Die Pflegestreiks für mehr Personal kurz vor der Bundestagswahl haben gewaltige Schlagkraft bewiesen. Doch es wäre wesentlich mehr drin gewesen, wenn die kampfbereite Basis nicht ständig ausgebremst würde. Von Heinz Willemsen
Fast den gesamten Wahlkampf dominierten die Themen der AfD. Doch dann brachte ein 21-jähriger Auszubildender Angela Merkel in der ARD-Wahlarena mit seinen Fragen zum Pflegenotstand gehörig ins Schwitzen. Eine Woche später streikte das Personal in acht Krankenhäusern im ganzen Land. Kurz vor der Wahl war damit auf einmal das Thema Personalnot im der Pflege ganz vorne auf der politischen Agenda. Zumindest kurzzeitig wurden die Debatten um Flüchtlinge, Terror und Islam verdrängt und die Anliegen der streikenden Pflegekräfte auf die Tagesordnung gesetzt: die katastrophale Personalsituation in den Kliniken und der wachsende Widerstand dagegen.
Ein gut funktionierendes Gesundheitssystem steht bei den meisten Menschen ganz oben auf der Prioritätenliste. Und nach wie vor teilt die große Mehrheit der Bevölkerung die Meinung, dass wenn es um Gesundheit geht, Markt und Profitstreben privater Konzerne dort nichts zu suchen haben. Woran es allerdings mangelt, ist eine Handlungsmöglichkeit, die diesen Grundkonsens in politische Aktion bringt. Mit dem Beschluss der Gewerkschaft ver.di im Wahljahr 2017 eine bundesweite Bewegung für mehr Personal und Entlastung im Krankenhaus zu starten, ist diese Handlungsoption in greifbare Nähe gerückt. Und die Voraussetzungen sind gut: Die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt – Stichwort Fachkräftemangel – stärkt das Selbstbewusstsein der Beschäftigten, insbesondere in der Pflege. Gerade viele junge Beschäftigte merken, dass sie sich nicht alles bieten lassen müssen.
Eine Bewegung mit gewaltigem Potenzial
Die Beschäftigten an der Berliner Charité hatten es vorgemacht. Nach einer jahrelangen Auseinandersetzung für mehr Personal kam es dort 2015 zu einem elftägigen Streik, in dessen Folge ein Haustarifvertrag zum Thema Entlastung beschlossen wurde, der eine Personalaufstockung in der Pflege vorsah. Mit dem Erfolg an der Charité regten sich überall in der Republik ver.di-Betriebsgruppen, die dem Berliner Beispiel folgen wollen, um mit betrieblichen Kämpfen letztlich eine gesetzliche Mindestpersonalbemessung zu erzwingen. Dabei können die Krankenhausbeschäftigten auf ein historisches Vorbild zurückblicken: den Konflikt um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den 1950er Jahren. Eine sechzehn-wöchige Streikbewegung in Schleswig-Holstein hatte damals die Bundesregierung so unter Druck gesetzt, dass sie schließlich auch für Arbeiterinnen und Arbeiter die Lohnfortzahlung gesetzlich regelte.
Die Pflegestreikbewegung 2017 machte zunächst Station im Saarland. Der Landesfachbereich von ver.di hatte beschlossen eine Bewegung für einen Tarifvertrag »Entlastung« für alle 21 Krankenhäuser des Bundeslands zu starten. Unmittelbar vor der Landtagswahl im März sollte die Landespolitik maximal unter Druck gesetzt werden. Kein Wahlkämpfer würde sich öffentlich gegen eine gute Gesundheitsversorgung und Pflege mit ausreichend Personal stellen. Die Strategie ging auf und erwies sich als ungeheuer mobilisierend. Die Streikdrohung, der sich sogar katholische Krankenhäuser anschlossen, mischte kurz vor der Wahl die Landespolitik auf. Ohne sie wäre es wohl kaum möglich geworden, dass eine CDU-Landesregierung eine Bundesratsinitiative für mehr Personal im Krankenhaus einbringt.
Die Chance einer bundesweiten Bewegung
Allerdings war der von den Berlinerinnen und Saarländern eingeschlagene Weg, auf betrieblicher Ebene für mehr Personal zu kämpfen, in ver.di lange Zeit alles andere als unumstritten. Viele innerhalb der Gewerkschaft fürchteten, dass der Organisationsgrad in den Krankenhäusern viel zu niedrig für einen solchen Konflikt sei. Eine Mehrheit setzte stattdessen auf außerbetriebliche Kampagnen und Lobbypolitik bei der Großen Koalition für eine gesetzliche Personalregelung. »Unsere Freunde von der SPD in der Regierung werden das schon richten«, so die Annahme. Aber außer etwas Symbolpolitik haben die Gespräche in den Vorzimmern der Bundesregierung nichts gebracht. Dagegen konnten die Streikenden an der Charité mit handfesten Erfolgen aufwarten. Und kein Klinkenputzen bei den Parteien hat so viel mediale Aufmerksamkeit für die Anliegen der Pflegenden erzeugt, wie die Tarifbewegung im Saarland.
