Im Januar 2023 beginnt die TVöD-Runde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Die Forderungen der Gewerkschaften sind eine Kampfansage an die Arbeitgeberseite. Doch um zu gewinnen, wird es einen Streik brauchen, wie es ihn lange nicht gegeben hat, meint Lisa Baumeister
Lohn- und Gehaltserhöhungen von 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat – das sind die Kernforderungen der Gewerkschaften ver.di, GEW und IG BAU für die im Januar 2023 beginnende Tarifrunde im öffentlichen Dienst für Bund und Kommunen. Die von den Gewerkschaften anvisierte Laufzeit des Tarifvertrags beträgt dabei nur zwölf Monate.
Das ist eine Kampfansage an die Arbeitgeberseite – und damit auch die Bundesregierung. Doch ohne massiven Druck von unten werden die Arbeitgeber:innen den Forderungen der Gewerkschaften nicht ansatzweise nachkommen. Damit die Tarifrunde ein Erfolg wird, wird es einen Erzwingungsstreik brauchen, wie es ihn im öffentlichen Dienst seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Das Potenzial ist durchaus vorhanden. Wenn es genutzt wird, hat die Tarifrunde eine Sprengkraft weit über ihren Geltungsbereich hinaus.
Streiken wie 1974?
Die Lohnforderungen der Gewerkschaften für die TVöD-Runde sind die höchsten seit 1974. Damals hatte die Gewerkschaft ÖTV eine Erhöhung der Einkommen um 15 Prozent gefordert, mindestens aber 185 Mark. Die Gründe für eine derart hohe Forderung waren damals denen von heute nicht sonderlich verschieden. Die Inflationsrate begann ab den frühen 1970er Jahren stark anzusteigen und erreichte 1974 den Höchstwert von 9,5 Prozent. Mehr als 200.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, vor allem in den Großstädten, traten in den Ausstand. Busse und Bahnen blieben in den Depots, viele Ämter geschlossen, der Müll wurde nicht abgeholt. Am Ende einigte sich die Gewerkschaft mit der Arbeitgeberseite auf 11 Prozent mehr Lohn und Gehalt, mindestens jedoch 170 D-Mark. Der ÖTV brachte die Tarifbewegung darüber hinaus ein gewaltiges Plus an neuen Gewerkschaftsmitgliedern – allein in den drei Streiktagen schlossen sich knapp 60.000 Beschäftigte der Gewerkschaft an.
So schön es auch wäre, die Geschichte von damals eins zu eins zu wiederholen – das wird nicht passieren. Die ÖTV und ihren damaligen Branchenzuschnitt gibt es nicht mehr. Dafür gibt es jetzt die ver.di, in der wiederum aber nicht alle Beschäftigten im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst abgebildet sind. Hinzu kommt, dass die Anzahl der in der Gewerkschaft organisierten Beschäftigten seit damals stark abgenommen hat. Privatisierungen und der Ausverkauf des öffentlichen Bereichs sowie zuletzt noch die Pandemie machen die gewerkschaftliche Organisierung von Beschäftigten und die Durchsetzung der aufgestellten Forderung nicht leichter.
TVöD-Runde: Mehr als ein paar Warnstreiks!
Für eine Gewerkschaft wie ver.di könnte diese Tarifrunde dennoch richtungsweisend sein und sich in eine Reihe von Erfolgen der letzten Zeit einreihen. So zeigten beispielsweise der diesjährige Arbeitskampf der Hafenarbeiter:innen oder auch die in den letzten Jahren mehrheitlich erfolgreich geführten Auseinandersetzungen der Pflegekräfte, zuletzt in Berlin und NRW, wie es gehen kann. Gewerkschaftliche Kämpfe können auch heute noch gewonnen werden, wenn sie offensiv geführt werden und die Gewerkschaften sich trauen, die kollektive Macht der Beschäftigten gegen die Arbeitgeberseite auch tatsächlich ins Feld zu führen.
Die Kämpfe der Pflegekräfte und Hafenarbeiter:innen wie auch alle anderen erfolgreichen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Zeit konnten nur mithilfe harter und langer Streiks gewonnen werden. Auch in der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst wird man nicht darum herumkommen, sich auf mehr als nur ein paar Warnstreiks einzustellen.
Sprengkraft weit über den TVöD hinaus
Im Klartext heißt das, dass einerseits größere und gewerkschaftlich gut organisierte Einheiten auf mehrtägige Erzwingungsstreiks vorbereitet werden müssen – und zwar gemeinsam mit den aktiven Gewerkschaftskernen vor Ort und im Betrieb. Denn dort steckt das praktische Wissen und die Erfahrung, durch welche Aktionen, wo und wann der größtmögliche Druck aufgebaut werden kann. Andererseits müssen aber auch Bereiche, in denen bisher kaum gestreikt wurde, die im Hinblick auf potenzielle wirtschaftliche Schäden oder die Funktionsfähigkeit des Staatsapparates aber wichtig sind – Müllheizwerke, Schifffahrtsschleusen, IT-Abteilungen –, identifiziert und in die Streikplanungen einbezogen werden.
Wenn das gelingt, hat die anstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst nicht nur das Potential, eine Welle der Verarmung der unter den Tarifvertrag fallenden Beschäftigten zu verhindern, sondern wäre ein wichtiges Signal gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die lohnabhängige Bevölkerung insgesamt. Darüber hinaus könnten ver.di und die anderen Gewerkschaften einmal mehr beweisen, dass die schon genannten Beispiele erfolgreicher Kämpfe im Hafen und in der Pflege nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein können.
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