfähigkeit des Rassismus
Unsere Charakterisierung des Rassismus als Herrschaftsideologie bedeutet nicht, dass diese von der bürgerlich-kapitalistischen Klasse oder besser deren Thinktanks, Medien und Politikern sozusagen auf Anfrage produziert wurde. Die Geschichte seit der Entstehung des Rassismus im 17./18. Jahrhundert zeigt, dass er vielfältige Metamorphosen durchlaufen hat und dass er keineswegs nur im Auftrag der ökonomisch herrschenden Klassen propagiert und praktiziert wurde. Eine solche einseitige, intentionalistische Interpretation würde zu Recht unter der Rubrik »Verschwörungstheorien« verbucht. Neben einem feudalen28 und einem großbürgerlichen Rassismus hat es vor allem in Gestalt des Antisemitismus auch einen antikapitalistisch auftretenden oder kleinbürgerlichen Rassismus gegeben, der im exterminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus seine Fortsetzung und Radikalisierung erfuhr.
Ob rassistische Ideologien sich als Werkzeuge der Herrschaftssicherung bewähren oder nicht, hängt auch nicht allein vom Willen ihrer Produzenten ab. In den 1880er Jahren breitete sich in Wien ein kleinbürgerlicher Antisemitismus aus, dessen Träger die Wiener Handwerksverbände waren. Die antisemitische Bewegung traf jedoch auf den Widerstand des Großbürgertums und des Kaisers, die im Judentum einen politisch stabilisierenden Faktor des Habsburger Reiches gegen die wachsende Sprengkraft nationaler Unabhängigkeitsbewegungen sahen. Mit dem Sieg des Antisemiten Karl Luegers bei der Wiener Oberbürgermeisterwahl 1895 hatten die Antisemiten diesen Kampf gewinnen können. Im selben Zeitraum scheiterte hingegen in Berlin der Versuch der Gründung einer antisemitischen Partei trotz wohlwollender Begleitung durch den Kaiser und Teile der Industrieverbände kläglich.
Auch der exterminatorische Rassismus der Nazis kann nicht alleine aus den Interessen der Herrschenden, in diesem Fall den ökonomischen Interessen des Besitzbürgertums, abgeleitet werden.
Die Spannbreite rassistischer Ideologien und ihre jeweilige Funktion ist ein Hinweis darauf, dass die ökonomisch und politisch herrschende Klasse der Bourgeoisie alles bekämpft, was die Harmonie der herrschenden Ordnung stört. Aus ihrer Sicht wird diese Harmonie nicht gestört, wenn ein rassistischer Mob Migrantenwohnheime und Wohnungen (1992–1994) angreift und anzündet oder wenn Menschen türkischer Herkunft ermordet werden (Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« in den Jahren 2000–2006). Die Harmonie wird jedoch beispielsweise dann gestört, wenn Protestbewegungen wie Blockupy in Frankfurt zu gewaltfreien Belagerungen des Bankenviertels aufrufen.
Rassistische Bewegungen sind nicht frei erfindbar, sie sind wie jede Ideologie in ihrer Verbreitung und Akzeptanz auf einen Ansatzpunkt in der realen Welt angewiesen. Und sei es nur – wie beim Antisemitismus heute – auf einen historischen: dass im Mittelalter Handel und Finanzen in Europa weitgehend von Juden betrieben wurden. Die längst untergegangene wirtschaftliche Sonderstellung der Juden in den feudalen Gesellschaften des Mittelalters wirkt als Gerücht fort wie ein Phantomschmerz, als tradierte Einbildung. Bei der Asylflutkampagne der Konservativen in den 1990er Jahren konnten sich die Produzenten der sorgsam inszenierten »Das Boot ist voll«-Vorstellung darauf berufen, dass die Zahl der Arbeitslosen Anfang der 1990er Jahre auf vier Millionen angestiegen war und dass in Ostdeutschland 80 Prozent der gesamten industriellen Arbeitsplätze innerhalb von vier Jahren abgewickelt worden waren. Sarrazins Warnung vor dem Untergang Deutschlands bei anhaltender Zuwanderung von Muslimen zieht ihre »Glaubwürdigkeit« aus einer beabsichtigten Verwechslung von Bildung und Intelligenz. Ein Mythos wird aber nicht dadurch zur Realität, dass ihre Erdichter sich auch Elemente von Wahrheit bedienen, um ihre Mythen glaubhaft erscheinen zu lassen.
Der Formwechsel, den der Rassismus im Laufe der 300 Jahre seit seiner Geburt im frühen Kapitalismus durchlaufen hat, sollte uns nicht dazu verleiten, im Besonderen nicht das Allgemeine, sein Wesen zu erkennen: die Diskriminierung und Unterdrückung bis hin zur Vertreibung oder Vernichtung von Menschen anderer Herkunft oder Kulturen als minderwertige oder bösartige gegenüber anderen, überlegenen oder höherwertigen. Rassismus ist ein Angriff auf die Gleichwertigkeit und Einheit der Menschheit unabhängig von ihrer Hautfarbe oder kulturell-religiösen Besonderheit. Rassismus kann sich gegen Menschen anderer Hautfarbe, Menschen fremder Herkunft (zum Beispiel »Asylanten«) oder Menschen aus anderen Kulturen richten. Er kann sich gegen ethnische Minderheiten im eigenen Land oder auch allgemein gegen die Mehrheit der Menschheit in fremden Ländern (Kolonien) richten, er kann sich, wie im Apartheidregime Südafrikas von einer herrschenden Minderheit gegen die große Mehrheit im eigenen Land richten: Immer bleibt er eine Herrschaftsideologie, die letztlich dazu dient, Klasseninteressen der Herrschenden zu legitimieren und vor Kritik zu schützen sowie die große Mehrheit der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen zu spalten. Niemand hat dies prägnanter ausgedrückt als Adolf Hitler mit der Parole »Rassenkampf statt Klassenkampf«.
Sozialdarwinistischer Rassismus
»Alle großen Kulturen der Vergangenheit gingen zugrunde, weil die ursprüngliche schöpferische Rasse an Blutvergiftung starb«, schrieb Adolf Hitler 1926 in »Mein Kampf«. Seine Schlussfolgerung aus dieser »Diagnose« lautete: »Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muss eines Tages zum Herren der Erde werden.«29 Hitlers Interpretation der Menschheitsgeschichte als ein Ringen zwischen höheren und niederen Menschenrassen war höchstens insofern neu, als er zugespitzter und radikaler die Schlussfolgerungen aus den verschiedenen Rassentheorien zog, die sich im Anschluss an Charles Darwins Werk »Entstehung der Arten« 1859 und an sein zwölf Jahre später veröffentlichtes Buch über die »Abstammung des Menschen« wie eine Flut über die Sozialwissenschaften ergoss. Die Schriften des Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) gewannen vor dem ersten Weltkrieg große Popularität mit dem Anspruch, dass die Anthropologie als eine Unterabteilung der Zoologie zu betreiben sei. Die Einengung der Anthropologie und der Sozialwissenschaften auf Abstammungslehre und Rassenkunde schien zunächst politisch richtungslos und fand sogar auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie Unterstützer.
Der ungarische Marxist Georg Lukács hat in seiner Schrift »Die Zerstörung der Vernunft«30 die Naturalisierung der Sozialwissenschaften analysiert und den Zusammenhang vom »Sozialen Darwinismus, Rassentheorie und Faschismus« untersucht und festgestellt: »Der Biologismus […] in Philosophie und Soziologie [ist] stets die Basis von reaktionären Weltanschauungstendenzen gewesen.«
Der Siegeszug der biologistischen Anthropologie in »Kostüm und Maske einer allermodernsten Wissenschaftlichkeit« (Lukács) gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließe sich allerdings nicht verstehen ohne den Übergang des Kapitalismus in eine neue Etappe des Imperialismus. Mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1873 und der anschließenden Großen Depression, einer Abfolge konjunktureller Krisen von 1873 bis 1896, tritt der Kapitalismus in eine neue Phase des Imperialismus ein, die gekennzeichnet ist durch die Aufteilung nahezu der ganzen Welt in Kolonialreiche der damaligen großen Industriestaaten, die Militarisierung der Gesellschaften, eine Verschärfung der Klassenkämpfe und die Entstehung großer antikapitalistischer Arbeiterparteien.
