In Hongkong besetzten Hunderttausende die City. Warum? Wer sind sie? Wie kam es dazu und wie wird es weitergehen? Die 10 wichtigsten Fragen beantwortet euch Sophia Chan (Left21) aus Hongkong.
1. Wann haben die Proteste angefangen und was war der Auslöser?
Die Proteste sind nur das letzte Kapitel in einem bereits lange andauernden Kampf um Demokratie. Als Großbritannien Hongkong 1997 an China zurück gab, versprach die chinesische Regierung sowohl im chinesisch-britischen Abkommen als auch in der Mini-Verfassung Hongkongs, dem Grundgesetz, dass ein demokratisches System eingeführt werden würde.
Nach Jahren der Aufschübe und vorgeschobener Entschuldigungen hat der Nationalkongress der Volksrepublik China dann im August dieses Jahres erklärt, wie diese sogenannte Demokratie in Hongkong aussehen würde: Peking schlägt zwei bis drei Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vor, zwischen denen die WählerInnen dann abstimmen können. Außerdem müssen die Kandidaten von mindestens fünfzig Prozent der Mitglieder eines Wahlkomitees nominiert werden, dem hauptsächlich Vertreter der Wirtschaftsinteressen Hongkongs beisitzen.
2. Eine Chronologie der Ereignisse
(bis zum 1. Oktober)
Der Studierendenverband Hongkongs hat am 22. September begonnen, einen Unistreik zu organisieren. Über 13.000 Studierende haben ihre Vorlesungen bestreikt. Am 26. September schlossen sich 1500 Schüler aus weiterführenden Schulen an. Während dieses Streiks haben Uni-Dozenten draußen im Regierungsviertel öffentliche Vorlesungen gehalten.
Am letzten Tag des Streikes haben die SchülerInnen und Studierenden die Polizeiabsperrungen um den Platz vor dem Regierungssitz gestürmt und den »Civic Square« besetzt. Die Polizei hat sie abgedrängt, massiv Pfefferspray eingesetzt und drei Anführer der Studierenden festgenommen und illegal festgehalten. Das mobilisierte tausende BürgerInnen Hongkongs in die Straßen, um gegen die Festnahmen zu protestieren.
Daraufhin wurde das ursprünglich für Anfang Oktober geplante Occupy Central (Zentrum besetzen) vorgezogen. In den Morgenstunden des 27. September begann die Kampagne zivilen Ungehorsams.
Am nächsten Tag fluteten tausende Menschen die Straßen und begannen die Hauptstraßen in den Bezirken Admiralität und Wan chai zu besetzen. Die Polizei setze Pfefferspray und später auch Tränengas ein. Diese gewalttätige Reaktion auf die friedlichen DemonstrantInnen schuf große Wut in der Bevölkerung und mobilisierte nicht weniger als 100.000 HongkongerInnen am 29. September. Seitdem halten sich die Sicherheitskräfte eher zurück und die Besetzungen wachsen, sodass mittlerweile rund 200.000 DemonstrantInnen in den Stoßzeiten vier Bezirke im Stadtzentrum besetzten.
3. Wie haben sich die Proteste von ihrem Beginn bis jetzt entwickelt? Wie kam es zur Besetzung des Finanzdistriktes Hongkongs?
Die Kampagne Occupy Central wurde letztes Jahr von einem Uni-Professor namens Benny Tai entwickelt. Der Bezirk Central wurde als symbolisches Herz Hongkongs ausgewählt. Alle wichtigen Unternehmen haben dort ihre Filialen, außerdem befindet sich dort der alte Regierungssitz und das Parlament. Am wichtigsten ist, dass die Kampagnen-OrganisatorInnen dachten, eine Besetzung sei der beste Weg, um möglichst viel Störung hervorzurufen, sodass die Regierung gezwungen sein würde, sich die Forderungen der Menschen anzuhören.
Dennoch war es am Ende der Studierendenverband, der den Anlass zum frühzeitigen Start der Kampagne gegeben hat, indem sie den Civic Square (Platz vor dem Regierungssitz) gestürmt haben. Die Occupy Central Kampagne und die Studierendenorganisation stellen momentan die Führung der Bewegung.
