In Griechenland treffen zwei Krisen Europas aufeinander: Tausende Geflüchtete erreichen täglich die Inseln. Gleichzeitig halten EU und Internationaler Währungsfonds an der brutalen Kürzungspolitik fest. In Athen erklärt der Aktivist Petros Constantinou, wie die Linke trotz allem stärker werden kann
Petros Constantinou ist nationaler Koordinator von KEERFA (Gemeinsame Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung) in Griechenland. Er ist Abgeordneter von Antarsya, dem Wahlbündnis der antikapitalistischen Linken, im Athener Stadtparlament.
marx21: Deutsche Zeitungen berichten, in der griechischen Krise sei langsam ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar. Kannst du diese Einschätzung bestätigen?
Petros Constantinou: Das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Insgesamt ist die griechische Wirtschaft im Verlauf der Krise um über dreißig Prozent geschrumpft und ein Ende ist nicht in Sicht. Im zweiten Quartal 2016 ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,9 Prozent gesunken, im ersten Quartal um ein Prozent. Trotz einer Steigerung in der Tourismusbranche ist die Arbeitslosigkeit im Sommer weiter gestiegen. Und das, obwohl 500.000 Arbeitnehmer, vor allem junge Menschen, ausgewandert sind – das sind fast fünf Prozent der Bevölkerung. In dieser Zahl sind noch gar nicht die vielen Wanderarbeiter enthalten, die das Land verlassen haben. Sie hinzugerechnet ist der Bevölkerungsrückgang noch gewaltiger. Diese Beispiele zeigen, dass die krasse Sparpolitik nicht funktioniert.
Angesichts dieser Zahlen kann ich mir vorstellen, dass die Bevölkerung frustriert ist.
Nein, Frustration ist nicht die vorherrschende Stimmung, sondern Wut. Wut über den Verrat der von der Linkspartei Syriza geführten Regierung, die die Vorgaben der Troika akzeptierte, obwohl das Volk kurz zuvor »Oxi« (»Nein«) gesagt hatte. Der Widerstand gegen die Austeritätspolitik ist auch nicht vorbei: Eisenbahner, Busfahrerinnen, Beschäftigte der Müllabfuhr und der Flughäfen, Journalisten und Rechtsanwälte, Ärztinnen und Ärzte haben gestreikt. Die Bauern haben Straßen blockiert. Seit Syriza regiert, hat es bereits vier Generalstreiks gegeben. Die Arbeitskämpfe haben zwar noch nicht wieder das Niveau der Zeit davor erreicht, aber es werden immer mehr. Pünktlich zum Beginn des neuen Schuljahres wird es einen Streik der Lehrerinnen und Lehrer geben. Es rollt eine neue Streikwelle heran, die sich gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur richtet, zum Beispiel den Verkauf der Flughäfen an den deutschen Konzern Fraport.
Im Januar 2015 feierte die griechische Bevölkerung den Sieg Syrizas und hoffte auf ein Ende der Austerität. Dann akzeptierte Ministerpräsident Alexis Tsipras das dritte Memorandum, in dem Griechenland weitere Reformen zusichert. Profitiert jetzt die Rechte?
Die Konservativen sind schwach und zerstritten, obwohl sie eine neue Führung gewählt haben. Es gelingt ihnen nicht, eine günstige Atmosphäre für sich zu schaffen. Die Menschen erinnern sich gut, wer ihnen die ersten Memoranden mit den EU-Institutionen und dem Internationalen Währungsfonds eingebrockt hat. Vor allem aber gelingt es glücklicherweise auch der radikalen Rechten nicht, Kapital aus der Situation zu schlagen. Die Nazipartei Goldene Morgenröte hat bei den letzten Wahlen ihren Stimmenanteil von sieben Prozent zwar verteidigt, die Anzahl ihrer tatsächlichen Stimmen ist jedoch gesunken.
Umfragen ergeben eher eine weitere Entwicklung nach links. Syriza ist immer noch stark, weil weitere Teile der gesellschaftlichen Mitte sich nach links bewegen und die Verluste durch jene Menschen ausgleichen, die Syriza wegen des Memorandums den Rücken gekehrt haben. Diese Menschen fühlen sich zum Teil angezogen von der Linken links von Syriza: von der linken Syriza-Abspaltung »Volkseinheit«, der kommunistischen Partei KKE und dem Bündnis der antikapitalistischen Linken, Antarsya. Ich schätze, gemeinsam machen wir zehn Prozent aus. Es gibt auch keine Demoralisierung innerhalb der Linken. Aber es wird heiß debattiert, wie es dazu kommen konnte, dass Syriza den Kompromiss mit der Troika eingegangen ist.