Der imperialistische Kapitalismus bietet dem Sozialdarwinismus die Chance, die bis dahin geleugneten »schlechten Seiten« des Kapitalismus (unerbittlicher wirtschaftlicher Konkurrenzkampf, Bildung von Monopolen, Militarismus und Krieg) gerade zum Ausgangspunkt der Verteidigung des Kapitalismus zu machen. Die auf die menschliche Geschichte angewandte Schule der Darwinschen Evolutionstheorie ist eine internationale Erscheinung. In Deutschland sind Ludwig Gumplowicz, Gustav Ratzenhofer und Ludwig Woltmann als seine prominentesten Vertreter zu nennen. Ihre Ideen rechtfertigen nach außen den Kolonialismus: »Die Weißen werden in den Kolonien immer nur die Herrenrasse bilden«, schrieb Woltmann 1903 und fügte hinzu, es sei »ein aussichtsloses Beginnen, Neger und Indianer einer echten Zivilisation fähig zu machen«.31 Ähnlich äußert sich Sarrazin heute über die angebliche Bildungsresistenz von Muslimen.
Wirkliche Popularität in den Kreisen der imperialistischen deutschen Bourgeoisie erreichte die sozialdarwinistische Lehre mit den Schriften von Houston S. Chamberlain. Chamberlain war britischer Staatsbürger, lebte aber in Deutschland und Österreich. Von 1888 bis 1908 lebte er in Wien, heiratete Eva von Bülow, eine Tochter des Komponisten Richard Wagners, und nahm 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, die deutsche Staatsbürgerschaft an.
Chamberlains »Verdienst« war es, den sozialdarwinistischen Rassismus für die Tagesbedürfnisse der äußersten Rechten in Deutschland »handlich und handhabbar« (Lukács) gemacht zu haben. Sein 1896 veröffentlichtes Hauptwerk »Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts« wurde zu einem großen Erfolg, vergleichbar mit dem von Sarrazin im Jahr 2010 veröffentlichten Buch »Deutschland schafft sich ab«. Chamberlain begnügte sich nicht mit der Idee einer Überlegenheit der »weißen Rasse«. Er lieferte eine »Theorie« für die Weltherrschaft der »arischen Rasse«, deren letzte Vertreterin wiederum die Rasse des germanischen Volksstamms sei. Aber noch fehlte den »Germanen« eine germanische Religion. Die christliche Religion, vor allem die »römische«, war seiner Ansicht nach jüdisch durchseucht. Deshalb reinigte er sie, machte Christus zu einem indogermanischen »Lichtarier«, erlöste diesen sozusagen aus der jüdischen Umklammerung und erfand eine neue, atheistisch-mythische Religion, die »arische Weltanschauung«, die von Hitler und den Nazis nur noch übernommen zu werden brauchte. Irrationalismus in bewusstem Rückgriff auf vorwissenschaftliche Mythologie und scheinbar naturwissenschaftliche Rassentheorie werden neu gebündelt. Lukács schreibt: »Es entsteht jene geistige und moralische Atmosphäre, in welcher sie zum Religionsersatz verzweifelter und fanatisierter Massen werden.«32 Freilich sei Chamberlain hier nur »Prophet«, nur Verkünder des kommenden Mannes. Georg Lukács weist nachdrücklich auf den engen Zusammenhang von Imperialismus und Sozialdarwinismus hin. Das politische Ziel, die Erhebung der arischen Rasse zur Weltherrschaft, setzte aber eine Entmischung der schon vermischten arischen Rasse voraus, das heißt vor allem die Entfernung der kranken und unwerten Elemente im Volkskörper – so Chamberlains Wahn.
Die biologische Begründung der Herrschaft der ausbeutenden Klassen und der kolonisierenden Völker war schon bei den Rassentheorien der Sklavenhändler und Sklavenhalter im 17./18. Jahrhundert eine Ideologie der Unmenschlichkeit; denn sie stellte den Unterdrückten als ein Lebewesen von prinzipiell anderer Art, als biologisch zu Ausbeutung und Sklaverei geboren, dar. Der rassistische Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts hatte von Beginn an die Tendenz, die Lehre der Rassenreinheit oder Rassengeneration nach innen zu wenden, das heißt den Prozess der Durchmischung rückgängig zu machen. Woltermann und Chamberlain haben hier praktische Vorschläge gemacht: Sie wollten durch einen Komplex rassenhygienischer Maßnahmen (Ehekontrolle, Eheverbote, Sterilisierungen usw.) die Rettung der reinen Rasse fördern. Dieses Programm übernimmt auch der Faschismus an der Macht und macht daraus ein Werkzeug der willkürlichen Tyrannei.
Aber das Programm Hitlers zur Rassengenerierung ging weiter. Er kritisierte scharf die Politik des Kaiserreichs, eroberte Völker gewaltsam durch Germanisierung zu assimilieren. Er war für ihre Vernichtung oder Vertreibung. Man war sich, führt er aus, darüber nicht klar, »dass Germanisierung nur am Boden vorgenommen werden kann und niemals an Menschen«.33 Die Programmatik Hitlers – ausführlich entwickelt in »Mein Kampf« – »soll die Deutschen dazu führen […], außerhalb der Grenzen jeden Angehörigen eines fremden Volkes als Tier zu betrachten; je nachdem: als Zugvieh oder Schlachtvieh«. Der von Hitler und dem Nazi-Ideologen und späteren Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg (»Der Mythus des 20. Jahrhunderts«, 1930), geprägte Sozialdarwinismus der Nazis »holt aus der reaktionären Ungleichheitslehre alle möglichen barbarischen Konsequenzen heraus und treibt sie auf die extreme Spitze der Bestialität«.34
Eine Massenbasis fand der Antisemitismus im Wiener Kleinbürgertum, vor allem in den Handwerksverbänden, die sich durch Wirtschaftskrise und Industrie existenziell bedroht sahen. Aber die eigentlichen Triebkräfte, oder besser: Propagandisten des modernen Antisemitismus waren große Namen der Kultur- und Geisteswelt. In Deutschland und Österreich waren es der damals schon weltbekannte Komponist und Dirigent Richard Wagner und der Historiker Heinrich von Treitschke, zwei der angesehensten Männer der damaligen deutschsprachigen Kultur- und Geisteswelt. Von Treitschke stammte der Ausruf »Die Juden sind unser Unglück«. Treitschke löste mit einem antisemitischen Artikel eine als »Berliner Antisemitismusstreit« (1879–1881) in die Geschichte eingegangene Debatte aus. In Wien waren es Anhänger Richard Wagners, die in den deutschnationalen Studentenverbänden den Antisemitismus etablierten, von wo aus er sich dann rasch zu einer Massenbewegung des Wiener Kleinbürgertums entwickeln konnte. Einen machtvollen Gegenpol in Gestalt der Sozialdemokratie gab es in Wien im Unterschied zu Berlin noch nicht, die österreichische Sozialdemokratie wurde erst 1889 gegründet. Ohne die Intervention von Prominenten der bürgerlichen Mitte wäre der Antisemitismus als Bewegung des Kleinbürgertums in den 1880er Jahren in Berlin, aber auch in Wien, nicht so rasant aufgestiegen.
Der antisemitische Vorstoß Treitschkes von 1879 darf vor allem aber nicht als historischer Zufall verkannt werden: Ein Jahr zuvor (1878) hatte der protestantische Pfarrer und Hofprediger des Kaisers, Stoecker, den Versuch unternommen, eine »Christlichsoziale Arbeiterpartei« als Gegengewicht zur damals noch revolutionären Sozialdemokratie zu gründen, die gerade in der Weltwirtschaftskrise der 1870er Jahre rasch an Einfluss gewann. Der Versuch Stoeckers und seiner christlichen Antikapitalisten scheiterte jedoch an der Kraft der Sozialdemokratie. Erst nach dem Scheitern von Stoeckers Christlichsozialer Arbeiterpartei intervenierte Treitschke als große geistige Autorität seiner Zeit mit seiner antisemitischen Kampfschrift. Sein Vorstoß genoss die insgeheime Zustimmung höchster Kreise, einschließlich des Kaisers und Bismarcks, die zusammen mit dem ganzen Geldadel damals auf ein politisches Gegengewicht zum sozialistischen Antikapitalismus der aufstrebenden jungen Sozialdemokratie hofften. Ihr Motto lautete: Wenn schon Antikapitalismus, dann gegen das »jüdische Finanzkapital« und nicht gegen uns. Die Ideengeber des Rassismus saßen in der »Mitte der Gesellschaft«, damals wie heute. Es ist das Verdienst von Wolfgang Benz, des langjährigen Leiters des Instituts für Antisemitismusforschung in Berlin, in seinem Aufsatz »Antisemiten und Islamfeinde« auf diese Parallele zur Entfachung einer neuen rassistischen Welle in Deutschland, dieses Mal gegen den Islam und gegen die Muslime, hingewiesen zu haben.35
Krise des Sozialdarwinismus nach 1945
Die Rassenideologie sozialdarwinistischer Prägung hat nach 1945 nach und nach an Wirkung verloren, nicht nur wegen der militärischen Niederlage ihrer konsequentesten Verfechter. Nach dem wahnsinnigen Exzess von industriell betriebenem Massenmord an Juden, Sinti und Roma, Slawen und Behinderten und anderem »unwerten Leben« war die sozialdarwinistische Ideologie weithin diskreditiert und in den ideologischen Giftschrank verbannt. Die ideologische Wende wurde getragen vom langen Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit. Sowohl im Grundgesetz wie auch in der Verfassung der DDR wurden 1949 Formeln aufgenommen, die eine Rassendiskriminierung ausschließen, eine entsprechende Formulierung findet sich in der Menschenrechtskonvention der UNO von 1948. Die Unesco setzte im Jahr 1949 ein Komitee von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern ein, das 1950 eine Erklärung abgab, in der es hieß, dass es »keine bedeutenden rassisch bedingten Unterschiede in sozialer oder kultureller Sicht« gibt und dass eine Vermischung von Rassen keine nachteiligen Auswirkungen hat.