4. Wer sind die Protestierenden?
Die Mehrzahl der DemonstrantInnen sind Studierende. Seit dem brutalen Polizeiangriff am 28. September sind aber sehr viele BürgerInnen auf die Straße gekommen, um die Studierenden zu unterstützen. Deshalb kommen jetzt bei den Besetzungen Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen zusammen.
Im besetzten Bezirk Mong Kong, einem Viertel mit vielen Bürgerinitiativen und Ansätzen der Selbstorganisation, beteiligen sich auch viele ArbeiterInnen an den Protesten. In Hong Kong Island sind es überwiegend Studierende und Angestellte. AkademikerInnen haben eine große Präsenz.
Die zwei wichtigsten Organisationen in den Protesten sind die Occupy Central Kampagne und der Studierendenverband. Es ist unbestritten, dass der Studierendenverband die Proteste ins Rollen gebracht hat, aber die meisten DemonstrantInnen sind von sich aus zu den Besetzungen gekommen und organisieren sich selbstständig in Teams und Arbeitsgruppen in den verschiedenen besetzten Gebieten. Es gibt dabei keine wirklich starken »Anführer«.
Politische Parteien unterstützen die Proteste, aber die Bewegung ist ihnen gegenüber recht skeptisch. Viele sind besorgt, dass eine Partei versuchen könnte, die Bewegung zu übernehmen. Deshalb unterstützen die Parteien die Bewegung zur Zeit eher mit Material und medialem Beistand.
5. Wie sind die DemonstrantInnen organisiert? Gibt es Formen der Selbstorganisation?
Die meisten Protestierenden sind auf eine längere Besetzung eingestellt. Sie organisieren Aufräum-Trupps, Versorgungsstellen und Erste Hilfe-Stationen.
Es entwickeln sich definitiv an vielen Stellen selbstorganisierte Initiativen der DemonstrantInnen. Zum Beispiel gibt es jetzt überall Gruppen von Leuten, die sich spontan zusammen setzten und offene Versammlungen abhalten. Dort wird reihum ein Mikrofon rumgegeben und jedeR kann Gedanken zur Situation und der Zukunft in Hongkong äußern. Jede Person hat fünf Minuten Redezeit, und wenn jemand zu lange spricht, wird er oder sie von den anderen freundlich ermahnt, das Mikrofon weiter zu reichen.
Außerdem gibt es freiwillige Teams, die herumgehen und mit den Besitzern der Läden in den besetzten Gebieten sprechen. Sie versuchen die Sympathien der Anlieger für die Bewegung zu gewinnen, da die Besetzungen für die Läden Ausfälle bedeuten. Des weiteren sind überall Flächen zu »Demokratie-Wänden« umgewandelt worden. Auf den Seitenflächen von Bussen, auf Häuserwänden, Pfeilern – überall haben die Menschen Botschaften aufgeschrieben und aufgehängt.
Im Grunde können alle TeilnehmerInnen der Proteste sich in die Proteste einbringen, wenn sie möchten – es gibt es wenig Hierarchien.
6. Was sind die Forderungen?
Die wichtigsten Forderungen sind: freie Wahlen, der Rücktritt des Regierungschefs CY Leung und des Polizeichefs Tsang Wai-hung. Hinter diesen Forderungen steht die Bewegung sehr geschlossen und es sind bisher keine anderen entstanden.
7. Gibt es eine progressive Linke in Hongkong?
Es gibt einen progressiven linken Flügel in Hongkong, der unter anderem von der Gruppe Left21 repräsentiert wird. Sie spielen auch eine Rolle in den Protesten, vor allem wenn es darum geht, Bündnisse zu schaffen und die Bewegung organisatorisch zu unterstützen. Sie haben unter anderem ein Bündnis von Graswurzelorganisationen und Gewerkschaften zur Unterstützung der Proteste initiiert. Das Bündnis umfasst nun 17 Organisationen.
Ein Resultat davon ist, dass am 29. September – dem Tag, an die Polizei mit Tränengas auf die DemonstrantInnen schoss – der Verband der Gewerschaften Hongkongs einen Generalstreik ausrief und mehrere Gewerkschaften – unter anderem die Belegschaft der Swire Brauereien (Coca Cola Fabriken) – in einen eintägigen Streik traten.
