Die Regierungskrise der Großen Koalition scheint vorerst abgewendet, der unionsinterne Streit um die Asylpolitik ist aber lediglich vertagt. Doch der eigentliche Konfliktpunkt ist gar nicht die Flüchtlingsfrage
Nach tagelanger Irrfahrt hat die »Aquarius« das spanische Festland erreicht. Hunderte Flüchtlinge konnten endlich an Land gehen. Zuvor hatten Malta und Italien die Aufnahme des Schiffes abgelehnt. Die neue italienische Regierung aus Rechtspopulisten und Neofaschisten will mit ihrer Abweisung der »Aquarius« ein Zeichen setzen, dass sie nicht einmal mehr gewillt ist, die Mindeststandards eines humanitären Umgangs mit Geflüchteten einzuhalten und sie stattdessen auf dem Mittelmeer ihrem Schicksal überlässt.
Seehofers erfolgreiche Erpressung von Merkel
Wenn Innenminister Seehofer hierzulande das alleinige Sagen hätte, hätten wir auch in Deutschland italienische Verhältnisse. Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern und solchen, die bereits in einem anderen EU-Land als Asylsuchende gemeldet waren, würden erst gar nicht mehr ins Land gelassen, sondern direkt an der Grenze abgewiesen. So sieht es Seehofers »Masterplan« vor, in dem er 63 Punkte zur weiteren Verschlechterung des ohnehin bis zur Unkenntlichkeit geschliffenen Asylrechts angekündigt. Mit 62 der flüchtlingsfeindlichen Forderungen war Kanzlerin Merkel angeblich einverstanden. Über den 63. Punkt, die Abschottung an der deutschen Grenze, ist jedoch ein Streit zwischen Innenminister und Kanzlerin ausgebrochen, der in eine veritable Regierungskrise auszuarten droht. Die SPD-Fraktion im Bundestag gab an, den Entwurf Seehofers noch nicht einmal zu kennen.
Nach Beratungen der Parteivorstände von CDU und CSU haben sich die Koalitionäre nun auf eine Frist von zwei Wochen bis zum kommenden EU-Gipfel am 28. und 29. Juni geeinigt, um eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage zu finden oder bilaterale Abkommen zu schließen. Es ist ein Kompromiss, der es zunächst allen Beteiligten erlaubt, ihr Gesicht zu wahren, dennoch war Innenminister Seehofer mit seiner Erpressungstaktik letztlich erfolgreich und Merkel konnte sich lediglich Zeit erkaufen.
Noch ist Merkel nicht eingeknickt. Auf ihrer Pressekonferenz betonte sie, es gebe »keinen Automatismus«, dass ab Juli Menschen an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden. Stattdessen will sie nach dem EU-Gipfel erneut innerhalb der Union beraten und dann über das weitere Vorgehen entscheiden. Allerdings zeigt die Tatsache, dass sie sich von einem Minister aus der eigenen Fraktion derart auf der Nase rumtanzen lässt, dass ihre Position in der Partei und als Kanzlerin wesentlich geschwächt ist.
Ein weiteres Auseinanderbrechen der EU
Ein weiterer wichtiger Punkt von Seehofers »Masterplan« ist, dass die Unterstützung für Asylbewerberinnen und -bewerber nur noch in Form von Sachleistungen gewährt werden soll. Darüber hinaus ist noch bekannt, dass Seehofer sogenannte Ankerzentren errichten lassen will. In diesen Internierungslagern sollen Geflüchtete in Zukunft bis zu ihrer Abschiebung gesammelt untergebracht werden.
Merkel hat nun also eine Frist bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni, innerhalb derer sie eine europäische Lösung als Alternative zur Abschottung der deutschen Außengrenze finden muss. Der Streit ist deshalb wichtig, weil Seehofers Abschottung an den deutschen Grenzen die Wiedereinführung rigider Grenzkontrollen bedeuten würde. Zwar gelten diese an der bayerisch-österreichischen Grenze schon heute weitgehend, Seehofers Plan würde jedoch zwangsläufig auf ein weiteres Auseinanderbrechen der EU-Staaten in der Flüchtlingspolitik hinauslaufen. Dies gilt es für Merkel unbedingt zu verhindern. Schon jetzt befindet sich die EU — ein zentrales Projekt für die deutsche herrschende Klasse — in einer tiefen Krise, die sich nach dem Wahlsieg der antieuropäischen 5-Sterne-Bewegung und der rechtsradikalen Lega in Italien noch verschärft hat. Es ist mehr als fraglich, ob die italienische Regierung sich noch an das Dublin III-Abkommen halten und die in Italien ankommenden Flüchtlinge registrieren würde, wenn diese in Zukunft direkt an den Grenzen der europäischen Nachbarländer abgewiesen würden. Ein neues Aufflammen des Flüchtlingsstreits in der EU wäre ein herber Rückschlag für Merkel, die mit ihrem Türkei-Deal den Konflikt vorerst beigelegt hatte.