Trotzdem gab es weiterhin Rassismus, auch in Form eines offen biologisch begründeten Rassismus. In Südafrika, Rhodesien (Simbabwe), Algerien, Kenia und vielen anderen Kolonien der vor 1914 entstandenen Kolonialreiche hielten sich weiße Siedlerregime mit rassistischer Unterdrückung an der Macht. Staatlich sanktionierte Rassendiskriminierung gab es auch noch in vielen anderen Staaten wie den Südstaaten der USA, in Australien und in Israel. In Südafrika herrschte bis 1994 ein Apartheidregime, das die indigene Bevölkerungsmehrheit vom Wahlrecht und von den Bürgerrechten allgemein ausschloss. Die herrschende Minderheit aus europäischen Siedlern war erst bereit, die afrikanische Mehrheit rechtlich und politisch gleichzustellen (»one man, one vote«), als es zu generalstreikähnlichen Erhebungen in den großen Bergwerken und einem großen Teil der Industrie und des Verkehrswesens gekommen war und die ökonomische Herrschaft der weißen Minderheit mit ihrer politischen Macht zu stürzen drohte. Australien, Deutschland, Frankreich, Israel, Italien, Kanada, Neuseeland, das Vereinigte Königreich und die USA hatten die Anti-Apartheid-Konvention der UNO von 1975 nie unterzeichnet. Die Tradition der »weißen Herrenrasse« aus der Zeit der Kolonialreiche ist bis heute noch nicht überall überwunden.
Wir beobachten nun in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg einen Formwechsel des Rassismus: weg vom biologistischen Rassismus hin zu einem neuen, kulturalistischen Rassismus. Die Krise des Sozialdarwinismus wird untermauert und gewissermaßen beschleunigt durch die Fortschritte der modernen Gentechnik. So wie die bahnbrechende Arbeit von Charles Darwin von Rassisten als vorgeblich wissenschaftliche Grundlage verwendet wurde und biologistisch-rassistischen Ideologien damit zu einer glanzvollen »Blüte« verhalf, so sind es paradoxerweise heute umgekehrt naturwissenschaftliche Entdeckungen, die eine Entschlüsselung des menschlichen Genoms ermöglicht haben und die dem Sozialdarwinismus seinen wissenschaftlichen Schein rauben.
Die Anthropologie hat auf dem Wege von Knochenfunden und Genentschlüsselung inzwischen herausgefunden, dass »wir alle aus Afrika kommen«,36 dass die hellere Haut der Europäer eine Abweichung von der ursprünglich dunkleren ist und dass die Menschheit nicht von verschiedenen Affenarten (Polygenese), sondern aus einer (Monogenese) abstammt. Die vergleichende Untersuchung der Gene von allen Teilen der Menschheit hat ergeben, dass es keine wesentlichen genetischen Differenzen verschiedener Menschengruppen gibt. Neueste Forschungen haben außerdem ergeben, dass es eine geringe Vermischung der aus Afrika ausgewanderten Spezies Homo Sapiens mit der artverwandten Spezies der Neandertaler gab, es gab also eine geringe Durchmischung in den 20.000 Jahren vor dem Aussterben der Neandertaler vor 30.000 Jahren mit diesen. Es ist keine gute Nachricht für Rassisten, dass der nordische Mensch ein »Bastard« ist und nur die Afrikaner frei von »artfremden« Genen sind.
Die Enzyklopädien Brockhaus und Meyers Lexikon bezeichnen in ihrer aktuellen Ausgabe (2006) rassensystematische Kategorien als veraltet. In der Brockhausausgabe von 1959 waren dagegen noch 32 verschiedene Menschenrassen abgebildet – vom »nordischen« Europäer bis zum südamerikanischen »Feuerländer«. Im dazugehörigen Eintrag »Menschenrassen« hieß es: »Natürliche Untergruppen der Art Mensch (Homo Sapiens), gekennzeichnet durch bestimmte erbliche, innerhalb bestimmter Grenzwerte schwankender Merkmale.«37 Eine Unterteilung der Menschen in bestimmte Unterarten oder Rassen ist aus der modernen Biologie und der Anthropologie verschwunden. Elazar Barkan spricht daher zu Recht von einem »Rückzug des wissenschaftlichen Rassismus«.38
Das heißt nicht, dass Biologie nicht mehr für politische Zwecke missbraucht wird. Die Soziobiologie versucht komplexe Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen von Menschen (Homosexualität, Kriminalität, Alkoholismus, Altruismus, Egoismus) aus genetischen Anlagen, also als biologisch bedingt, zu erklären. Durch die Hintertür der Soziobiologie kommt auf diesem Weg auch wieder der Rassismus, beispielsweise als »angeborene« Fremdenfurcht, mit wissenschaftlichem Anstrich auf die Bühne. In Deutschland ist diese Pseudowissenschaft mit den Namen Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dessen Schüler, bekannt geworden.39 Trotzdem lässt sich sagen, dass die Einteilung der Menschen in biologische Rassen wissenschaftlich unhaltbar und im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr hoffähig ist.
Gibt es dennoch weiterhin Rassismus, einen »Rassismus ohne Rassen«? Zunächst bleibt festzuhalten, dass rassistische Theorien noch nie »wissenschaftlich« waren und dass die Produzenten rassistischer Ideologien sich auch noch nie an Wahrheit und Wissen gehalten haben, auch nicht an das Wissen ihrer Zeit. Chamberlain wurde einmal von einem anderen Wissenschaftler vorgehalten, dass die angeblich objektiven Rassenbestimmungen nichts taugen. Er antwortete, das sei »ja alles recht und gut […], das Leben wartet nicht, bis die Gelehrten zu Rande gekommen sind«. Und: »Unmittelbar überzeugend wie nichts anderes ist der Besitz der Rasse im eigenen Bewusstsein. […] Ohne mich um eine Definition zu kümmern, habe ich Rasse in meinem eigenen Busen […] nachgewiesen.«40 Übertroffen wurde dies nur noch durch die Äußerung des antisemitischen Oberbürgermeisters von Wien und Hitler-Ziehvaters Karl Lueger, von dem die Äußerung stammt: »Wer Jude ist, bestimme ich.« Wer nach dem Wahrheitsgehalt rassistischer Ideologien fragt, hat deren Methode nicht verstanden. Es geht nicht um Wahrheit, es geht um die Mobilisierung niederster Instinkte, es geht um nackte Willkür. Rassismus ist eine Mythenlehre, die Lehre von der Überlegenheit der arischen Rasse oder die Lehre von Unterlegenheit der islamischen Kultur. Die Opfer ihrer Ideologie sind austauschbar, die Methode ist es nicht.
Wenn sich dennoch ein Rückzug des Sozialdarwinismus feststellen lässt, dann liegt dies nur daran, dass die Propagandisten rassistischer Mythen ein Gespür für deren Akzeptanzchancen in einer gegebenen historischen Situation besitzen. Die Sprache des Rassismus hat sich dem Zeitgeist angepasst, ihr Inhalt bleibt im Wesentlichen unverändert. Kultur oder Ethnie werden häufig nur anstelle des allzu diskreditierten Begriffs »Rasse« benutzt. So hat der Verleger von Sarrazins Bestseller »Deutschland schafft sich ab« darauf gedrungen, dass der Autor im ganzen Text des Buches »Rasse« durch »Ethnie« ersetzt.41 Ethnie oder Kultur werden als unentrinnbares Schicksal derer, die darin gefangen sind, gewertet. Aus der Sicht des kulturalistischen Rassismus sind sie in Fleisch und Blut übergegangen, zur zweiten Natur ihrer Träger geworden.
