Neuwahlen und Krieg gegen die kurdische Befreiungsorganisation PKK: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will mit allen Mitteln seine Macht behaupten. Ein Blick auf die erneute Eskalation des Konflikts. Von Erkin Erdoğan
Es zeichnet sich eine neue Ära in der türkischen Politik ab: Bei der Parlamentswahl am 7. Juni konnte die neue Linkspartei HDP 13 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, die Zehnprozenthürde überwinden und in die Nationalversammlung einziehen. Diese Entwicklung hat das Gleichgewicht zwischen den herrschenden Parteien empfindlich gestört, ebenso das System, das die vergangenen Jahre das Land geprägt hat. Die regierende AKP und Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierten auf den Wahlsieg der HDP mit Konfrontation: Sie kündigten die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK auf und setzten für den 1. November Neuwahlen an. Das bedeutet: Diese Wahlen werden in einer Situation stattfinden, in der in den kurdischen Gebieten das Kriegsrecht gilt. Angesichts der ökonomischen und politischen Stabilität, die in den vergangenen Jahren die Türkei prägten, geht die herrschende Klasse ein enormes Risiko ein. Doch die Führung der AKP hat schon lange das Gefühl für rationale Entscheidungen verloren, wenn es um Themen geht, die ihren Herrschaftsbereich betreffen.
Es ist gerade einmal zweieinhalb Jahre her, dass Vertreter der türkischen Behörden eine Nachricht des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan an die Newroz-Feier in Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt der Türkei, überbrachten. Öcalan rief darin einen Waffenstillstand aus und erklärte, dass es für die kurdische Freiheitsbewegung an der Zeit sei, sich in eine entmilitarisierte, demokratische Bewegung zu verwandeln, die mit dem türkischen Staat über die Rechte der Kurden verhandeln sollte. Der daraufhin einsetzende Friedensprozess hatte seitdem seine Höhen und Tiefen. Nichtsdestotrotz erreichte er einen Punkt, an dem beide Seiten zu einer Pressekonferenz im Dolmabahçe-Palast, der ehemaligen Residenz der türkischen Herrscher, zusammenkamen, um die bei den Verhandlungen getroffenen Abkommen zu verkünden.
Jetzt hat Erdogan eine plötzliche Kehrwende vollzogen. Der entscheidende Faktor war der Aufstieg der HDP. Sie konnte ihr Wahlergebnis mit einem Programm für Frieden und Demokratie verdoppeln, während die AKP neun Prozentpunkte verlor und – noch bedeutender – damit ihre absolute Mehrheit im Parlament. Vor allem in den Städten mit hohem kurdischem Bevölkerungsanteil sank die Stimmenanzahl der AKP deutlich.
Die Spannungen nahmen bereits im Vorfeld der Wahl zu. Zunächst beschuldigte Präsident Erdogan die Regierung um Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, dass sie ihn nicht über die Details des Dolmabahçe-Abkommens informiert habe. Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, stellte aber einen Versuch dar, sich während des Wahlkampfs von Öcalan, der PKK und der HDP zu distanzieren. Gegenüber den Kurden verfolgte die AKP die Strategie, sie in Unterstützer des »Terrors« und Unterstützer des Establishments zu spalten. Der Streit zwischen den beiden Parteien eskalierte während der großen Wahlkampfveranstaltungen. Erdogan berichtete der Presse, dass gegenwärtig keine Verhandlungen mit der PKK stattfänden und der Friedensprozess eingefroren sei. Sein Kalkül war vermutlich, eher die Situation kontrolliert zu verschärfen als den Friedensprozess als Ganzes zu zerstören.
Dies ging seit April dieses Jahres mit einer strikten Isolationshaft Öcalans einher. Viele Türkinnen und Türken glaubten, dies seien taktische Züge, um Stimmen aus dem konservativen Lager zu gewinnen. Aber es war mehr als das. Die Wahlergebnisse vom Juni stellten einen riesigen Erfolg für die HDP dar. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ist es einer radikal-linken Partei – die sich aus der kurdischen Freiheitsbewegung und anderen Teilen der Linken zusammensetzt – gelungen, die Zehnprozenthürde zu überwinden, die nach dem Militärputsch von 1980 eingeführt wurde, um radikale Parteien aus dem Parlament fernzuhalten. Die kurdische Seite konnte mit diesem Ergebnis im Rücken ihre Verhandlungsposition deutlich verbessern.