Seehofer geht es nicht um Flüchtlinge
Horst Seehofer, die CSU und Teile der CDU spielen ein gefährliches Spiel, wenn sie es tatsächlich auf einen Bruch der Regierungskoalition ankommen lassen. Angesichts der Tatsache, dass es ohnehin kaum noch Geflüchtete bis nach Deutschland schaffen und die Erstaufnahmeeinrichtungen hierzulande seit Monaten leer stehen, stellt sich die Frage, warum Seehofer in dieser Frage ausgerechnet jetzt die Eskalation sucht.
Tatsächlich ist der Grund für Seehofers Konfrontationskurs nicht seine von der Linie der Kanzlerin abweichende Flüchtlingspolitik, sondern die bevorstehende Landtagswahl in Bayern. Er hofft mit seinem flüchtlingsfeindlichen »Masterplan« den Verlust der absoluten Mehrheit der CSU im bayerischen Landtag zu verhindern und den weiteren Aufstieg der AfD zu Lasten der CSU zu stoppen.
Wasser auf die Mühlen der AfD
Die jüngsten Umfrageergebnisse zeigen jedoch das Gegenteil: Nach der aktuellen Forsa-Umfrage vom 16. Juni verlor die Union seit Ausbruch des Streits um Seehofers »Masterplan« bundesweit vier Prozentpunkte und käme nur noch auf 30 Prozent — auch die CSU fiele auf 36 Prozent der Stimmen in Bayern, würde der Bundestag nun neu gewählt. Für die anstehende Landtagswahl in Bayern erreicht die CSU der aktuellsten Umfrage des Instituts Civey vom 8. Juni zufolge nur noch 41 Prozent der Stimmen — ein Rückgang um 3,5 Prozentpunkte in den letzten zwei Monaten. Die Verteidigung ihrer absoluten Mehrheit ist damit außer Sicht. Die AfD konnte hingegen im selben Zeitraum weitere 1,5 Prozentpunkte zulegen und steht mit 13,5 Prozent in Bayern mittlerweile noch vor der SPD als zweitstärkste Kraft.
Im Streit um die Frage, welche Partei den schärfsten Kurs gegen Flüchtlinge und Migranten hat, kann die Partei von Weidel und Gauland die CSU allemal schlagen. Und Seehofer tut alles dafür, dass dies die alles entscheidende Frage bei der bayerischen Landtagswahl im Herbst wird. Er sagt zum Streit mit Merkel: »Die Lage ist ernst, aber zu bewältigen.« Es ginge um die Entscheidung, »um das, was wir alle geschaffen haben, zu schützen.« Mit anderen Worten: Seehofer tritt in die Fußstapfen von Thilo Sarrazin, der 2010 in seinem Bestseller »Deutschland schafft sich ab«, die Frage der Migration und der muslimischen Minderheit zur Überlebensfrage für Deutschland erklärt hatte und so den Raum für den Aufstieg der rassistischen AfD schuf.
Regierungskrise und die Aufgaben der LINKEN
Doch es geht nicht nur um einen Machtkampf zwischen Seehofer und Merkel. Der Riss über die richtige Strategie im Umgang mit der AfD geht durch die gesamte Union. Neben der CSU sind es insbesondere die ostdeutschen Landesverbände, die angesichts der erstarkenden Konkurrenz von rechts glauben, diese durch einen Rechtsruck ihrerseits kleinhalten zu können.
DIE LINKE muss sich klar gegen Seehofers Masterplan stellen. Dieser bedroht alles, wofür eine sozialistische Linke steht — eine Gesellschaft, die internationale Solidarität und Antirassismus zu einem Anker ihrer Politik macht — und führt zu einem weiteren Erstarken der neuen Nazis in der AfD.
Eine entschiedene Ablehnung von Seehofers rassistischer Hetze ist für DIE LINKE nun erstes Gebot. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie sich im unionsinternen Streit vor Merkel stellen sollte. Die Kanzlerin steht alles andere als für einen humanen Umgang mit Geflüchteten. Sie hat bislang noch jeder Asylrechtsverschärfung zugestimmt und auch sie steht für bedingungslose Abschottung — bloß eben nicht an der deutschen, sondern der europäischen Grenze.
Es geht auch darum, den Druck auf die SPD zu erhöhen, den Wettlauf zwischen CSU und AfD um den schärfsten Kurs gegen Geflüchtete nicht mitzumachen. Auch deshalb ist es wichtig, die Proteste gegen den AfD-Parteitag in Augsburg auch zu einer Kundgebung gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migranten zu machen.
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