Der Fall Sarrazin ist hier besonders lehrreich, sowohl, was den Inhalt seines Buches angeht, als auch hinsichtlich des Umgangs mit seinen Thesen in der veröffentlichten Diskussion. Kein anderes politisches Sachbuch seit Hitlers »Mein Kampf« hat eine so hohe Auflage – 1,5 Millionen bis Juli 2012 – erzielt. Der Kern der Botschaft Sarrazins ist der alte Sozialdarwinismus, die Botschaft vom drohenden Untergang durch falsche Zuchtwahl oder Vermischung von höheren mit niederen Rassen (»Deutschland schafft sich ab«). Der Kernsatz des Buches lautet:
»Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ›survival of the fittest‹, sondern eine kulturell bedingte, von Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.«42 Hier ist sie wieder, die drohende »Entartung« des deutschen Volkes. Natürlich benutzt Sarrazin das Wort nicht, aber er meint es. »Deutschland [wird] kleiner und dümmer«, schreibt Sarrazin gleich in der Einleitung43. Warum? Weil die genetisch Dummen in Deutschland, die Menschen aus den muslimischen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas, eine höhere Geburtenrate haben und so die Menschen mit den intelligenten Genen rasch verdrängen. Bei Sarrazin liest sich das so:
Die kulturelle Fremdheit muslimischer Migranten könnte relativiert werden, wenn diese Migranten ein besonderes qualifikatorisches oder intellektuelles Potential verhießen. Das ist aber nicht erkennbar.44 Anzeichen gibt es eher für das Gegenteil. So spielen bei den Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.45
Aber Deutschland kann gegen den drohenden Untergang noch etwas tun, indem es der drohenden Verdummung durch Rassenvermischung entgegenwirkt: Einwanderungsstopp für Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika. Was geschieht aber mit den vier Millionen Muslimen, die hier schon leben, die – wie Sarrazin sagt – »wirtschaftlich Nutzlosen«, »die Araber und Türken, die keine andere produktive Funktion haben außer dem Gemüsehandel«? Auch dazu machte er einen Vorschlag in einem Interview mit der Zeitschrift Lettre International: diese »müssen sich auswachsen«. Der Leser versteht: Muslime in unserem Land lassen sich nur integrieren, sofern sie aussterben. Sarrazin argumentiert hier ganz ähnlich wie Adolf Hitler und dessen Lehrer Chamberlain: Einen gesellschaftlichen Fortschritt kann es nur geben, wenn eine weitere Vermischung der Deutschen mit unwerten Rassen verhindert und rückgängig gemacht wird.
Ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Christian Geyer, hat dazu richtig ausgeführt: »Das ganze Buch liest sich wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage. […] ›Deutschland schafft sich ab‹ erzählt die Untergangsgeschichte einer Nation.« Und er fragt: »Für diesen Untergang sollen mit den Muslimen nun sechs Prozent der Bevölkerung die Verantwortung übernehmen. Es fragt sich, was die 94 Prozent in den letzten Jahrzehnten für die Zukunft ihres Landes getan haben?«46
Sarrazins Untergangsszenario erinnert an Treitschkes antisemitische Intervention im Jahr 1879: »Die Juden sind unser Unglück«. Das Wort prägte sich ein und wurde zur Kampfparole des Antisemitismus für Jahrzehnte. Sarrazin wandelt in den Fußstapfen Treitschkes. Nur sind es dieses mal nicht die Juden, sondern die Muslime, die Deutschlands Unglück seien.
Feindbild Islam
Im Jahr 1988 verabschiedete sich der damalige Nato-Oberbefehlshaber John Galvin mit dem Satz: »Den Kalten Krieg haben wir gewonnen. Nach einer siebzigjährigen Verirrung kommen wir nun zur eigentlichen Konfliktsache der letzte 1300 Jahre zurück: Das ist die große Auseinandersetzung mit dem Islam.« Hier sprach der General, der besorgt war, dass dem Militär demnächst ein Feind fehlen könnte, dem er seine Daseinsberechtigung verdankt. Ein paar Jahre später, im Jahr 1993, veröffentlichte Samuel Huntington, früherer Berater im US-Außenministerium, einen Aufsatz mit dem Titel »Kampf der Kulturen?«. Darin sagte er voraus, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges vor einer neuen Qualität von Konflikten stehe, nämlich Konflikten zwischen Kulturen, nicht zwischen Staaten.
Ein Jahr zuvor hatten die USA unter George Bush senior den ersten Irakkrieg geführt. Hintergrund war der seit langem schwelende Konflikt um die Vorherrschaft im arabischen Raum und um die Kontrolle der reichsten Ölfelder der Welt. Der Kampf ums Öl war offen ausgebrochen und er hält bis heute an. Huntingtons Buch wurde zur politischen Erkennungsmelodie einer Epoche. Die USA und mit ihr das Nato-Bündnis nutzten die Niederlage und Schwächung des alten Rivalen Russland, um die Dominanz über die Region des »Schwarzen Goldes« zu gewinnen. Das Feindbild Islam war sehr hilfreich, um der militärisch-strategischen Offensive die höheren Weihen eines Kampfes für Demokratie und Menschenrechte zu geben. Diese Funktion haben der »Kampf der Kulturen« und das Feinbild Islam bis heute behalten.
Die Legitimation imperialer Raubzüge ist aber nur die eine Seite. Der permanente Kriegszustand zwischen westlichen Ländern und islamischen Ländern (Irak, Somalia, Afghanistan, Pakistan, Libyen und möglicherweise Iran und Syrien) bildet zugleich den Hintergrund für die Innenwendung dieses Konflikts, zur Bekämpfung »islamistischer Terroristen« und zunehmend auch zur religiös-kulturellen Unterdrückung der islamischen Minderheiten in Europa, den USA und anderen westlichen Staaten. Dabei können die Produzenten des neuen kulturalistischen Rassismus in Gestalt der Islamfeindlichkeit alte religiöse Feindbilder aus der Zeit der Kreuzzüge und der nachfolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen der beiden Regionen (bis ins späte 17. Jahrhundert) reaktivieren. Gegen keine andere Religion der Welt haben sich im christlichen Europa so viele hartnäckige Vorurteile und Fehleinschätzungen ausgebildet wie gegenüber dem Islam. Mohammed gilt als Lügner, der seine falsche Lehre fanatisch mit Feuer und Schwert verbreitet habe; Allah als ein unbarmherziger tyrannischer Gott der Rache und Vergeltung, der von seinen Gläubigen Unterwerfung verlangt und Gewalt gegen Ungläubige fordert und belohnt. Dieser Bilder bedient sich ein Großteil der Medien. Alte Ängste vor einer Eroberung Europas durch den Islam werden wiederbelebt und geschürt, gespickt mit aus dem Zusammenhang gerissenen Koranzitaten, welche die religiöse Intoleranz und Aggressivität des Islams belegen sollen.
Die Entstehung der Islamfeindlichkeit als neuer Spielart des Rassismus erfolgte in Deutschland in zwei Etappen: Die erste Etappe, nennen wir sie die außenpolitische, begann nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Twin Towers von New York und dem sich daran anschließenden Eintritt Deutschlands in den Afghanistankrieg gegen die Taliban. Sie dient der Legitimation eines imperialistischen Krieges mit deutscher Beteiligung. Der Krieg wird als Befreiungskrieg gegen ein islamisch-fundamentalistisches Regime dargestellt.
Die zweite Etappe fällt mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 und den daraus entstehenden sozialen Konflikten in Europa zusammen. Nennen wir sie die innenpolitische, denn sie dient in erster Linie dem Zweck, die in Europa und Deutschland lebende islamische Minderheit zu diskriminieren und als Sündenbock für einen vermeintlich drohenden Niedergang Deutschlands zu stigmatisieren. Hierzu gehören die Kampagnen gegen das Kopftuchtragen, gegen den Bau von Moscheen und gegen das Recht auf Beschneidung, rituelle Terrorwarnungen des Innenministers und inszenierte Razzien gegen Moscheen durch Polizei und Innenministerium, die Integrationsdebatte um das Sarrazin-Buch, und nicht zuletzt die von der BILD–Zeitung initiierte und angeführte Kampagne zur Absetzung des Bundespräsidenten Christian Wulff. BILD hatte in der Integrationskampagne wochenlang Texte von Sarrazin abgedruckt und Schlagzeilen wie »Deutschland wird dümmer und ärmer« produziert. Angela Merkel hat sich auf dem Höhepunkt der gegen Muslime gerichteten Integrationsdebatte im Oktober 2010 dazu geäußert: Das multikulturelle Zusammenleben sei »absolut gescheitert«. Führende CSU- und CDU-Politiker fielen in diesen Chor mit ein, Horst Seehofer (CSU) erklärte das multikulturelle Zusammenleben für tot und bekannte sich zur »herrschenden deutschen Leitkultur«. Der gestürzte Bundespräsident Christian Wulff wäre heute noch in seinem Amt, wenn er nicht den Satz »Der Islam gehört zu Deutschland« geäußert hätte, den sein Nachfolger Gauck dann ja auch als eine seiner ersten Amtshandlungen eilfertig widerrufen hat.
