Der Sandinismus stand für Befreiung; inzwischen bedeutet er Unterdrückung. Das ist auch eine Folge der Idee, den Sozialismus von oben einführen zu können. Von Mike Gonzalez
2019 begann, wie 2018 geendet hatte: mit Massendemonstrationen und Protesten gegen das Ortega-Regime in Nicaragua. Die Bewegung von unten umfing Studierende, die gegen die Abschaffung der Meinungsfreiheit protestierten; Bäuerinnen und Bauern sowie indigene Gemeinschaften, die sich gegen die Auswirkungen eines Kanalprojekts wehrten; und die Frauenbewegung, die eine zentrale Rolle im Widerstand gegen den Präsidenten Daniel Ortega spielt, seit seine Tochter Zoilamérica seinen Missbrauch seiner Kinder aufdeckte. Die Listen der Verhaftungen werden länger und enthalten die Namen führender Sandinistas der Vergangenheit, wie Monica Baltodano.
Nach den April-Protesten von 2018 hatte Ortega zunächst einem Dialog mit der Opposition zugestimmt. Das war jedoch einfach ein Weg, um Zeit zu gewinnen, die Repression zu verstärken und die alleinige Exekutivgewalt zu übernehmen. Die Bürgerallianz, die in sinnlosen und bedeutungslosen Gesprächen gefangen ist, ist, wie ein Schriftsteller es ausdrückte, »ein bürokratisches Projekt ohne politische Legitimität«, das völlig von der Bewegung auf den Straßen abgekoppelt ist. Und die Unterdrückung geht weiter und wird brutaler, während die Vizepräsidentin und Ehefrau Ortegas Rosario Murillo die Frauenbewegung als »terroristisch« und »abtreibungsfreundlich« brandmarkte.
Ortegas zynischer Gebrauch der Sprache der Revolution und seine Bezugnahmen auf seine revolutionäre Vergangenheit sollten niemanden täuschen. Die Linke kann das in keinster Weise unterstützen, denn es ist nichts anderes als eine brutale Tyrannei. Die einzige Hoffnung für Nicaragua liegt in der Bewegung auf den Straßen; die einzige Option für progressive Bewegungen auf der ganzen Welt ist die Solidarität mit ihnen.
Die Ursprünge der Diktatur
Seit April 2018 waren die Straßen Nicaraguas Schauplatz ständiger Proteste und Demonstrationen. Polizei und maskierte Schlägertruppen griffen mit zunehmender Grausamkeit an, die Zahl der Toten, Verwundeten und Verhafteten stieg dramatisch an. Die Protestbewegung hatte fünf Jahre zuvor mit Protesten von Bäuerinnen und Bauern sowie indigenen Gemeinschaften gegen die Entscheidung, einen interozeanischen Kanal zu bauen, begonnen, dessen Auswirkungen verheerend sein würden.
In einer neoliberalen Welt, in der sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt und in der sich die Regierungen Mittel- und Südamerikas erneut Sparzwänge auferlegt haben, ist dies eine bekannte Geschichte. Der Unterschied im Fall Nicaraguas besteht darin, dass die Sparmaßnahmen, die Gewalt und Unterdrückung, die Ermordung von 350 Demonstrierenden und die Verhaftung von fast 800 Personen von Daniel Ortega angeordnet wurden, der 1979 die sandinistische Revolution anführte, welche die brutale 40-jährige Diktatur der Somoza-Dynastie stürzte.
Sandinismus und Contras
Sechs Jahre zuvor war Salvador Allende in Chile während eines Militärputsches, der von Augusto Pinochet angeführt wurde, ums Leben gekommen. Als Somoza floh und sein Regime fiel, schien es, als sei die Möglichkeit einer Revolution gekommen. Die Sprache des Sandinismus war der Befreiungstheologie entliehen; sie sprach von Liebe, Gemeinschaft und sozialer Gerechtigkeit. Das Image, das im Westen vom Sandinismus präsentiert wurde, war das einer romantischen Revolution in der Dritten Welt, und fand sich in der Musik seiner Troubadoure – die Mejía-Brüder – und in einfachen Bildern wieder, die von Bauern in Workshops gemalt wurden, welche vom Kulturminister organisiert wurden. Er selbst war Mitglied eines religiösen Ordens.
