Ein frischer Wind weht durch Frankreich. Doch die junge Bewegung Nuit Debout steht vor großen Herausforderungen, wenn sie mehr sein will, als ein kurzes Leuchtfeuer des Protests. Von Guillaume Di Candia
Donnerstag, den 31 März in Paris: Nach der größten Protestdemo gegen das Loi Travail, das von der französischen Regierung geplante Arbeitsgesetz, sammeln sich tausende Menschen auf der Place de la Republique. Das Motto lautet: »Wir gehen nicht nach Hause«. Spontan ist die Aktion nicht. Die Gruppe »Convergences des luttes« hat eine Vorführung des Films »Merci Patron« des Journalisten und Regisseurs François Ruffin organisiert. Die offizielle Genehmigung haben ATTAC, der Verein »Droit Au Logement« und die Gewerkschaft Sud PTT beantragt.
Die satirische Doku à la Michael Moore ist trotz Zensur ein großer Erfolg. Die Geschichte erzählt vom Kampf zweier ehemaliger Mitarbeiter einer Filiale der französischen LVMH-Gruppe, dem weltweiten Branchenführer in der Luxusgüterindustrie, gegen den Hauptaktionär Bernard Arnault. Am Standort Poix-du-Nord produzierten Serge und Jocelyne Klur Herrenanzüge der Marke Kenzo. Im Jahr 2007 wurde die Produktion jedoch nach Polen verlagert. Seitdem sind beide arbeitslos, leben von 400 Euro im Monat und ihre Schulden wachsen stetig an. Im Winter heizen sie nur noch das Wohnzimmer ihrer Wohnung, welche die Amtsdiener wegen Überschuldung zu pfänden drohen.
Unterstützt durch den Journalisten François Ruffin, erklärt das Paar Bernard Arnault einen medialen Krieg. Sie fordern 35.000 Euro Entschädigung, um ihre Schulden zu begleichen, und einen unbefristeten Job für Serge. Aber was können zwei Arbeitslose und der Chef-Redakteur einer unbekannten Wochenzeitung (»Fakir«) gegen den Milliardär ausrichten? Sehr viel. Mit Tricks und viel Humor gelingt es dem Trio, den Hauptaktionär zur Kasse zu zwingen.
Loi Travail: der jüngste Sohn des Neoliberalismus
Während der Film zum Zündfunke der Bewegung wurde, spielt das Loi Travail (oder »Loi El Khomri«, nach dem Namen der Arbeitsministerin) die Rolle des Sprengstoffs. Mit dieser Reform realisiert die Regierung eine Umwälzung des französischen Arbeitsmarkts. Zukünftig sollen Vereinbarungen innerhalb eines einzelnen Unternehmens gültig werden, selbst wenn sie gegen die Mindestbestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs verstoßen. Außerdem enthält der Entwurf der Gesetzesinitiative eine ganze Reihe von drastischen arbeitnehmerfeindlichen Maßnahmen:
- Erleichterungen bei betriebsbedingten Kündigungen: Mit der Reform wird vor Gericht allein die wirtschaftliche Lage der betroffenen Niederlassung berücksichtigt, nicht mehr des gesamten Konzerns
- Einführung einer (niedrigen) Obergrenze für Entschädigungen im Fall einer rechtswidrigen Entlassung. Dadurch können Arbeitgeber genau planen, was es sie kosten wird, die Gesetze zu missachten
- Die Möglichkeit eines Zwölf-Stunden-Arbeitstags, anstatt der bisherigen zehn Stunden. Damit einher gehen das faktische Ende der 35-Stunden-Woche und die Reduzierung des Stundenlohns pro Überstunde
- Abschaffung der gesetzlichen Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen
- Abschaffung der gesetzlichen Zusatzurlaubstage im Todesfall eines/einer Angehörigen
Das »Grand Patronat« der französischen Arbeitgeberverbände und die europäische Kommission begrüßen die Reform. Für die Mehrheit der Französinnen und Franzosen ist damit jedoch eine Grenze überschritten. Nachdem sie bereits wochenlang eine Debatte über den Ausnahmezustand und die Ausbürgerung mutmaßlicher Terroristen mit doppelter Staatsangehörigkeit ertragen mussten, haben viele genug. Auch die sonst eher gemäßigten Gewerkschaften reagierten schockiert auf das Loi Travail. Wie so oft in Frankreich, begannen auch Studierende, Schülerinnen und Schüler zu mobilisieren und erste Demonstrationen zu organisieren. Die Polizei reagierte mit heftiger Repression. Das Video eines gewaltigen Polizeieinsatzes gegen Schüler des Pariser Gymnasiums Henri Bergson wurde zur Top-Meldung im französischen Fernsehen.