Was hat verhindert, dass die Situation in Frustration und einen Aufstieg der Rechten umgeschlagen ist?
Es gibt viele Gründe, wie die Tradition sozialer Kämpfe und die Existenz einer starken radikalen Linken. Unsere Stärke darf man nicht nach parlamentarischen Wahlergebnissen beurteilen. Bei den Wahlen erhielt Antarsya nur 1,8 Prozent. Aber in den Gewerkschaften und Bewegungen sind wir viel stärker verankert. Viele unserer Unterstützerinnen und Unterstützer haben bei Parlamentswahlen Syriza gewählt, weil sie dachten, dass es sonst eine verlorene Stimme wäre. Aber sie folgen den Aufrufen der radikalen Linken und wählen unsere Vertreterinnen und Vertreter in den Gewerkschaften. Auch die KKE ist dort weiterhin eine starke Kraft. Im Vorstand der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes hat Syriza zwei von drei Sitzen an die »Volkseinheit« verloren. Wir, die antikapitalistische Linke, haben auch zwei Sitze. In einigen Gewerkschaften sind wir noch stärker, etwa in der Lehrergewerkschaft. In einigen lokalen Gewerkschaftsorganisationen, vor allem hier in Athen, haben wir die Mehrheit. In der Ärztegewerkschaft haben wir mehr als dreißig Prozent bei den Wahlen erhalten. Über unsere Stärke in den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes können wir politisch Einfluss nehmen und Kämpfe und Streiks vorantreiben.
So konntet ihr den Rechten das Wasser abgraben?
Dafür waren vor allem Bewegungen gegen Rassismus und Faschismus entscheidend. Hätte es diese nicht gegeben, wären der Widerstand und die Linke schwächer. Ein Beispiel: In den letzten Wochen hat die Zahl der Geflüchteten wieder zugenommen. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit unterstützen mittlerweile 85 Prozent der Bevölkerung den Slogan »Geflüchtete willkommen«. Mit unserer Forderung nach einer Öffnung der Grenzen waren wir noch bis vor kurzem isoliert, selbst innerhalb der griechischen Linken. Jetzt wird sie von der gesamten Linken und darüber hinaus unterstützt. Im Sommer haben sich Tausende Menschen an Aktionen an der Grenze zur Türkei beteiligt, um eine Öffnung der Grenzen zu fordern. Der überwiegende Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war gewerkschaftlich organisiert. Die Geflüchteten selbst wurden wiederum Teil des sozialen Protests und haben diesen gestärkt. Das ist kein guter Ausgangspunkt zum Aufbauen für die Rechte.
Wie habt ihr das erreicht?
Unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise begann die radikale Rechte, stärker zu werden. Ein Großteil der Linken hat die Gefahr zunächst nicht erkannt und argumentierte, dass man sich auf den Aufbau des sozialen Protestes konzentrieren sollte. Wir haben darauf beharrt, dass der Kampf gegen Austerität und Rassismus Hand in Hand gehen muss. Im Jahr 2009 übernahmen wir die Initiative und gründeten KEERFA, ein breites Bündnis gegen Rassismus und Faschismus. Es gelang uns, Prominente wie den Komponisten Mikis Theodorakis, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und Zugewanderte zu gewinnen. Hier in Athen beteiligte sich beispielsweise die pakistanische Gemeinde sehr aktiv. Aber es war ein langer Kampf und der Durchbruch gelang erst im Sommer 2012. Damals, als die Nazis ins Parlament gewählt wurden, gingen sie zum offenen Straßenterror über. Sie verübten mehr als 2000 Anschläge auf Zugewanderte, Moscheen und Linke. Die Polizei führte zeitgleich eine Großoperation gegen Flüchtlinge durch und Verhaftete 100.000 Menschen, 6000 sperrte sie in ein Lager. In dieser Zeit gelang es KEERFA, gemeinsam mit den Geflüchteten, 100.000 Menschen auf lokaler Ebene zu mobilisieren. Dies war ein erster Erfolg.
Und wie regierte die radikale Rechte darauf?
Die Nazis begannen Sturmtruppen aufzubauen und einzelne Nachbarschaften zu kontrollieren. Im Jahr 2013 organisierten sie quasi-militärische Aufmärsche, bei denen nur die Gewehre fehlten. Dann gingen sie dazu über, gezielt Mitglieder der Kommunistischen Partei und Gewerkschafter anzugreifen, etwa in Perama.