Die Beschneidungsdebatte hat indes auch gezeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen altem Antisemitismus und neuer Islamfeindlichkeit ist. Im Gefolge des Kölner Beschneidungsurteils, das ja gegen einen Arzt ausgesprochen wurde, der einen muslimischen Jungen beschnitten hatte, gab es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine Welle antisemitischer Äußerungen. Die Heftigkeit der Beschneidungsdebatte, die künstlich aufgepeitschte Empörung über das Leid jüdischer und muslimischer Kinder, ist auch Ausdruck der vorangegangenen Kampagne gegen das Zusammenleben verschiedener Kulturen und für die Unterwerfung der »Anderen« unter die deutsche und christliche Leitkultur.
Drei Etappen des deutschen Nachkriegsrassismus
Wenn wir nach den Ursachen des Erfolgs von Sarrazins Buch und seiner Kampagne fragen, dann kommen wir nicht an den bürgerlichen Medien vorbei, die dieses Buch schon vor seiner Erscheinung als »Tabubrecher« angekündigt haben. Sarrazin, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im August 2010 noch Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bundesbank, wurde von der BILD-Zeitung und vom SPIEGEL mit Titelblättern und Schlagzeilen unterstützt. Warum? Wir kehren zurück zu Horkheimers und Adornos Frage nach der oder den Schlüsselgruppen zurück, nach denen, die berufsmäßig die Meinung der Herrschenden in Deutschland zur herrschenden Meinung machen.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten kamen diese Gruppen ohne Rassismus aus. Mit dem Namen Adenauer sind nicht Antisemitismus oder andere Rassismen verbunden, sondern Antikommunismus. Der Antisemitismus war nicht verschwunden, er überlebte, so wie die Nazis überlebten. Die Administratoren des Holocaust zogen ein neues Hemd über, frisch gewaschen und gebügelt, sie blieben in ihren alten Ämtern oder erhielten neue. Antisemiten und Antisemitismus waren wohlgelitten und geduldet, solange sie sich nicht allzu laut zu ihren Verbrechen von gestern bekannten.
In der Zeit von 1955 bis 1974 kamen vier Millionen »Gastarbeiter« nach Deutschland, angeworben von der deutschen Industrie. Sie waren willkommen, Warnungen vor einer »durchrassten Gesellschaft«, wie sie dann in den 1990er Jahren von führenden rechtskonservativen Politikern geäußert wurden, waren damals nirgends zu hören, selbst nicht von der seit Mitte der 1960er Jahre erstarkenden NPD. »Ausländer« waren schlicht kein politisches Thema. Das änderte sich Mitte der 1970er Jahre mit der Rückkehr der Krisen und der Massenarbeitslosigkeit. »Zu viele Ausländer« wurde als Problem entdeckt, zwischen 1973 und 1993 wurden zahlreiche Verschärfungen im Ausländerrecht vorgenommen, von den Zuzugssperren in »belastete« Wohnviertel im Jahr 1973 unter Kanzler Willy Brandt über die Rückkehrprämien im Krisenjahr 1982 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt bis zur Abschaffung des Grundrechts auf Asyl unter Bundeskanzler Helmut Kohl mit Unterstützung der SPD-Opposition im Jahr 1994. Die Ungleichwertigkeit von Migranten wurde staatlich institutionalisiert. Schon 1983 begannen CDU- und CSU-Politiker mit einer »Das Boot ist voll«-Kampagne gegen Flüchtlinge (»Asylanten«). Die erste Etappe der Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit ging in den 1980er Jahren fließend über in eine Asylbewerberfeindlichkeit, genau genommen war dies eine neue Phase der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem Zusammenspiel konservativer Regierungspolitiker und organisierter Nazigruppen: Die einen bedienten sich der anderen. NPD und Republikaner stützten sich auf die fremdenfeindlichen Parolen konservativer Politiker und umgekehrt nutzte die Kohl-Regierung die pogromartigen Ausschreitungen in mehreren ostdeutschen Städten 1991/92 (Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Halberstadt) gegen Asylsuchende und andere Migranten, um die SPD in der Opposition unter Druck zu setzen, einer Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zuzustimmen. Die SPD knickte folgsam ein.
Der Protest von Millionen Bundesbürgern gegen Pogrome und Brandanschläge (Solingen, Mölln, Lübeck, Ludwigshafen) beendete vorläufig diese zweite Welle des fremdenfeindlichen Rassismus, die als Asylflut-Kampagne in die Geschichte einging. Noch vor dem Wahlkampf 1994 stellte die CDU unter ihrem damaligen Generalsekretär Heiner Geißler die Kampagne ein, denn in den Landtagswahlen von 1993 hatten die faschistischen Republikaner von der Asylflutkampage profitiert und waren in mehrere Landtage eingezogen. Dies war der entscheidende Grund für die Beendigung der Kampagne seitens der Führung von CDU und CSU.
Die vorläufig letzte Welle des Rassismus in Deutschland ist die Islamfeindlichkeit. Sie ist der Umschlag von einem kulturalistischen in einen religiös-kulturalistischen Rassismus. Die Fremdenfeindlichkeit hatte sich immer aus Argumenten gespeist, die beinhalteten, dass »zu viele« Ausländer als Menschen fremder Kultur schädlich für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft seien. Diesen Haltungen lag ein Kulturverständnis zugrunde, das immer schon Ausdruck einer reaktionär-christlichen Kultur war, die einen Alleingeltungsanspruch vor sich her trug (siehe den Beitrag von Reuven Neumann in diesem Heft). Allerdings fehlte der ersten und zweiten Etappe des Nachkriegsrassismus die geschlossene Ideologie, das rassistische Weltbild, so wie dies in den Ideologien des Sozialdarwinismus der Fall ist. In der neuen Etappe wird diese Lücke geschlossen. Sarrazins Buch und viele andere islamfeindliche Stellungnahmen unterscheiden sich durch ihre »Ausgesprochenheit« nach dem Motto »Das wird man wohl mal sagen dürfen«. Die Ausgeschlossenen und Diskriminierten werden gewissermaßen auf Dauer als minderwertig hingestellt, sei es auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum islamischen Kulturkreis, sei es – wie Sarrazin argumentiert – aufgrund ihrer Kultur und ihrer Gene. Dabei ist es recht unerheblich, wenn statt von »Rasse« von »Kultur« gesprochen wird, da »Kultur« essenzialistisch als etwas Wesenhaftes und Unveränderliches interpretiert wird. Das Beispiel Sarrazin zeigt, dass »Rasse« und »Kultur« als austauschbare Begriffe zu werten sind und dass »Ethnie« oder »Kultur« oft nur aus politisch-taktischen Gründen anstelle von »Rasse« verwendet werden.47
Nicht überall in Europa hat der Rassismus diese Epochen durchlaufen und nicht überall ist heute Islamfeindlichkeit so in den Vordergrund rassistischer Ideologie und Praxis getreten wie in Deutschland. Die faschistische Rechte (NPD, Republikaner, Pro Deutschland) hat seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts ihre Wahlkampagnen auf diese neue und dominante Form des Rassismus ausgerichtet. Auch konservative Rechte wie Innenminister Friedrich (CSU) konzentrieren ihren Rassismus auf die Islamfeindlichkeit. Das heißt freilich nicht, dass es die anderen, älteren Formen nicht mehr geben würde oder dass diese nicht mehr relevant wären. Aber die empirischen Studien von Heitmeyer und anderen haben ergeben, dass zum Beispiel Antisemitismus an Bedeutung verloren hat. Die Ursache hierfür liegt darin, dass diese Form des Rassismus von der gesellschaftlichen Mitte und den führenden Meinungsproduzenten der herrschenden Klasse im Regelfall sanktioniert wird. In Ost- und Südosteuropa spielen Antisemitismus und Antiziganismus (Ungarn, Tschechien) die Hauptrolle. In Griechenland hat die neue Regierung aus Konservativen und rechten Sozialdemokraten eine großangelegte Kampagne gegen Flüchtlinge eingeleitet. Sie wird dabei unterstützt und übertrumpft durch die Faschisten der Partei Goldene Morgenröte (siehe den Beitrag von Adam Fabry und Leandros Bolaris in diesem Heft).