8. Was versuchen die progressiven linken Kräfte in die Bewegung zu tragen?
In dieser Bewegung, die sich vor allem um die Demokratie-Frage dreht, versucht Left21, die ökonomischen Aspekte stärker zu betonen. Dafür verfolgen sie mehrere Strategien: die Organisation öffentlicher Debatten in den Besetzungen für die Protestierenden; mit Informationsmaterial, Flyern und Zeitungsartikeln auf den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und den politischen Problemen Hongkongs aufmerksam zu machen; vor Ort innerhalb der Proteste ArbeiterInnen- und Graswurzelinitiativen aufzubauen; internationale Unterstützung von Gewerkschaften, wie zum Beispiel der Nationalen LehrerInnen-Gewerkschaft Großbritaniens, zu organisieren.
Freie Wahlen wären ein bedeutender Schlag für den Wirtschaft-Regierungs-Sumpf und die Kapitalisten. Derzeit sind die Hälfte der Sitze im Parlament Hongkongs für Sparten-Wahlbezirke reserviert, sodass im Grunde jede Branche und jeder Wirtschaftszweig (wie zum Beispiel der Finanzsektor) einen sicheren Platz im Parlament haben. Wenn die Menschen in Hongkong für Reformen wie einen Mindestlohn oder einen gesetzlichen Arbeitsschutz kämpfen, dann sind es fast immer diese Abgeordneten, die alles blockieren. Und das von Peking für die Regierungswahlen vorgeschlagene Wahlkomitee soll aus 1200 Mitgliedern bestehen, von denen fast alle Vertreter von Wirtschaftszweigen wie der Immobilienbranche, Banken und so weiter wären. Peking hat selbst erklärt, dass das dazu dient, die Interessen der Kapitalisten in Hongkong zu wahren.
Ein demokratischer Wandel wäre zwar nur der erste Schritt hin zu einem wirklich tiefgreifenden Wandel, dennoch würden freie Wahlen an sich schon einen enormen Fortschritt für den Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung in Hongkong bedeuten. Natürlich versuchen die linken Kräfte, den Standpunkt weiter zu verbreiten, dass auch bei einem Sieg und bei freien Wahlen der Kampf gegen Konzerne und Kapitalisten weiter gehen muss.
9. Was ist von den Autoritäten in Peking zu erwarten? Wie würde die Bewegung auf eine Eskalation reagieren?
Solange die Bewegung nicht so sehr eskaliert, sodass eine Abspaltung von China in den Fokus rücken würde, ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass Peking die Armee schicken wird. Der Preis dafür würde international und vor Ort zu hoch sein. Bisher haben nur ein sehr kleiner unrelevanter Teil der Proteste – vor allem rechte Gruppen, die gegen Immigranten vom chinesischen Festland agitieren – zur Unabhängigkeit von China aufgerufen. Die Situation ist in diesem Punkt also eher unter Kontrolle.
Eine wahrscheinliche Möglichkeit ist, dass die Hongkonger Regierung früher oder später Verhandlungen mit dem Studierendenverband und den politischen Parteien aufnehmen wird. Um deren Ausgang vorherzusagen ist es noch zu früh. Die Menschen sind sehr skeptisch gegenüber Organisationen, die die Führung der Bewegung für sich reklamieren und Kompromisse für sie aushandeln wollen. Je nach Ausgang könnten solche Verhandlungen deshalb eine große Gegenreaktion provozieren.
10. Wie wird es weitergehen? Haben die DemonstrantInnen eine Chance zu gewinnen?
Die Regierung wird die Bewegung nicht aussitzen können, weil die Besetzungen sich in Hongkong immer weiter verbreiten. Im Moment versuchen die Staatsmedien massiv, die Bewegung zu diskreditieren, indem sie auf den Unannehmlichkeiten für die Anlieger der Besetzungen und den wirtschaftlichen Einbußen herumreiten. Der Kampf um die öffentliche Meinung wird also ein entscheidender sein. Im Moment würde ein hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte nur weitere Unterstützung für die Bewegung bringen. Wenn es aber den Autoritäten gelingt, die Bewegung in den Schmutz zu ziehen und die öffentliche Meinung gegen sie zu kehren, wird die Polizei die Besetzungen räumen können.
Fragen & Übersetzung: Paula Schulte.
Fotos: pasuay @ incendo Leung Ching Yau Alex Lamuel Chung
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