Die US-Regierung belagerte die junge Revolution sprichwörtlich. Der frisch gewählte US-Präsident Ronald Reagan hatte sie bereits zur direkten Bedrohung des US-Imperialismus erklärt, und finanzierte die konterrevolutionäre Bewegung, die er durch Waffenhandel mit dem Iran bezahlte; Oliver North war in der Sache damals die Nummer eins. Da Nicaragua zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas gehörte, völlig zerstört durch die 40-jährige Diktatur, seiner natürlichen Rohstoffe beraubt und mit einer Bevölkerung von nur drei Millionen, schien das Land kaum eine Gefahr für den Riesen im Norden darzustellen. Außer, wie ein Journalist schrieb, durch »die Bedrohung eines guten Beispiels«.
Während des darauf folgenden zehn Jahre dauernden Contra-Kriegs, der aus Washington mit Hilfe der US-Militärbasis in Honduras durchgesetzt wurde, kamen 50.000 Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner um und 100.000 wurden verwundet. Er zerstörte die Wirtschaft. 1990 wurden die Sandinisten abgewählt, und durch ein rechtes Regime unter Violeta Chamorro abgelöst.
Stalinistische Version des Kommunismus
Doch die Niederlage war nicht nur Ergebnis des Angriffs aus dem Norden. Der Sandinismus hatte die Unterstützung der Arbeitenden und Armen von Nicaragua verloren, die zuvor den Fall, und später die Ermordung des Diktators Somoza gefeiert hatten. Die versprochene Umverteilung des Landes hatte kaum begonnen; die Alphabetisierungskampagne der Regierung war beispielhaft, aber sie hatte keine Wirtschaftsstrategie und schlingerte von Krise zu Krise. Ortega führte ohne Konsultationsverfahren die Wehrpflicht ein.
Die sandinistische Revolution sollte eine neue Art Revolution werden, eine marxistische Volksdemokratie. Dennoch war die FSLN starr zentralistisch organisiert, und war der Basis gegenüber nie rechenschaftspflichtig. Die Parole, die auf Demonstrationen gerufen wurde, sagt alles: »Dirección national, ordene!« (Nationale Führung, wir erwarten Eure Befehle!) Auch wenn international ein romantisiertes Bild vermittelt wurde, hatten die Gründerinnen und Gründer des Sandinismus eine stalinistische Version des Kommunismus, gepaart mit einer guevaristischen Vorstellung von Avantgarde übernommen.
Von der Korruption zum Diebstahl
Entscheidungen wurden von einem neunköpfigen nationalen Rat getroffen. Die Betonung auf Gemeinschaft und Solidarität war der Befreiungstheologie entliehen, fand sich aber nicht in der Praxis des Frente wieder. Bei der Präsidentschaftswahl 1984 wurde Daniel Ortega gewählt. Ab dann entfernten sich die Sandinistinnen und Sandinisten immer weiter von ihrer Basis. Gleichzeitig nahmen Korruptionsanschuldigungen zu. Die »commandantes«, zumindest die meisten, lebten in den früher bourgeoisen Vierteln, und Ortega begann, sich für eine Allianz mit der Mittelklasse einzusetzen.
Die zugrunde liegende politische Realität des Frente spiegelte sich in ihrer zentralisierten Struktur und ihrem Modell des Staates wider. Die Gründer des Frente (1963) waren alle Mitglieder der Kommunistischen Partei, und ihr politischer Mentor war die kubanische Regierung. Sie war sehr weit entfernt von den Volksbewegungen des 21. Jahrhunderts, mit ihrem Schwerpunkt auf der Kontrolle von unten und der inneren Demokratie.
Nachdem der Sandinismus abgewählt worden war, stahlen sie alles, was nicht niet- und nagelfest war. Ortegas Bruder Humberto, Chef der Armee, überschrieb sich selbst eine riesige Immobilie im Zentrum von Managua. Andere Minister und sandinistische Anführer taten es ihm gleich. Tomás Borge, Idol der Solidaritätsbewegung, nahm eine Million Dollar von dem korrupten Präsidenten Mexikos, Carlos Salinas, an, um seiner Autobiografie zu schreiben. Diese organisierte Plünderung nannten wir »la piñata« – ein Bezug auf die Tonfiguren voller Süßigkeiten, die Kinder in Lateinamerika an Geburtstagen zerschlagen.