In ganz Europa hat der Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und seine Transformation in eine sich zuspitzende Dauerkrise der Eurozone dazu geführt, dass die herrschende Klasse oder Teile davon (Schlüsselgruppen) den Rassismus erneut salon- und mehrheitsfähig machen wollen. Sie brauchen wieder Sündenböcke und sie fürchten die Solidarität in Klassenkämpfen von unten, die ihre Herrschaft bedrohen könnten. Wie anders können wir sonst erklären, dass massenwirksame Medien wie SPIEGEL und BILD über Wochen ein sozialdarwinistisch argumentierendes rassistisches Machwerk propagieren halfen? Die Furcht vor einer Islamisierung Deutschlands und Europas ist eine äußerst abwegige Idee, sie stellt sich nicht aus Krisenerfahrungen her, sie ist konstruiert und wird bewusst von Teilen der bürgerlichen Politiker und der bürgerlichen Medien in die Öffentlichkeit hineingetragen.
Das schließt nicht aus, dass auch diese Form des Rassismus sich von ihren bürgerlichen Trägern verselbstständigt und zum Instrument eines wild gewordenen Kleinbürgertums wird, das im Rassismus und im Rassenkampf eine Lösung für sich sehen möchte. Der Konflikt zwischen der rechtsradikalen Kleinpartei Pro Deutschland und Innenminister Friedrich über die Aufführung eines rassistischen und islamfeindlichen Films eines US-Bürgers ist bereits ein Hinweis auf solch eine Verselbstständigung, wie der Besen in Goethes Gedicht »Der Zauberlehrling«, in dem der Lehrling am Ende ausruft: »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.«
Rassismus in der DDR
Als 1991 in Hoyerswerda ein Mob von 500 Rassisten ein Wohnheim ehemaliger Vertragsarbeiter aus der DDR, in ihrer Mehrzahl Vietnamesen, angriffen, da ließen sie ihre Wut über den drohenden Arbeitsplatzverlust an den Falschen aus. Den geistigen Nährboden hatte die Regierung Kohl gelegt, nachdem sie innerhalb weniger Jahre 80 Prozent der Industrie der früheren DDR »abwickelt« hatte, und nun als Ablenkungsmanöver gegen Klassenkämpfe von unten die Asylflutkampagne (»Das Boot ist voll«) inszenierte. Die ausländischen Vertragsarbeiter hatten als Erste ihre Arbeitsplätze im nahen Lausitzer Braunkohlerevier verloren. Was wie ein spontanes Pogrom aussah, war von örtlichen Nazigruppen vorbereitet und angeführt worden. Die Nazis konnten allerdings auf eine rassistische Tradition in der DDR selbst im Umgang mit ihren Vertragsarbeitern zurückgreifen.
Im Jahr 1989 lebten in der DDR etwa 190.000 Ausländer, davon waren etwa 94.000 Vertragsarbeiter. Die größte Einzelgruppe von ihnen waren 60.000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus Vietnam. Sie erhielten in der Regel – ähnlich wie Migranten in der BRD – monotone, schmutzige oder schwere Arbeiten, für die unter DDR-Bürgern wenig Bereitschaft bestand. Erfüllten sie die Arbeitsnormen nicht oder verstießen sie gegen die »sozialistische Arbeitsmoral«, dann drohte die Ausweisung ins Herkunftsland. Im Fall von Schwangerschaften sahen sich die Vertragsarbeiterinnen vor die Alternative einer erzwungenen Abtreibung oder der Abschiebung ins Herkunftsland gestellt. Die Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter lebten von der deutschen Bevölkerung abgeschottet in Baracken oder Wohnblöcken. Kontakte zur einheimischen Bevölkerung waren untersagt oder waren genehmigungs- und berichtspflichtig. Ihre Lebensumstände blieben den meisten DDR-Bürgern daher fremd, sie wurden entweder bemitleidet oder herablassend behandelt. Die Vietnamesen wurden im Volksmund »Fidschis« genannt. Eine wie immer geartete Integration war ausdrücklich unerwünscht, das Höchstalter betrug 35 Jahre, der Aufenthalt war befristet auf drei bis fünf Jahre. In der Schlussphase der DDR gab es trotz aller proklamierten Völkerverständigung mit den sozialistischen Bruderländern eine von Regierung und Staat durchaus geförderte Polenfeindlichkeit (zum Beispiel Polenwitze im Fernsehen). Diese dienten auch dem Zweck, Versorgungsengpässe auf »kaufwütige« Polen abzuschieben und damit die Regierung zu entlasten.
Die diskriminierende Umgangsweise mit den Vertragsarbeitern wirft Fragen auf: Wenn Rassismus eine Erscheinung kapitalistischer Herrschaft ist, wie kommt es dann, dass es ihn auch im Sozialismus gab, nicht nur als Relikt aus der vorsozialistischen Zeit, sondern als Produkt der DDR-Gesellschaft selbst? Es gibt Sozialisten, die in der DDR einen sozialistischen Staat sehen, in dem es weder Ausbeutung noch soziale Ungleichheit gab. Sie teilen zugleich durchaus den Standpunkt, dass es in der DDR rassistische Strukturen gab, die nicht nur Relikte aus der Vergangenheit waren, sondern die in der DDR selbst entstanden sind. Sie schließen daraus, dass rassistische Strukturen ihre Ursachen außerhalb der ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft haben. Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt: In der DDR gab es zwar kein Privateigentum an Produktionsmitteln, es gab aber trotzdem keine Vergesellschaftung, weil der Staat selbst nicht vergesellschaftet, nicht wirklich ein Arbeiter- und Bauernstaat war. Der Staat als Besitzer der Produktionsmittel war das kollektive Eigentum einer bürokratischen Klasse. Auch in der DDR gab es soziale Ungleichheit und die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Der von ihr geschaffene Mehrwert entzog sich der Kontrolle und der Verfügungsgewalt der Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums, nicht anders als in Ländern mit privatkapitalistischen Verhältnissen. Warum sollten sich die Vertragsarbeiter nicht mit der einheimischen Arbeiterklasse vermischen? Die Herrschenden der DDR waren auf keinen Fall gewillt, eine Einheit der unteren Klassen zuzulassen. In der DDR gab es ökonomische Ausbeutung, soziale Ungleichheit und deshalb auch Unterdrückung von Frauen und ethnischen Minderheiten.
Rassismus bekämpfen
Marx und Engels beschlossen das von ihnen verfasste Kommunistische Manifest nicht mit dem Ruf »Unterdrückte aller Länder vereinigt euch!«, sondern mit dem Appell »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Unterdrückte Menschengruppen wie Schwule und Lesben, Muslime oder auch Frauen gehören verschiedenen Klassen an, es gibt reiche und arme Muslime, schwule Arbeiter und schwule Kapitalisten. Die Einheit unterdrückter Gruppen ist daher immer auch eine Einheit zwischen Menschen verschiedener Klassen. Diese Einheit ist brüchig und illusionär: Reiche Unterdrückte leiden in der Regel weniger unter der Unterdrückung »ihrer« Minderheit. Wenn die bürgerlichen Vertreter dieser Minderheiten eine führende Rolle im Kampf gegen die Unterdrückung übernehmen, wird dies zum Hindernis und zur politischen Schranke für einen erfolgreichen Kampf. Damit ist nicht gemeint, dass der Kampf gegen Rassismus zurückgestellt werden soll und stattdessen der »reine Klassenkampf« zu führen sei. Im Gegenteil: Sozialisten müssen alle Kämpfe unterdrückter Minderheiten unterstützen. Der Kampf gegen Rassismus kann so zu einer wichtigen Quelle des Klassenkampfes zur Überwindung des Kapitalismus werden.
Das setzt aber voraus, dass es politische Kräfte, organisierte Sozialisten, gibt, die es verstehen, Kämpfe gegen Unterdrückung mit dem Kampf gegen Ausbeutung und gegen den Kapitalismus zu verbinden. Dazu werden Sozialisten nur dann in der Lage sein, wenn sie aktiv und führend an antirassistischen Protesten, Demonstrationen und Kämpfen von Beginn an beteiligt sind. Wir haben starke Argumente: Die unterdrückte Minderheit der Migranten, Muslime oder Flüchtlinge wird allein zu schwach sein zu siegen; nur gemeinsam mit anderen unterdrückten Schichten und vor allem gemeinsam mit allen ausgebeuteten Menschen haben sie eine Chance. In Deutschland gab es 1973 in einem großen Autozulieferbetrieb in Pierburg bei Neuss einen erfolgreichen Streik von Bandarbeiterinnen, die in ihrer großen Mehrheit Migrantinnen waren. Im Laufe des Streiks gelang es ihnen, die deutschen Facharbeiter auf ihre Seite zu ziehen, und diese Einheit war der Schlüssel zu ihrem Sieg.