Im September 2013 ermordete ein Neonazi den Rapmusiker und Aktivisten Pavlos Fyssas. Für den folgenden Tag hatten die Gewerkschaften zu einem 48-stündigen Generalstreik gegen Austeritätsmaßnahmen aufgerufen. Wir von KEERFA haben darum gekämpft, den ersten Tag des Generalstreiks dem Naziterror zu widmen. Wir haben den Kampf gewonnen. Am Ende marschierten 50.000 Menschen zur Parteizentrale der Goldenen Morgenröte. Eine weitere Demonstration mit 20.000 Teilnehmern fand in der Gegend statt, in der Fyssas ermordet wurde. In diesen Tagen war die Polizei noch auf der Seite der Nazis, doch nach dem Generalstreik stand die Regierung unter Druck, etwas gegen die Goldene Morgenröte zu unternehmen. Sie verhaftete die Hälfte ihrer Führung und 68 ihrer Mitglieder wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Prozesse gegen die Führung laufen immer noch, aber die Nazis hatten seitdem wegen der Stärke der antifaschistischen Bewegung keine Chance mehr, auf der Straße aufzumarschieren.
Das ist wirklich beeindruckend. Aber wie ist denn die Situation der Linken?
Auch wenn die Linke mit ihren vielen Parteien und Organisationen zersplittert erscheint, auf der Straße steht sie zusammen. Allerdings werden die strategischen Debatten weitergehen. Syriza ist in einer Krise, viele Mitglieder haben die Partei verlassen, einige sind zur »Volkseinheit« gewechselt. Das Niveau der politischen Diskussionen ist hoch. Zentrale Fragen sind das Verhältnis von Parlamentarismus und Bewegung und die Strategie im Kampf gegen Austerität. Teile der Linken vertreten die Meinung, man müsse Syriza nicht nur wegen ihrer Kompromisspolitik kritisieren, sondern auch, weil Tsipras kein Programm für eine nationale Entwicklung aufstellt. Das ist das Argument vom »produktiven Wiederaufbau«, das die »Volkseinheit« und ihr Vorsitzender Panagiotis Lafazanis (der ehemalige Industrieminister) vertreten. Die »Volkseinheit« will, dass Griechenland aus der Eurozone austritt aber in der EU bleibt. Wir wollen stattdessen die Verstaatlichung der Banken und eine Arbeiterkontrolle der Wirtschaft auf antikapitalistischer und internationalistischer Grundlage.
Und wie soll das erreicht werden?
Es wird darüber debattiert, ob wir den Sturz der Syriza-Regierung fordern sollten. Das ist die Position der »Volkseinheit«. Diese Forderung kann in der jetzigen Situation aber nur wieder in parlamentarische Bahnen führen. Und wer kann auf parlamentarischer Ebene Syriza stürzen? Nur die Konservativen. Das ist kein Weg nach vorne. Wir sind daher dagegen, Tsipras zu stürzen, und treten stattdessen für den Aufbau einer auf Bewegungen gestützten linken Alternative zu Syriza ein. Diese Debatten gehen weiter und ich denke, wir können sie stark beeinflussen. Das zeigt unsere Forderung nach einer Öffnung der Grenzen, die vor einem Jahr noch von der »Volkseinheit« kritisiert wurde, mittlerweile aber von ihr unterstützt wird.
Was werden die kommenden Auseinandersetzungen sein?
Die nächsten Termine sind gesetzt. Die Eröffnung der Internationalen Messe in Thessaloniki im September ist traditionell ein wichtiges Ereignis. Denn dort hält der Ministerpräsident eine Rede, in der er seine Politik der nächsten Monate vorstellt. Wie in jedem Jahr sind Proteste geplant. Zudem wird es anlässlich des Todestages von Fyssas im September drei Tage lang antifaschistische Aktionen geben. Mitte Oktober wird in Athen ein europaweites Treffen gegen Rassismus und Faschismus stattfinden, im letzten Jahr wurde auf einem ähnlichen Treffen ein internationaler Aktionstag beschlossen. Die Arbeitskämpfe werden fortgesetzt – vor allem gegen die geplanten Privatisierungen der Häfen, der Elektrizitäts- und der Wasserwerke. Der Kampf geht also weiter.
Interview: Klaus Henning
Foto: © Ekosystem / The r€volt by absent
Schlagwörter: Antarsya, Antifaschismus, Eurokrise, Flüchtlinge, Geflüchtete, Generalstreik, Goldene Morgenröte, Griechenland, Krise, Oxi, Privatisierung, Syriza, Verstaatlichung, Volkseinheit