Erdogan reagiert auf den Wahlerfolg der HDP mit Krieg
Für die AKP war von Anfang an klar, dass sie keine Koalition mit der säkularorientierten kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) eingehen wollte, auch wenn große Teile der Bourgeoisie ein solches Bündnis favorisiert hätten. Erdogans Ziel ist es vielmehr, bei den Neuwahlen wieder eine Mehrheit der AKP im Parlament zu gewinnen, die ihr die Macht gibt, Verfassungsänderungen zu beschließen. Dazu muss sie den Stimmanteil der HDP wieder unter zehn Prozent drücken. In der Denkweise der AKP besteht der einfachste Weg, Stimmen zu gewinnen, darin, attraktiver für türkische Nationalisten zu werden. In der Vergangenheit hat die Partei diese Taktik bereits sehr erfolgreich umgesetzt. Als im Juli im kurdischen Suruç ein Selbstmordattentäter, offiziell vom Islamischen Staat (IS), 34 junge linke Aktivistinnen und Aktivisten ermordete, missbrauchte Erdogan diese Tragödie, um einen neuen Bombenkrieg gegen den IS zu beginnen, aber vor allem gegen die PKK im Kandilgebirge. Mit einem neuen Krieg gegen die Kurden will die Regierungspartei um Stimmen bei den Nationalisten werben.
Den Süden Kurdistans zu bombardieren, erforderte die Zustimmung der USA, besonders im Hinblick auf den Krieg gegen den IS. Die PKK ist eine der wichtigsten Kräfte, um den Vormarsch des IS zu bremsen. Ihre syrische Schwesterpartei Demokratische Union (PYD) ist die wichtigste politische Strömung in Rojava und deren bewaffneter Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), konnte herausragende Erfolge feiern, wie etwa die Verteidigung von Kobane. Ankara erlaubte den USA, türkische Stützpunkte für die Luftschläge gegen den IS in Syrien zu nutzen. Daher konnte die türkische Regierung im Gegenzug die USA relativ leicht von der Bombardierung der Kurden überzeugen. Auf der Grundlage dieses Deals definierten die USA die jüngsten türkischen Luftschläge auf kurdisches Gebiet als Akt der Selbstverteidigung. Auf die Bombardierung folgte die massenhafte Kriminalisierung von HDP-Unterstützerinnen und Unterstützern. Ganz plötzlich befand sich die Türkei in einem neuen Krieg gegen die Kurden.
Die HPG (Volksverteidigungskräfte), der militärische Arm der PKK, reagierte relativ vorsichtig auf diese Entwicklung. Sie zerstörte mancherorts türkische Militärinfrastruktur und führte Operationen gegen türkische Bodentruppen aus, aber in keinem vergleichbaren Verhältnis zur Gegenseite. Nach türkischen Angaben starben 400 PKK-Mitglieder bei den Luftschlägen. Zudem nahm die türkische Luftwaffe auch Zivilisten ins Visier, zum Beispiel in Zergele im Kandilgebirge, wo zehn Zivilisten starben und vierzehn verwundet wurden.
Das kleine Dorf wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Darüber hinaus beschoss die türkische Luftwaffe auch eigenes Gebiet. »Cobra«-Helikopter bombardierten Varto, eine Stadt in der Provinz Muş, da es dort Massenaufstände gegeben hatte. Die politische Antwort der kurdischen Bewegung war es, in einigen Städten die Autonomie auszurufen. Bislang haben drei Städte und acht Bezirke diesen Aufruf befolgt. Sie werden zum Teil militärisch von der HPG geschützt. Mit der Einbindung der Massen in den Kampf gegen die Luftschläge und den Krieg war es für die kurdische Freiheitsbewegung wieder einmal möglich, Sympathien in der ganzen Türkei zu gewinnen. Cemil Bayık, ein führender Politiker der PKK, spricht davon, dass sich ihre Organisation das Recht auf Vergeltungsschläge gegen die Türkei vorbehält. Auf der anderen Seite ist sich die PKK sehr wohl bewusst, dass den Kurden eine Verschärfung des Konflikts nichts bringt. Sie verlangen eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Öcalan.