Unter Sozialisten, auch in der Partei Die Linke, gibt es heute aber zwei politische Hindernisse, die einer solchen Klassenperspektive des Antirassismus im Wege stehen. Es gibt einerseits das Argument, dass wir Muslime mit reaktionären religiösen Ideen nicht unterstützen können und dürfen, und es gibt andererseits die Vorstellung, dass wir darum kämpfen sollten, die Lebensverhältnisse zu ändern, »die solche [ausgrenzenden; d. Verf.] Einstellungen erst entstehen lassen«, statt Menschen mit fremdenfeindlichen Einstellungen als Rassisten zu etikettieren und zu bekämpfen.48
Beide Argumente sind falsch.
Zum ersten Argument: Wenn wir zusammen mit jungen Muslimen, die ihre Moscheen vor Rassisten schützen wollen, gemeinsam kämpfen, dann sind in diesem Augenblick ihre religiösen Ideen völlig unwichtig, wir sind ohne jede Vorbedingung an ihrer Seite. Beginnen wir jedoch damit, Bedingungen zu stellen, dass die Muslime dieses oder jenes nicht glauben oder verkünden dürfen, dann verhalten wir uns im Prinzip nicht anders als die Rassisten, die ihnen das Recht absprechen, ihrem Glauben ungestört, gleichberechtigt mit anderen Religionen und auch öffentlich nachzugehen. Bei einem Streik würden wir auch nicht argumentieren, dass sich nur die fortschrittlicheren Arbeiter beteiligen dürften, solche, die zum Beispiel für die Wiedereinführung der Todesstrafe sind oder die schwulenfeindliche oder auch fremdenfeindliche Ansichten vertreten aber nicht. Jede große soziale Bewegung wird Menschen mit rückschrittlichem und reaktionärem Bewusstsein mit erfassen. Erst ihre Beteiligung an der gemeinsamen emanzipativen Bewegung eröffnet die Chance, reaktionäre Ideen zu überwinden.
Auch unter diesem Gesichtspunkt ist übrigens der Begriff der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« ein politisches Hindernis. Das eine oder andere der zwölf Elemente der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wird ganz sicher bei der großen Mehrheit der Menschen anzutreffen sein. Die Hoffnung, dass sich die Menschen durch Selbstreflexion oder durch gruppenpädagogische Experimente sukzessive von allen Vorurteilen befreien, ist eine idealistische, illusionäre. Die Mischung zwischen fortschrittlichen und reaktionären Ideen ist bei jedem Menschen verschieden. Nur in gemeinsamen Kämpfen gegen Kapitalisten, gegen Unterdrückung, gegen den bürgerlichen Staat eröffnet sich die Chance, reaktionäre Ideen aufzubrechen. Das betrifft reaktionäre rassistische Ideen ebenso wie rückwärtsgewandte religiöse Ideen.
Der zweite Ansatz, der allein darauf setzt, die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern, um Rassismus zu bekämpfen, ist jedoch ebenso falsch. Natürlich wäre es schön, die ökonomischen und sozialen Verwerfungen aufzuheben, die den Rassisten erst die Möglichkeit geben, ihr Gift zu verspritzen. Aber Menschen werden nicht schon Rassisten, weil sie arbeitslos geworden oder prekär beschäftigt sind oder Angst vor einer Betriebsschließung haben. Sie werden zu Rassisten, weil sie vereinzelt morgens eine Zeitung kaufen, die ihnen sagt, dass Deutschland ärmer und dümmer werde, weil es zu viele Muslime gebe. Sie greifen nach Deutungsmustern, die ihnen von der Gesellschaft, von Politikern, von Medien und den professionellen Ideenproduzenten der Herrschenden dargereicht werden, kurz: Sie geben die dominante und gesellschaftlich akzeptierte Meinung wieder. Ihre Ängste haben keinen Ausgangspunkt in der Realität, und gerade deshalb ist es schwer, sie ihnen durch bloße Gegenargumente auszureden. Rassisten können natürlich auch Opfer des Kapitalismus sein, aber sie sind nicht deshalb schon Rassisten, weil sie Opfer sind, sondern weil sie in ihrem Bedürfnis nach einer Lösung ihrer Existenzsorgen auf keine anderen Antworten gestoßen sind als diejenigen der Herrschenden. Auf der Straße, im Betrieb, in der Nachbarschaft werden sie zu Tätern im Interesse der Herrschenden und gegen ihre eigenen Interessen.
In der Regel werden solche Menschen auch nicht durch bessere Argumente erreicht oder durch den Kontakt mit den Menschen, die sie hassen. Das Kontaktmodell als pädagogischer Weg hat seine Grenzen. Auf die Frage, ob er für einen Austausch von deutschen Studenten mit israelischen sei, um antisemitische Vorurteile abzubauen, antwortete Adorno in einem Vortrag, den er 1959 vor dem Koordinierungsrat für christlich-jüdische Zusammenarbeit hielt, dass er nicht dagegen sei, sich aber nicht viel davon verspreche. »Man geht«, so Adorno, »dabei allzu sehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden.«49 Natürlich werden wir versuchen, Rassisten auch mit guten Argumenten zu begegnen. Aber es ist ein Unterschied, ob wir ihnen im Betrieb, in der Kneipe oder an einem politischen Stand einzeln begegnen oder ob sie organisiert andere Menschen unterdrücken, sich zu einer politischen Bewegung formieren, um vor Moscheen oder Wohnheime von Asylbewerbern zu ziehen, um dort Menschen zu terrorisieren. Als im Jahr 1992 in Rostock-Lichtenhagen ein rassistischer Mob über mehrere Tage Flüchtlinge und ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam belagerte, ihre Wohnungen anzündete und 130 Vietnamesen nur mit knapper Not dem Feuertod entkommen konnten, hätten antirassistische Argumente nicht geholfen. Pogromartige Angriffe auf Flüchtlingsheime und Migrantenwohnungen erschütterten in den Jahren 1991 bis 1993 die Republik.
In Woody Allens Film »Manhattan« befindet sich der Hauptdarsteller Isaac Davis auf einem Empfang zur Förderung der Frauenrechte und merkt im Gespräch an, dass in New Jersey Nazis demonstrieren wollen. Sein Gegenüber macht auf ein »wirklich vernichtendes« satirisches Essay in der New York Times aufmerksam, worauf er antwortet: »Ein satirischer Artikel ist ja ganz nett, aber Pflastersteine und Baseballschläger bringen die Sache auf den Punkt. […] Es ist schwer, einem Typen, der Glattlederstiefel trägt, mit Satire zu begegnen.«50 Ergänzen wir die Baseballschläger durch eine kämpferische Massenbewegung gegen Rassismus, und wir sind der Lösung näher. Die Lichterkettenbewegung (1993/94) mit mehreren Millionen Teilnehmern gegen Rassismus und Asylfluthetze hat damals die öffentliche Meinung beeinflusst. Innerhalb von wenigen Monaten halbierte sich die Zahl der Menschen, die Verständnis für rassistische Gewalt hatten.
Antirassistische Bewegungen sind aber letztlich zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht imstande sind, die Verbindung zum Klassenkampf herzustellen. Ökonomische Klassenkämpfe sind kein Ersatz für Kämpfe gegen die Unterdrückung ethnischer, nationaler, religiöser oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminierter Minderheiten. Aber der Klassenkampf der Arbeiterbewegung um ihre Emanzipation von kapitalistischer Ausbeutung ist das einzige Bindeglied, das allen Unterdrückten eine Perspektive des Sieges geben kann. Karl Marx hat dies in seiner berühmten Formulierung zur Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation mit den Worten ausgedrückt, »dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, das heißt der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zugrunde liegt« und »dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der große Endzweck ist, dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist«.51 Das gilt gerade auch für die politische Bewegung gegen alle Formen rassistischer Unterdrückung. Rassismus hat den Kapitalismus seit seiner Entstehung begleitet. Rassismus – die Entwertung von Menschen anderer Herkunft und Kulturen – hat die Erniedrigung, Vertreibung und Auslöschung der diskriminierten Gruppen latent immer in seinem Blick. Er kann letztlich nur zusammen mit dem Kapitalismus überwunden werden. Antirassismus kann umgekehrt zu einer großen Inspiration der bedrohten Minderheit werden, sich gegen den Kapitalismus, der ihnen seine hässliche Fratze entgegenstreckt, zu erheben.
