Die Beschäftigten der niederländischen Universitätskliniken (UMCs) organisierten im Herbst den bisher größte Streik in ihrer Geschichte. Jens Appelo sprach mit Raoul, Krankenpfleger auf der Intensivstation des UMC Utrecht über die Stimmung unter den Kolleg:innen, die Manöver der Bosse und die Forderungen der Streikenden
Wie war die Stimmung vor dem Konflikt mit dem Arbeitgeberverband, dem NFU?
Ich habe noch nie so viel Aktionsbereitschaft im Krankenhaus gesehen. Die Pandemie hat die Unzufriedenheit im Krankenhaus verschärft. Davor gab es auch schon eine ziemliche Unterbesetzung und Abwanderung von Personal, vor allem bei den Pflegerinnen und Pfleger. Auch gab es Unzufriedenheit wegen den niedrigen Löhnen. Während der ersten Welle wurden sie auf Händen getragen, auch vom Krankenhaus selbst. Das war eine bisher ungekannte Situation, und wie es sich eigenlich gehört in einem großen Krankenhaus. Wir erbrachten eine außergewöhnliche Leistung. Das machen wir jetzt auch, doch nun ohne Belohnung.
Wir stecken in einer enormen Krise
Im Krankenhaus gab es plötzlich neue Möglichkeiten – Mittagessen fürs Personal, umsonst Parken, Knappheitszuschläge und solche Sachen. Wir wurden gesehen. Manager:innen waren plötzlich wieder mehr anwesend auf Station. Entscheidungen wurden eher zusammen genommen als von oben herab diktiert. Es entstand also eine gewisse Autonomie am Arbeitsplatz. Während der zweiten Welle packten wir es wieder einfach zusammen an, aber dann stieg der Krankheitsausfall an, die Initiativen zur Unterstützung blieben aus und es wurde still. Man tat so, als ob alles wieder normal sein sollte. Selber hab ich die letzten 2 Jahre auf der Intensivstation gearbeitet. Da ist es jetzt fortdauernd voller, als wir bewältigen können und über längere Zeiträume machen wir auch weniger für die Patient:innen, als wir machen wollen. Während der ersten Welle war es eine ganz außergewöhnliche Lage, damit kann man dann noch leben. Aber wenn es dann länger dauert und man sieht, dass es anders geht – das frisst an einem. Und jetzt sehen wir die Zahlen wieder steigen, während wir noch nicht mal wissen, wie wir die Besetzung hinbekommen können. Das haut echt rein.
Dazu kommt dass das Krankenhaus wieder alles zu normalisieren versucht, obwohl es sich für die Leute am Bett gar nicht normal anfühlt. In der Politik sieht man das auch, dass alle versuchen, die Lage für normal zu erklären, wogegen wir sehen, dass wir in einer enormen Krise stecken. In Krisenzeiten muss Außerordentliches geleistet werden, nicht nur von den Beschäftigten, sondern auch vom Vorstand. Und letzteres blieb seit der zweiten Welle aus.
Die NFU hat ein finales Angebot für den Tarifvertrag der UMC für die kommenden zwei Jahre gemacht, das einmalige Prämien enthielt. Wie war die Reaktion auf das Angebot des NFU?
Das Schlussangebot wurde größtenteils abgelehnt, obwohl die Gewerkschaft NU’91 es schon unterschrieben hat. Ich glaube, das war ein sehr großer Fehler, gerade da wir jetzt sehen, wie groß die Streikbereitschaft ist. Bei uns machen am 26. Oktober sogar 35 Stationen mit, letzter Monat waren es noch 10. Was mich an dem Angebot stört, ist dass sie ein mäßiges Lohnangebot auch noch differenzieren, das heißt bestimmte Gruppen von Pfleger:innen auf Kosten anderer bevorteilen. Vor allem die niedrigere Tarifgruppen bekommen dadurch eine viel niedrigere Lohnerhöhung. Das akzeptieren wir nicht. UMC haben genug Geld, sie müssen einfach Entscheidungen treffen. Die Politik hilft auch nicht und kommt in Krisenzeiten mit einem Trinkgeld von 600 Millionen Euro, was in Krisenzeiten sehr karg ist. Aber die UMC setzen falsche Prioritäten, wodurch das Personal auf der Strecke bleibt.
Sie tun jetzt so, als ob ihr Angebot etwas ganz Besonderes ist, indem sie bestimmte Berufsgruppen mehr als andere belohnen, aber was sie eigentlich machen, ist die Leute gegen einander ausspielen. Sie sagen wortwörtlich, dass die Reinigungskräfte solidarisch mit dem Pflegepersonal sein müssten. Das finde ich echt übel.
Der Streik und die Forderungen der Beschäftigten
Was sind Eure Forderungen an die NFU?