Misstrauen gegen Politik wächst
Seit dem 31. März baut sich die Protestbewegung auf zwei Pfeilern auf: Zum einen organisieren Studenten-, Schüler- und Arbeitergewerkschaften zahlreiche Demonstrationen und Streiks gegen das Loi Travail. Die politischen Parteien links der Regierung unterstützen sie dabei. Zweitens blühen in Paris, Lyon, Marseille, Rennes und in vielen anderen Städten die Platzbesetzungen unter dem Namen Nuit Debout auf, die ein breiteres Forderungsspektrum umfassen. Der Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon, der die Bewegung unterstützt, plädiert für eine neue Republik und schlägt vor, dass Nuit Debout die Verfassung dieser sozialen Republik schreiben sollte, die »der Antipode der ›République Bourgeoise‹, die das Privateigentum der Produktionsmittel in Stein gemeißelt hat«, sein soll.
Denn die Wurzeln der Bewegung liegen in einer tiefen politischen und sozialen Krise. Das französische politische System ist in eine Sackgasse geraten. Die unzähligen Skandale von Sarkozy bis Cahuzac (der Finanzminister Hollandes, der ein verstecktes Konto in der Schweiz hatte) haben das Ansehen der republikanischen Institutionen massiv geschädigt. Dazu setzen Hollande und seine Regierung auf eine neoliberale und unsoziale Politik. Viele Menschen erkennen zwischen Rechten und Linken keinen Unterschied mehr. Dies führt zur Desillusion und einer niedrigen Wahlbeteiligung, insbesondere in der bisherigen Wählerschaft der regierenden Parti socialiste (PS). Von den »Sozialisten« ist kein Linksruck mehr zu erwarten. Und auch die Front de gauche ist, trotz der großen Hoffnungen während der schwungvollen Präsidentschaftswahlkampagne ihres Kandidaten Jean-Luc Mélenchon im Jahr 2012, seither faktisch eingefroren.
Nuit Debout: Diskussionsforum oder aktivistische Vollversammlung?
Die politische Krise Frankreichs ist die Basis von Nuit Debout aber gleichzeitig auch eine gefährliche Falle. Im Jahr 2017 wird in Frankreich gewählt. Der Druck auf die Bewegung ist also groß, eine konkrete politischen Orientierung für die Präsidentschaftswahl zu finden. Einige plädieren sogar schon für einen eigenen Kandidaten von Nuit Debout. Die Gefahr ist aber groß, dass die Bewegung auseinanderfällt, wie seinerzeit die Bewegung, die im Jahr 2005 zum Sieg des »Non« beim Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag geführt hatte. Bis jetzt haben die Aktivisten von Nuit Debout richtigerweise den hohen Zeitdruck abgelehnt und sich auch verweigert Vertreter zu wählen. Die Bewegung darf sich aber auch nicht als apolitische Diskussionsforum auf die Place de la Republique begrenzen.