1Marx, Karl, und Friedrich Engels, 1983, »Deutsche Ideologie«, in: Marx/Engels Werke (MEW), Band 3, Berlin, S. 46.
2Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 2011, Deutsche Zustände, Band 10, Frankfurt am Main, S. 27.
3Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 34.
4Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 2010, Deutsche Zustände, Band 9, Frankfurt am Main, S. 76.
5Heitmeyer, Wilhelm, »Die Gefahr eines ›schwärmerischen Antirassismus‹«. Zur Notwendigkeit einer differenzierten Begriffsverwendung und einer multikulturellen Konfliktforschung«. In: Das Argument 195 (1992).
6Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 300.
7Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 299.
8Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 307.
9Keiner der über 100 Beiträge der in 10 Bänden veröffentlichten Studie beschäftigt sich mit der Untersuchung des Rassismus, obwohl dieser theoretisch als eines von insgesamt 12 Elementen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufgefasst wird.
10Mit Hinblick auf das Gesamtergebnis stellt Heitmeyer fest: »Die Zustimmung zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und zur Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen nimmt nach den Abnahmen der vergangenen Jahre im Verlauf des letzten Jahres wieder deutlich zu. Lediglich die Islamfeindlichkeit und die Zustimmung zu Etablierten-Vorrechten blieben in etwa auf dem gleichen Niveau wie in den Vorjahren. Beim Sexismus, klassischem Antisemitismus und der Homophobie registrierten die Forscher/innen eine kontinuierliche Abnahme.« (Netz gegen Nazis, Deutsche Zustände 2011: Wer sich bedroht fühlt, agiert menschenfeindlicher, http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/deutsche-zustaende-2011-rechtsextremismus-rassismus-1817, gesichtet am 14. 10. 2012).
11Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 122.
12Marx, Karl, MEW, Band 3, S. 46.
13Geiss, Imanuel, 1988, Geschichte des Rassismus, Frankfurt am Main, S. 26.
14Geiss, 1988, S. 28.
15Geiss, 1988, S. 31.
16Geiss, 1988, S. 33–34.
17Zitiert nach Pierre Pellegrin, »Hausverwaltung und Sklaverei«, in: Ottfried Höffe (Hg.), Aristoteles, Berlin 2001, S. 37 ff. Nach Pellegrin wurde zwischen schlauen und dummen Sklaven unterschieden. Die »Schlauen« stammten in der Regel aus Kleinasien, die »Dummen« aus dem wirtschaftlich unterentwickelten Norden. Demnach waren die »schlauen« Sklaven diejenigen mit dunklerer Hauptfarbe.
18Geiss, 1988, S. 48–59.
19Heitmeyer hatte in einem 1992 veröffentlichten Aufsatz über »Die Gefahren des schwärmerischen Antisemitismus« davor gewarnt, den Rassismus als »All«-Begriff zu verwenden und sprach von einem »inflationären Gebrauch des Begriffs ›Rassismus‹ in der damaligen antirassistischen Bewegung«. In: Das Argument, Nr. 195, S. 679.
20Zur Entstehungsgeschichte der amerikanischen Verfassung siehe auch: Meienreis, David, »Demokratie der Wenigen«. In: marx21, Nr. 27 (2012), S. 30–35.
21Armitage, David, 2007, The Declaration of Independence: A Global History, Cambridge, S. 76–77.
22Hume, David, 1985, Essays, Indianapolis, S. 629–630, zitiert nach: Callinicos, Alex, 1999, Rassismus: Eine marxistische Analyse, Frankfurt am Main, S. 40.
23Locke, John, 1690, »An Essay Concerning Human Understanding«, zitiert nach: Harman, Chris, 1999, A People’s History of the World, London, S. 252.
24Harman, 1999, S. 254.
25Immanuel Kant, 1775, »Von den verschiedenen Racen der Menschen«.
26Marx, Karl, »An Sigfried Meyer und August Vogt«, 9. April 1870, in: Marx/Engels, 1975, Insel in Aufruhr, Berlin, S. 214–215.
27Zitiert nach Hamann, Brigitte, 2002, Hitlers Wien, München, S. 48.
28Einflussreicher Hauptvertreter einer »feudalen Rassentheorie« (Lukács) war der Franzose Arthur de Gobineau (1816–1882) mit seinem Hauptwerk über »die Ungleichheit der Rassen«. Als gläubiger Katholik ist Gobineau Gegner der darwinschen Abstammungslehre geblieben. Ihm zufolge ist Adam »Urvater der nordischen Rasse«. Wovon die anderen »Rassen« abstammen, ließ er offen; sie seien jedenfalls keine Nachfahren Adams. In der »Blutdurchmischung« sieht er die Ursache eines unvermeidlichen Untergangs der Kultur. Gobineau ist Vorreiter der modernen bürgerlichen Rassentheorien gewesen, bei ihm finden sich aber auch noch Elemente eines feudalen Rassismus. Er argumentiert, dass die feudale Klasse Frankreichs, die von der französischen Revolution gestürzt worden war, aus einer anderen, edleren Rasse abstammte als das gemeine Volk der Franzosen, in dem er eine durchmischte Rasse sieht.
29Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd 1, S. 202, Internet-Ausgabe.
30Lukács, Georg (1954), 1974, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied.
31Woltmann, Ludwig, 1903, Politische Anthropologie, Eisenach-Leipzig, S. 291, zitiert nach: Lukács, 1974, S. 136.
32Lukács, 1974, S.152.
33Hitler, Mein Kampf, Band II, S. 428.
34Lukács, 1974, S. 176.
35Benz, Wolfgang, »Antisemiten und Islamfeinde. Hetzer mit Parallelen«, Süddeutsche Zeitung, 4. 1. 2010.
36Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 12. 2002.
37Der Neue Brockhaus, 1959, Band 3.
38Barkan, Elazar, 2000, The Retreat of Scientific Racism, Cambridge.
39Eibl-Eibesfeldt hat sich wiederholt gegen Migration ausgesprochen und dies mit einer angeborenen Fremdenfurcht begründet. Vgl. »Fremdenfurcht und Ausgrenzung«, in: Süddeutschen Zeitung, Magazin, 7. 2. 1992, S. 52.
40Zitiert nach Lukács, 1974, S. 143.
41Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 8. 2012.
42Zitiert nach: Schirrmacher, Frank, 2010, »Biologismus macht die Menschen dümmer«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 9. 2010; Thilo Sarrazin, »Deutschland schafft sich ab«, 10. Auflage 2010, S. 353.
43Sarrazin, S. 17, in der 10. Auflage.
44Sarrazin, S. 369 in der 10. Auflage.
45Sarrazin, S. 369–370; der zweite Teil dieses Absatzes fehlt in der 10. Auflage, ist aber in der zweiten Auflage, ebenfalls von 2010, noch vorhanden, wie dokumentiert durch eine vollständige PDF-Version, die damals im Internet zirkulierte.
46Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 8. 2012. Zitate von Sarrazin siehe ebenda.
47Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Buchs erklärte Sarrazin der Presse zu den Vorwürfe gegen ihn, dass er mit seiner »Theorie« vom Vorhandensein eines speziellen Gens, das alle Juden besäßen, in den alten sozialdarwinistischen Rassismus verfalle, er habe sich »nicht präzise genug« ausgedrückt. Er ginge erstens davon aus, dass das Vorhandensein eines Gens noch nichts über dessen Wirken aussage. Zweitens sei er ohnehin der Meinung, dass die Kultur die eigentlich prägende Kraft sei (im Negativen wie im Positiven). Die Erklärung wurde zu Recht als taktischer Rückzug Sarrazins vor den empörten jüdischen Gemeinden gewertet.
48Heitmeyer, 2011, Band 10, S. 678.
49Adorno, Theodor W. (1959), 1997, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Kulturkritik und Gesellschaft Band II, Gesammelte Schriften Band 10.2, Frankfurt am Main.
50Woody Allen, »Manhattan«, 1979.
51Marx, Karl, »Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation« (1884), 1962, in: MEW, Band 16, Berlin, S. 14.
Dieser Artikel ist erstmals in unserer Theoriezeitschrif theorie21 (Nr. 2/2012) erschienen. Das ganze Heft kann unter info@marx21.de bestellt werden.
Foto: Sozialfotografie [►] StR
Schlagwörter: Analyse, Antisemitismus, DDR, Islam, Kapitalismus, Krise, Linke, Marxismus, Protest, Rassismus