Wir fordern eine Lohnerhöhung von 3% jährlich mit einer Mindesterhöhung von 75 Euro im Monat. Dazu wollen wir konkrete Absprachen zur Minderung des Arbeitsdrucks, was im Schlussangebot nicht zur Sprache kam. Eine Generationspolitik, also Möglichkeiten für ältere Kolleg:innen, weniger zu arbeiten, wollen wir wieder auf den Tisch. Ich selber habe so ein bisschen die Angst, das sie sagen, die 3% schon, aber dies und das dann wieder nicht. Ich hoffe, ich bekomme meine Kolleg:innen so weit, das sie wirklich alles rausholen, denn das ist mehr als berechtigt.
Die Ideen über Minderung des Arbeitsdrucks kommen oft aus AGs und Kommissionen, die dann kommen mit Sachen wie: wie man vital im Arbeitsleben steht, dem persönlichen Umgang mit Stress, Obst am Dienstag und so. Alle Verantwortung landet damit wieder auf die Schulter der Beschäftigten. Während sie Lösungen in der Marge suchen, wissen alle, dass das Problem beim Personalmangel und andere fundamentalen, materiellen Problemen liegt. Aber das ganze fassen sie nicht an, das kostet Geld und das wollen sie eben nicht ausgeben.
Wie wird der Streik organisiert?
Für meine Kolleg:innen ist es gut, dass die Gewerkschaft (die FNV, red.) viel koordiniert und ermöglicht. Man muss sich sicher fühlen, um in den Streik zu treten, also das ist wichtig. Aber es hemmt die Leute auch, indem die Atmosphäre einen fragen lässt: darf ich das, kann ich das? Wir sind also auch sehr vorsichtig. Aktionen in einem Krankenhaus muss man natürlich gut besprechen, was wir in Sicherheitsberatungen machen. Aber von mir aus darf es schon etwas frecher werden. Es ist typisch für UMC dass eine straffe Hierarchie und eine Angstkultur herrscht: sag bloß nichts, was das Krankenhaus schaden könnte! Ich glaube, wir müssen uns das abgewöhnen, wenn wir uns selbst ernst nehmen wollen.
Der Streik im September war sehr positiv. Während der Vorbereitung sind wir sofort zur Schlussfolgerung gekommen, dass wir Sonntagsdienste nehmen mussten. Drei Jahre her haben wir auch schon so’n bisschen versucht, mit spielerischen Aktionen zu eskalieren, aber jetzt gehen wir sofort über, zum schwersten Mittel, den man im Krankenhaus einsetzen kann. Ein Sonntagsdienst heißt: nur akute Pflege, Onkologie und einige Versorgung junger Kinder. Dies wurde von vielen Abteilungen übernommen, unter anderem die OP-Säle. Das hat echt ein Impact.
Außerdem haben wir uns entschieden, unsere Kampagne öffentlich zu führen. Wenn es etwas ist, das Vorstände nicht mögen, dann das sie in Verlegenheit gebracht werden. Das haben wir gemacht – und zurecht.
So reagierten die Bosse
Gab es eine Reaktion auf den Streik?
Nein. Zuerst hieß es, dass jemand vom Vorstand sprechen würde, aber keiner kam. Zu den kommenden Aktionen werden wir sie auch nicht mal mehr einladen, weil sie es anscheinend nicht für nötig halten, mit uns zu reden. Das obere Management hat kein Verständnis, keine Empathie für die Beschäftigten. In Maastricht haben sich aber so viele Abteilungen angeschlossen, dass der Vorstand sich entschieden hat, als ganzes Krankenhaus die Sonntagsdienste zu bestreiken, da das Krankenhaus vor lauter streikenden Abteilungen eh nicht funktionieren kann.
Härtere Aktionen als Sonntagsdienste bestreiken haben wir leider nicht, aber wir können schon eskalieren hinsichtlich der Dauer. Es ist natürlich nie unsere Absicht, die Patient:innen zu benachteiligen, doch wir müssen den Druck irgendwie erhöhen. Und unser Ziel, den Personalmangel zu beheben, kommt letztendlich auch den Patient:innen zugute.
Wir wollen es auch breiter ziehen als nur die Tarifverträge in der Pflege. Die Tarifverhandlungen werden auch so’n bisschen zu einem Spiel mit Zahlen. Wir finden aber auch, dass es eine grundlegende Veränderung in der Gesundheitsversorgung geben muss. (Im Parlament red.) sind letztes Jahr viele Anträge zur Pflege angenommen, die nie ausgeführt wurden. Die 600 Millionen jetzt sind nichts mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir wollen auf nationaler Ebene mehr Druck machen.
Zum Text: Das Interview erschien zuerst auf Niederländisch auf der Website socialisme.nu. Übersetzung ins Deutsche: Freek Blauwhof. Das Interview wurde vor dem Streik vom 26. Oktober geführt.
Bild: fnv.nl
Schlagwörter: Krankenhaus, Pflegestreik, Streik