Die bürgerliche Hegemonie bröckelt und die Rechte ist auf dem Vormarsch. Warum die liberale Moderne nicht mehr zu retten ist und was das für die Linke bedeutet, erklärt unser Gesprächspartner Raul Zelik. Nebenbei verrät er, warum man beim Fahrradfahren die Gesetze der Gravitation beachten sollte
Raul Zelik ist Schriftsteller, Übersetzer und Politikwissenschaftler. Seit 2016 gehört er dem Parteivorstand der LINKEN an.
marx21: In der LINKEN tobt die Debatte über eine mögliche Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Ist Regieren die einzige Möglichkeit linke Forderungen durchzusetzen?
Raul Zelik: Wenn man sich die jüngere Geschichte anschaut, müsste man die Frage eher umgekehrt formulieren: Haben linke Erfolge überhaupt etwas mit Regierungsbeteiligungen zu tun? Die Mitte-Links-Regierungen in Europa haben seit 1980 eher den Neoliberalismus vorangetrieben und verweisen somit auf das Gegenteil: ob nun Felipe González in Spanien, Tony Blair in Großbritannien oder Schröder-Fischer in Deutschland.
Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass soziale Kämpfe historisch auch konservative Regierungen zu Veränderungen gezwungen haben, die ich als »fortschrittlich« bezeichnen würde. Das stimmt für die Einführung der Versicherungssysteme unter Bismarck im 19. Jahrhundert genauso wie für die Energiewende unter Merkel. Reaktionäre oder progressive Transformationen haben also offensichtlich viel weniger mit der Zusammensetzung von Regierungen als mit dem Stand der gesellschaftlichen Mobilisierung zu tun.
Deswegen muss es zentrale Aufgabe der Linken sein, soziale Kämpfe zu organisieren, zu verbinden und zu stärken – und eben nicht Verwaltungspersonal für den Staatsapparat zur Verfügung zu stellen. Wer etwas verändern will, muss auf Organisierung und soziale Kämpfe setzen.
Umfragen zeigen aber, dass sich neunzig Prozent der Parteimitglieder DIE LINKE an der Regierung wünschen. Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man die Option einer Regierungsbeteiligung grundsätzlich verneint?
Ich verneine ja gar nichts, sondern verweise auf die Realität. Ich bin da altmodisch. Für mich besteht eine zentrale Aufgabe einer linken Organisation in der Aufklärung. Und in diesem Sinne müsste eine linke Partei den Illusionen ihrer Wählerinnen und Wähler eben auch mal widersprechen. Das Beispiel Syriza hat gerade erst wieder gezeigt, wie falsch es ist, unbegründete Hoffnungen auf Abkürzungen zu wecken. Das Versprechen, die Wahl einer Regierung – und nicht der Kampf der Vielen – könnte die Kräfteverhältnisse verändern, hat sich nicht erfüllt. Was bleibt, ist Enttäuschung.
Die Bedeutung von Regierungen wird völlig überschätzt. Und wir unterschätzen unsere Macht – als Menschen, die Unruhe stiften, Konflikte provozieren und kämpfen – gesellschaftlich etwas in Bewegung zu setzen.
Ein zentrales Argument der Befürworterinnen und Befürworter einer rot-rot-grünen Koalition ist, dass nur durch eine Abkehr von der neoliberalen Politik den Rassisten der AfD der Nährboden entzogen werden kann. Angesichts der Gefahr von rechts also doch in die Regierung?
Das Argument überzeugt mich nun am allerwenigsten. Machen wir mal einen Schritt zurück und betrachten das große Ganze. Die globalen Migrationsbewegungen, die wachsende Verunsicherung und die Angst vor dem sozialen Abstieg, die geopolitischen Krisen und der Rechtspopulismus haben meiner Ansicht alle etwas gemeinsam: Sie sind Ausdruck einer heraufziehenden globalen Krise. Man könnte sagen, der Kapitalismus ist dabei, sich zu Tode zu siegen. Er hat alle Lebensbereiche und Weltregionen kolonisiert, aber kann jetzt mit einem wachsenden Teil der Weltbevölkerung nichts anfangen. Milliarden Menschen sind überflüssig. Und das ist der Grund für die anschwellende Hegemoniekrise des bürgerlichen Systems.
Auf Hegemoniekrisen gibt es immer zwei Antworten: eine emanzipatorische und eine reaktionäre. Wenn die Linke jetzt den bürgerlich-liberalen Status Quo verteidigt, wird die extreme Rechte zur einzigen Alternative. Das Problem ist aber: Obwohl die liberale Moderne mit ihren sozialen und demokratischen Errungenschaften natürlich einen historischen Fortschritt gegenüber dem darstellt, was vorher war, ist sie nicht zu retten. Unsere Aufgabe ist nicht, ihren Kollaps zu verwalten, sondern eine emanzipatorische Alternative jenseits des Bestehenden sichtbar zu machen. Natürlich sollten wir zugleich die demokratischen und sozialen Errungenschaften verteidigen, die es heute gibt. Aber dafür brauchen wir nicht an der Regierung zu sein.
Linke Regierungen könnten doch aber auch hilfreich sein, die Bedingungen für gewerkschaftliche Kämpfe und soziale Bewegungen zu verbessern. Lassen sich Regierungsbeteiligung und Protestpartei nicht auch in Einklang miteinander bringen?
Ja, das könnten sie, wenn der Organisierungsgrad der Bevölkerung hoch wäre, das kritische Bewusstsein der Linken geschärft und die Macht der politischen Organisation gegenüber den Regierungskadern so groß, dass man die Leute im Apparat jederzeit zurückpfeifen könnte. Diese Bedingungen sind heute aber nicht gegeben. Deswegen wird eine Regierungsbeteiligung eher zu einer Demobilisierung von Protesten führen.
