Der Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst steht. Die vorangegangene Warnstreikbewegung war größer als außerhalb, aber auch innerhalb von ver.di erwartet wurde. Deshalb konnte der ganz große Durchmarsch der Arbeitgeber abgewehrt werden. Sektkorken knallen trotzdem nicht – zu mager ist das Ergebnis, zu groß aber auch die liegengelassenen Potentiale in dieser Runde. Ein Kommentar von Lou Anton Hauser
Ver.di hatte von Anfang an den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Tarifrunde richtig benannt: Es geht darum, wer die Kosten für die Coronakrise zahlt. Nichts Anderes haben auch die Arbeitgeber, vertreten durch den Bund und die Vereinigung Kommunaler Arbeitgeber (VKA), argumentiert. Sie forderten anfangs eine Nullrunde mit deutlichem Verweis auf die kommenden krisenbedingten Schleifspuren in den Öffentlichen Haushalten.
Krisenlösung auf den Rücken der Beschäftigten?
Hätte die ver.di ihre Hauptforderung von 4,8 Prozent für 12 Monaten durchgesetzt wäre das politische Signal eindeutig gewesen: Keine Krisenlösung auf den Rücken der Beschäftigten. Hat sie aber nicht: Der Abschluss von Tabellensteigerungen um 3,2 Prozent gestreckt auf 28 Monate (1,4 Prozent, mindestens 50 Euro ab 1. April 2021, 1,8 Prozent ein Jahr später) liegt weitaus näher am Arbeitgeberangebot als an der ver.di-Forderung. Wäre krisenbedingt die Inflationsrate nicht auf 0,2 Prozent gefallen, wären die Beschäftigten des ÖD mit diesem Abschluss nahe dran oder drin im Reallohnverlust.
Die einmalige Coronazahlung ist nicht tabellen- und damit Lohnniveauwirksam. Reale Erfolge hingegen sind die endlich erfolgende Ost-West-Angleichung der Arbeitszeit und der höhere Abschluss für Pflegekräfte.
Arbeitskampf in Pandemiezeiten
Trotz des überschaubaren Ergebnisses ist die große Empörung an der ver.di-Basis ausgeblieben. Das hat mit der besonderen Historie dieser Tarifrunde zu tun, Stichwort Pandemiesituation. Mitte Juni war noch nicht mal klar, ob es eine »klassische« Tarifrunde im Öffentlichen Dienst überhaupt geben wird. Das Land war gerade erst aus dem seit 22. März geltenden Lockdown rausgekommen. Arbeitgeber und wesentliche Teile der Presse haben eine Streikbewegung als »nicht vorstellbar« verworfen. Die Ver.di-Führung selbst hat öffentlich in Frage gestellt, ob vor dem Hintergrund der Pandemie eine Beschäftigten-Mobilisierung im Öffentlichen Dienst möglich und wünschenswert ist.
Ausdruck dieser Unsicherheit, die sich natürlich auch auf die ver.di-Angestellten und betrieblichen Aktivposten übertragen hat, war ein Angebot an die Arbeitgeber, gegen Zahlung einer einmaligen Prämie die Tarifrunde zu verschieben. Erst als die Arbeitgeber zum fassungslosen Staunen der ver.di-Führung am 16. Juni dieses Angebot ablehnten und auf den ordnungsgemäßen Start der Tarifrunde am 1. September behaarten, begannen in der Organisation ernsthafte Kampfvorbereitungen – jetzt allerdings mit mehreren Monaten Rückstand in der Vorbereitung.
Kalkül der Arbeitgeber ging nicht auf
Das Kalkül der Arbeitgeber, einer durch die Pandemieauflagen nur begrenzt handlungsfähigen Organisation eine schwere Niederlage zu bereiten ging aber nicht auf. Nicht nur dass es deutlich wahrnehmbare Warnstreiks und Kundgebungen gab – in einigen Bezirken, vorneweg im größten ver.di-Bezirk NRW, lag die Beteiligung trotz Pandemie sogar über den Zahlen der letzten Tarifrunde.
Ursächlich dafür sind mehrere Gründe: Einer größeren Schicht von betrieblich Aktiven war durch die scharfen Ansagen der Arbeitgeber schon im Juni klar, dass die Einsätze in dieser Tarifrunde höher sind als beim Tarif-»business as usual«. Es ging neben dem Abschluss selbst in dieser Kampagne auch um die Selbstbehauptung der gewerkschaftlichen Organisation gegen eine scharfe Attacke. Die politische Anlage der Tarifkampagne »#unverzichtbar – Jetzt seit ihr dran« mit der Betonung der positiven Rolle des ÖD bei der Krisenbewältigung für die Bevölkerung traf hier einen Nerv, genauso der Schritt, diese Schicht betrieblicher Aktivposten in einer eigenen Struktur, den sogenannten Tarifbotschafterinnen und Tarifbotschaftern zusammen zu fassen. Dadurch bekam die Kampagne ein organisatorisches Rückgrat, mit dem zumindest Teile der ausgefallenen Vorbereitungszeit durch den hauptamtlichen Apparat wieder auffangen werden konnten.