Die Manöver Erdogans zielen in erster Linie auf die HDP. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Druck auf die Partei im Vorfeld der Neuwahlen zunehmen wird. Ihre Führung hat daher mehrfach betont, dass sie für Frieden steht. Unter dem Namen »Friedensblock« hat die HDP vor allem im Westen der Türkei Friedensbündnisse aufgebaut, um zu verhindern, dass sich dieser Krieg weiter ausbreitet. Selahattin Demirtas, stellvertretender Vorsitzender der HDP, hat sich im Namen seiner Partei von allen Gewalttaten distanziert. Damit reagierte er auf den Versuch, die HDP der Teilnahme an dem Konflikt zu beschuldigen.
Um Kriegsverbrechen der Türkei zu dokumentieren, entsandte die Partei eine Delegation nach Kandil und wandte sich an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Strafgerichtshof einzuleiten. Demirtas stellte die Agenda der AKP als eine Strategie bloß, das Land niederzubrennen und damit die absolute Macht zu erlangen. Daher ist der Kampf für Frieden und eine Stärkung der HDP bei den kommenden Wahlen entscheidend für die türkische Linke. Das Ziel der HDP ist es, sich auf 20 Prozent zu verbessern. Laut einigen Meinungsumfragen liegt sie bei ungefähr 15 Prozent. Das zeigt, dass eine aktivistische Friedenspolitik breite Unterstützung erfährt.
Die Bundesregierung steht fest an der Seite ihres Nato-Partners Türkei
Die Bundesregierung steht offensichtlich fest an der Seite ihres Nato-Partners Türkei. Kein Wunder, denn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern erreichten im vergangenen Jahr einen Höhepunkt. Die Exporte von Deutschland in die Türkei umfassten ein Volumen von 24,1 Milliarden Dollar. Die Investitionen deutscher Unternehmen in der Türkei haben sich im Vergleich zu den Vorjahren vervierfacht. Ohne die politische und militärische Unterstützung durch westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA wäre die jahrzehntelange Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung überhaupt nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung hilft der Türkei militärisch, indem sie eine Raketenstaffel der Bundeswehr im Land unterhält und im großen Stil Waffen exportiert. Gegenwärtig existieren Verträge über die Lieferung von U-Booten in den Jahren 2015 bis 2020 sowie von Leopard-Panzern und anderen Militärfahrzeugen. Zudem unterstützt die Bundesregierung die türkische Regierung politisch, indem sie weiterhin am Verbot der PKK festhält und so die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden stigmatisiert und kriminalisiert. Das Verbot muss fallen. Denn es ist nichts anderes als ein Instrument der Repression. Es stellt einen Versuch dar, eine große, hier lebende Minderheit einzuschüchtern sowie einen Keil zwischen die türkischen und kurdischen Zuwanderer zu treiben und Solidarität zu erschweren. Erst kürzlich nutzte ein deutsches Gericht das PKK-Verbot, um Ahmet Celik, einen Politiker des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland (Nav-Dem), zu verurteilen. Es ist heuchlerisch, wenn Außenminister Steinmeier die Türkei vor einer weiteren Eskalation der Gewalt warnt, während sein eigenes Land kurdische Politiker inhaftiert.
Bei der türkischen Parlamentswahl hat die HDP unter den 1,4 Millionen türkischen Staatsbürgern in Deutschland als zweitbeste Partei abgeschnitten. Eine aktivere Unterstützung durch DIE LINKE in Deutschland könnte ihr helfen, eine größere Bekanntheit zu erlangen – was gleichbedeutend wäre mit einer größeren Bekanntheit der LINKEN.
Foto: The Prime Minister’s Office
Schlagwörter: Abdullah Öcalan, AKP, HDP, NATO, PKK, PKK-Konflikt, PKK-Verbot, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei, YPG