Man kann nun natürlich bescheidener sein und argumentieren: Elke Breitenbach in Berlin kümmert sich besser um Flüchtlinge als ihr Vorgänger Mario Czaja von der CDU, die Regierung Ramelow in Thüringen setzt dem Verfassungsschutz wenigstens Grenzen, während Abgeordnete wie Katharina König weiter gegen den Verfassungsschutz recherchieren. Ja, stimmt. Aber wir stehen, zumindest befürchte ich das, vor einem Zeitenbruch. Da sollten wir uns darauf konzentrieren, emanzipatorische gesellschaftliche Macht zu organisieren. Und etwas pathetisch würde ich sagen: Alles, was wir machen, müsste diesem Organisierungsgedanken untergeordnet sein. Ich kann nicht erkennen, dass DIE LINKE ihre Beteiligung in Parlamenten und Regierungen heute so diskutiert.
Kannst du Beispiele dafür nennen, wie Reformen aus der Opposition heraus erkämpft wurden?
Alle Errungenschaften in der kapitalistischen Welt – Sozialversicherungssysteme, Wahlrecht für Arbeiter und Frauen, der Antifaschismus nach 1945, die Entkolonisierung, die Öffnung des Bildungswesens, die ökologischen Transformationen – wurden durch soziale Kämpfe erzwungen oder aus der Gesellschaft heraus geschaffen. Die wenigsten kamen unter Links- oder Mitte-Links-Regierungen. Meistens waren diese Errungenschaften Antworten der Mächtigen auf die Möglichkeit eines radikalen Bruchs. Das erklärt im Übrigen auch, warum die Sozialdemokratie gemeinsam mit dem sozialistischen Lager unterging. Ihr Reformhorizont bestand nur solange es eine radikalere Gegenmacht gab, so deformiert diese Gegenmacht auch aussah. Unsere Aufgabe ist es, wieder eine Gegenmacht aufzubauen, wie es die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Befreiungsbewegungen einmal waren. Ziemlich ambitioniert? Ja. Aber man kann halt auch nicht mit dem Fahrrad zum Mond fahren. Man muss schon die Gesetze der Gravitation berücksichtigen. Ich würde mir ja auch wünschen, es wäre alles viel einfacher.
Als Beispiel für eine aktivistische Protestpartei wird häufig Podemos in Spanien angeführt, zu Recht?
Mit Einschränkungen. Podemos ist seit der Gründung sehr stark auf die Führungspersonen zugeschnitten gewesen und hat einen klassischen Medienwahlkampf gemacht. Sie sind auf bemerkenswerte 21 Prozent gekommen, aber stecken jetzt in einer schweren Krise. Ich denke, es muss immer darum gehen, kollektive Bildungsprozesse zu stärken, in denen viele Menschen selbst aktiv werden. Am Anfang war Podemos das, aber dann haben die neuen Politkader schnell nur noch mitspielen wollen im System.
Momentan hat man den Eindruck, dass es vor allem der AfD gelingt aus der Opposition heraus Druck aufzubauen und Erfolge zu erzielen. Woran liegt es, dass den Rechten gelingt, woran die LINKE meist scheitert?
Weil die Rechte auf viel geringere Machtwiderstände trifft. Erinnert ihr euch, wie schnell die großen Talkshows Pegida-Sprecher einluden, während die Medien die größeren TTIP-Proteste lange Zeit eher totschwiegen? Ist euch nie aufgefallen, wie unterschiedlich Geheimdienste und Polizei gegenüber rechts und links agieren? Wie viele wichtige Zeitungsleute und Industrielle die AfD unterstützt haben, wie wenige die Linke?
Und außerdem ist es natürlich auch für die Menschen selbst viel anspruchsvoller, alles in Frage zu stellen, was man ihnen beigebracht hat. In Deutschland durfte man lange Zeit nicht einmal »Kapitalismus« sagen. Hingegen leuchtet es dem Alltagsverstand sofort ein, dass Muslime und Ausländer an allem schuld sein sollen.
Trotz des Erstarkens der Rechten in zahlreichen Ländern gibt es auch gegenläufige Tendenzen, die eine linke Alternative sichtbar machen. Dazu gehören die Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders in den USA sowie das Phänomen Jeremy Corbyn in Großbritannien. Was kann die LINKE von diesen Beispielen lernen?
Dass es darum geht, prinzipiell zu widersprechen. Dass wir einfacher reden müssen, weil Bildungszugang auch Bestandteil herrschender Macht ist. Dass wir aber nicht populistisch den Leuten nach dem Mund reden sollten, sondern die Wahrheit sagen müssen. Und ich meine, dass wir dabei nicht nur unserem Verstand, sondern auch unserem Herzen vertrauen sollten. Denn unsere stärkste Waffe ist die Empathie: das Mitgefühl, die Solidarität. Wenn wir uns darauf besinnen, werden wir irgendwann gewinnen. Sie war das entscheidende Werkzeug in der Evolution der Menschheit, und sie scheidet die Linke von der Rechten, die Kooperation von der Konkurrenz.
Das Interview führte Martin Haller
Raul Zelik ist Autor zahlreicher Romane, Erzählungen und Sachbücher. Teilweise schon länger vergriffen, wurden die Romane und ein Erzählband von Zelik nun vom Kleinverlag edition disadorno neu aufgelegt.
Fotos: carnagenyc; Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Schlagwörter: AfD, Antifaschismus, Antikapitalismus, Gewerkschaften, Hegemonie, Hegemoniekrise, Opposition, Podemos, Populismus, Raul Zelik, Rechtspopulismus, Regierungsbeteiligung, Sanders, Syriza