Da Nuit Debout ein sehr vielseitiges Gesicht hat, ist noch niemandem klar, welche Richtung sie einnehmen wird. Eine gefährliche Verwerfungslinie trennt insbesondere diejenigen, die für eine apolitische Bewegung plädieren, von denen, die das Wesen von Nuit Debout in einer anti-neoliberalen und sozialen Grundeinstellung sehen. Als sich in Lyon Vertreter der nationalistischen, antisemitischen und homophoben Organisation »Egalité et Réconciliation« zu Wort meldeten, entstand eine brennende Debatte, ob Nuit Debout im Namen der Demokratie für alle offen sei. Die Pariser Aktivistinnen und Aktivisten haben auf diese Frage bereits eine Antwort gegeben, als sie am 16. April den rassistischen Essayisten Alain Finkielkraut gewaltlos von der Place de la Republique warfen. Seitdem ist die Stimmung in den Medien gekippt und viele Journalisten beschimpfen Nuit Debout als undemokratisch. Frédéric Lordon antwortete ein paar Tage nach dem Ereignis auf die Kritik: »Wir sind hier um Politk zu machen und wir sind nicht mit jedem befreundet. Wir bringen keinen Frieden. Im Gegenteil, wir haben das Ziel die Hersschenden zu stören.«
Passer le périphérique – Die notwendige soziale Mischung
In der Pariser Banlieue Saint Denis, in der am 14. April eine lokale Nuit Debout Bewegung entstanden ist, diskutieren die Aktivisten auch über Arbeitlosigkeit und zu hohe Miete, über Polizeigewalt und die soziale Spaltung. Um weiter auszugreifen, versuchen jetzt auch die Aktivisten der Place de la Republique, ihre soziale Homogenität zu brechen. Obwohl sich die Debatten und Forderungen an beiden Plätzen ähneln, bleiben Kontakte zwischen den nächtlichen Besetzern der Place de la République und den Banlieues noch schwach. Deshalb antwortet François Ruffin auf die Frage »Machen wir ihnen Angst?« mit »noch nicht«. In Lyons Banlieue Vaulx-en-Velin, in der die Repression gegen die Schüler besonders groß war, haben die Aktivisten von Nuit Debout demonstriert und die Périphérique (Ringautobahn, welche die Banlieues vom Stadtzentren trennt) blockiert. Das ist ein erster symbolischer Schritt zur Einigung der Bewegung, aber der Weg ist noch lang.
Ein frischer Wind weht durch Frankreich. Gleich dem Zorn der Beschäftigten der Fluggesellschaft Air France im September 2015 oder der Empörung, nachdem die Staatsanwaltschaft im Januar 2016 gegen acht Gewerkschafter einer geschlossenen Niederlassung des Goodyear-Konzerns in Amiens eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung forderte, formiert sich zunehmend Widerstand. Die soziale Frage tritt plötzlich wieder in den Vordergrund.
Das wahre Gesicht des Front National
Der Front National offenbart sein wahre Gesicht als Wachhund des Kapitalismus und fordert im Rahmen des Ausnahmezustandes, der nun erneut verlängert wurde, alle Aufmärsche von Nuit Debout zu verbieten. Die Stellungsnahmen des Front National zum Loi Travail sind hingegen widersprüchlich und opportunistisch: Während Marine Le Pen, deren Hochburg im armen Norden Frankreichs liegt, das »Gesetz aus Brüssel« scharf kritisiert, lobt ihre Nichte Marion Maréchal Le Pen, die in der von einem starken Kleinbürgetum geprägten Region Provence-Alpes-Côte d’Azur kandidiert, die Fortschritte für Arbeitgeber. Als faschistische Partei erweist sich der Front National erneut als programmatisch flexibel und passt seine Rhetorik der jeweiligen Region an.
Am Donnerstag, den 28. April findet nun die nächste große Demonstration gegen das Loi Travail statt. Und es wird spannend: Der Gewerkschaftsbund Confédération Générale du Travail (CGT) hat im Rahmen seines Kongresses in Marseille der Regierung mit verlängerbaren Streiks gedroht. Auf täglichen Vollversammlungen in jedem Betrieb soll über die Fortsetzung des Streiks abgestimmt werden. Dies wäre eine deutliche Zuspitzung gegenüber den bisherigen befristeten Streiks. Gleichzeitig hat Nuit Debout in Lyon zu einem Generalstreik aufgerufen. In Paris haben François Ruffin und Frédéric Lordon für ein gemeinsames Treffen mit den Gewerkschaften am 1. Mai plädiert. Und wieder gibt es Hoffnung auf eine solidarische Zukunft.
Foto: Jeremy Toix
Schlagwörter: Arbeitsgesetz, Ausnahmezustand, Banlieue, CGT, Frankreich, Front National, Hollande, Krise, Le Pen, Loi Travail, Marine Le Pen, Mélenchon, Neoliberalismus, Nuit Debout, Paris, Protestbewegung, Studenten, Studentenproteste