Kein Ausstand im Öffentlichen Dienst
Der Abschluss selbst ist in jeder Hinsicht Ergebnis des Streikgeschehens – sowohl der stattgefundenen Warnstreiks, aber auch all dessen, was in dieser Runde nicht geschehen ist. Entgegen aller Unkenrufe, auch innerhalb der Organisation, ist es ver.di gelungen, aus einer Lockdown-bedingten fast vollständigen Stilllegung der Organisation heraus eine »normale« Tarifrunde auf die Kette zu kriegen und einen Angriff abzuwehren. Daraus rührt der Stolz vieler in der Tarifbewegung Aktiver, die jenseits vom Ergebnis die Tatsache, dass ihre Gewerkschaft gekämpft hat als positive Botschaft wahrnehmen – ganz wie ein angeschlagener Boxer, der wider Erwarten in den Schlussrunden dann doch noch einen veritablen Fight liefert.
Gleichzeitig war es dann doch eben nur einen »normale«, und das heißt in vielerlei Hinsicht konventionelle und konservative Kampagne. Bis auf die letzten drei Tage der Kampagne mit parallelen Aktionen in 300 Orten waren die Warnstreiks kleckerweise organisiert, ein Nadelstich hier, ein Nadelstich dort. Das gab Bilder, spürbare Effekte, wie sie zum Beispiel ein gleichzeitiger, bundesweiter, mehrtägiger Ausstand der Entsorgungsunternehmen im Öffentlichen Dienst gebracht hätte, gab es nicht.
Es gab keinen Plan B
Die Kampagne wurde so gefahren, als wolle man für einen Erzwingungsstreik bei Scheitern der Verhandlungen noch ordentlich Eskalationspotential in der Hinterhand behalten. Der Haken hierbei: Genau dieser Erzwingungsstreik wurde innerhalb der ver.di auf der Führungsebene sowohl aus Gründen der Organisationskapazitäten, als auch als Furch vor der zweiten Coronawelle als ausgeschlossen angesehen und entsprechend als Perspektive weder gedacht noch vorbereitet. Zum Abschluss in der dritten Verhandlungsrunde gab es keinen Plan B – nicht die beste Verhandlungsposition sich selbst so unter Druck zu setzen auf jeden Fall abzuschließen.
Umfragen zu den Streiks ergaben eine mehrheitliche Streikunterstützung durch die Bevölkerung – ein gutes Indiz dafür, dass es der ver.di-Kampagne tatsächlich gelungen ist, das Argument, warum mehr für den Öffentlichen Dienst besser für alle ist, auch breitenwirksam rüber zu bringen. Nicht gelungen ist es, diese Zustimmung in eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung umzusetzen – von Seiten der ver.di gab es in der TVÖD-Runde kein Pendant zum öffentlichkeitswirksamen Bündnis zwischen der »Fridays for Future«-Bewegung und den Beschäftigten im ÖPNV.
Kein Schritt nach vorne und auch keiner zurück
Im Ergebnis war die Tarifbewegung im Öffentlichen Dienst aus Sicht der Gesamtarbeiterbewegung kein Schritt nach vorne und auch keiner zurück, eher einer seitwärts mit dem Ergebnis, dass wir in der Frage der Bewältigung der Krisenlasten auf der Stelle treten.
Das Signal, dass die Pandemie nicht das Ende von Streiks und Widerstand bedeutet, ist gesetzt und ermutigend. Gleichzeitig kann natürlich kein gewerkschaftlich Aktiver damit zufrieden sein, dass die zweitgrößte Gewerkschaft des Landes mit einer für ihre Verhältnisse halbwegs gelungenen Kampagne knapp am Reallohnverlust für die Beschäftigten vorbeischrammt.
Die Runde wirft daher sehr grundlegende Fragen darüber auf, wie sich die Gewerkschaft politisch und vor allem in Form aktiver betrieblicher Strukturen anders und stärker aufstellen lässt, um über erfolgreiche Defensivkämpfe hinaus zu kommen.
Foto: flickr.com / DIE LINKE
Schlagwörter: Gewerkschaft, Öffentlicher Dienst, Tarifrunde, Ver.di