Allianz des Sandinismus mit seinen Gegnern
Sobald die Regierung von Chamorro übernommen hatte, unterschrieb Ortega eine Vereinbarung über die Aufteilung der Macht mit ihr. Die sandinistische Organisation, die FSLN, spaltete sich fast sofort und Ortega entwickelte sich zu einem autoritären Führer, der von einem überwältigenden persönlichen Ehrgeiz angetrieben wurde. Er schloss Bündnisse mit den heftigsten Feinden der Revolution von 1979 – Ex-Contras, die korrupte Kapitalistenklasse, vertreten durch Arnaldo Aleman, und schließlich auch mit der katholischen Kirche, die unermüdlich mobilisiert hatte, um eine Revolution zu zerstören, die von Kunst und der radikalen Befreiungstheologie getrieben wurde.
Schließlich gewann er 2006 die Präsidentschaftswahl, nachdem er die fortschrittlichsten Teile der FSLN vertrieben hatte und sich mit dem Führer der katholischen Kirche, Obando y Bravo, auf das drakonischste Anti-Abtreibungsgesetz Lateinamerikas verständigt hatte. Außerdem war die Verfassung dahingehend geändert worden, dass Kandidaten schon mit mehr als 35 Prozent gewählt werden können. Seitdem arbeitete er unermüdlich daran, die Diktatur aufzubauen, die jetzt ihre Schläger gegen das Volk in Stellung bringt.
Öffnung für den Weltmarkt
Ortega öffnete Nicaragua für den Neoliberalismus und den Weltmarkt; ausländisches Kapital finanzierte eine neue Tourismusindustrie, multinationale Bergbauunternehmen durften den Betrieb aufnehmen, und 2013 gab er die Entscheidung bekannt, einem chinesischen Unternehmen einen 40-Milliarden-Dollar-Vertrag über den Bau eines interozeanischen Kanals durch den Nicaraguasee zu erteilen. Die Auswirkungen wären verheerend, würden Ackerland zerstören, indigene Gebiete zerteilen und eine Umweltkatastrophe verursachen. Aber die Gewinne für die Diktatur von Ortega und seiner Frau Murillo, ihre Familie und eine engen Gruppe von Unterstützern (den »Acompañantes«) wären enorm. Für die Masse der Nicaraguaner wirkte sich die Politik anders aus. Bis 2018 lebten 30 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut und weitere 20 Prozent sind armutsgefährdet.
Die Tragödie von Nicaragua ist eine doppelte. Zum einen wurde der lange Kampf gegen die brutale Somoza-Dynastie damit beendet, das eine neue Dynastie geschaffen wurde – die Ortega-Dynastie – die das autoritäre Regime und den repressiven Apparat der alten Diktatur reproduziert hat. Das Rad hat sich, so scheint es, einmal im Kreis gedreht. Der interozeanische Kanal war der Traum der Räuberbarone der USA im späten 19. Jahrhundert.
Karikatur des Sozialismus
Die zweite Tragödie ist, dass Ortega immer noch auf der Liste linker Anführer in Lateinamerika steht. Er ist ein skrupelloser Opportunist, der sich mit einer Messias-ähnlichen Kampagne feiert, die riesige Porträts von ihm an öffentlicher Gebäude hängt, während seine Frau, die die Dynastie weiterführen soll, ihn zum Retter des Landes ausruft.
Dabei gibt es nichts, was weiter von dieser Karikatur eines Sozialismus entfernt ist, als die neuen Bewegungen der Region, die für eine partizipatorische Graswurzel-Demokratie stehen. Diejenigen im Ausland, die Ortega früher unterstützt haben, wie auch andere Regime, welche die Suche nach revolutionärer Veränderung aufgegeben haben, scheinen seltsam unwillig zu sein, die Korruption und den Verrat zu erkennen, wenn sie sich auf die Revolution berufen. Diejenigen im Westen, die die Wahrheit noch immer verstecken, werden jenseits des schrumpfenden Zirkels an der Macht keine Freunde in Nicaragua gewinnen.
(Übersetzung: Franziska Wöckel)
Foto: birdfarm
Schlagwörter: Lateinamerika, Nicaragua, Stalinismus