Schließlich hatten auch die Skeptiker innerhalb von ver.di nachgegeben. Was die Charité und das Saarland vorgemacht hatten, sollte nun in einer bundesweiten Tarifbewegung »Entlastung« im Vorfeld der Bundestagswahl fortgesetzt werden. Zwanzig Krankenhäuser im ganzen Land sollten gleichzeitig streiken. Zudem sollten an mindestens 80 weiteren Häusern, den sogenannten Druckbetrieben, die Streikenden mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie dem »Händedesinfektionstag« unterstützt werden. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wieviel Personal auf den Stationen fehlt, indem einen Tag lang alle Vorschriften zur Desinfektion eingehalten werden. Das Kalkül ist, dass die Arbeitgeber ihre Belegschaften nicht öffentlich auffordern können, bei der Händedesinfektion zu schlampen, damit die Arbeit geschafft werden kann.
Von Anfang an war das Paket aus 20 Streik- und 80 Druckbetrieben ein Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen innerhalb der Gewerkschaft. Auf der einen Seite stehen starke Betriebsgruppen, die nach vorne drängen und lokale Sekretäre, die ihre Krankenhäuser erfolgreich auf die Auseinandersetzung einstimmen. Andererseits sind aber viele Sekretäre auch überhaupt nicht auf den Konflikt vorbereitet, wissen kaum wohin die Reise geht und können den Belegschaften vor Ort keine Orientierung geben.
Ver.di scheut den Konflikt zuzuspitzen
Nun gibt es an diesem Kompromiss durchaus einiges zu kritisieren. Aber es wäre schon ein Erfolg gewesen, wenn er denn wenigsten konsequent umgesetzt worden wäre. Doch die Auswahl der Streikhäuser zog sich quälend lange hin, während die Bundestagswahl immer näher rückte. Statt eine Koalition der Willigen zu formen und die streikstarken Häuser mit aktiven Betriebsgruppen, in den Konflikt zu schicken, wurde die Auswahl nach undurchschaubaren und bürokratischen Proporz-Kriterien getroffen. Viele aktive Betriebsgruppen blieben frustriert außen vor. Belegschaften wie bei den Vivantes-Kliniken in Berlin, die sich schon länger auf diese Auseinandersetzung vorbereitet hatten, wurden hingehalten und schließlich nicht unter die Streikbetriebe aufgenommen. Das Zurückweisen von konfliktfähigen und -willigen Betriebsgruppen ist umso unverständlicher, als dass es letztlich nicht einmal gelang, die 20 Krankenhäuser zusammenzubekommen. Am Ende wurden nur 16 Kliniken ausgewählt, von denen wiederum nur die Hälfte am 19. September auch tatsächlich streikte. Auch die Bilanz der Aktionen in den Druckbetrieben fällt gemischt aus. Dort, wo die ver.di Sekretärinnen und Sekretäre sich aktiv für das Gelingen der Aktionen einsetzten, waren sie durchaus erfolgreich und erzielten gute mediale Resonanz. Doch das war leider keineswegs überall der Fall.
Trotz der geringen Zahl von Streikhäusern war die Wirkung groß. Der Streik hat gezeigt, welches Potential in einer koordinierten Arbeitskampfaktion der Krankenhäuser für mehr Personal steckt. Hätte ver.di ihre Ankündigungen wahrgemacht, wäre jedoch noch wesentlich mehr drin gewesen. Aber noch immer scheint die Gewerkschaft sich zu scheuen, den Konflikt zuzuspitzen und so die Politik wirklich zum Handeln zu zwingen. Dass es anders nicht geht, ist angesichts der Tragweite der Forderungen zwar offensichtlich, aber die Bande zwischen Gewerkschaftsführung und SPD sind wohl immer noch zu eng und die Konfliktscheu der ver.di-Spitze zu groß, als dass sie sich auf eine ernsthafte Konfrontation einlassen würde. Seit der Bundestagswahl ist die Perspektive, dass mit etwas Druck die »Freunde von der SPD« helfen eine Personalbemessung durchzusetzen, endgültig Geschichte. Ver.di muss jetzt endlich die Betriebsgruppen ranlassen, die längst nach vorne drängen. Streik ist der Schlüssel zum Erfolg.
Zum Autor: Heinz Willemsen ist Mitarbeitervertreter in einem diakonischen Sozialkonzern. Er ist Mitglied von ver.di und der LINKEN.
Foto: linksfraktion
Schlagwörter: Krankenhaus, mehr Personal, Pflege, Pflegeaufstand, Pflegestreik, Ver.di, Verdi