Vor einem Jahr zogen die US- und NATO-Truppen aus Afghanistan ab. Das von ihnen aufgebaute Marionettenregime verlor in kürzester Zeit die Macht an die Taliban. Der folgende im Oktober 2021 erschienene Artikel von Joseph Choonara geht auf die Hintergründe sowie die Auswirkungen des Imperialismus in Afghanistan seit dem 19. Jahrhundert bis heute ein.
Die überstürzte Flucht des US-amerikanischen Personals aus seiner Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul im August 2021 markierte den Höhepunkt einer scheußlichen, zwanzig Jahre währenden Saga. Der Ausgang gibt jenen auf der Linken Recht, die George Bushs im Jahr 2001 losgetretenen »Krieg gegen den Terror« verurteilten.
Das vorgebliche Ziel der von den USA angeführten Invasion Afghanistans in jenem Jahr war die Vernichtung von Al Qaida, verantwortlich für die Angriffe am 11. September, und der Sturz der sie beherbergenden Taliban-Regierung. Die tiefer liegende Strategie der Neokonservativen um Bush war es allerdings, die überragende Militärmacht der USA einzusetzen, um ihre globale Hegemonie zu festigen. Der Krieg gegen Afghanistan, und dann gegen den Irak im Jahr 2003, wurde als Teil eines umfassenden Prozesses der Neugestaltung der Weltordnung und Schwächung potenzieller Rivalen wie China gesehen.
In beider Hinsicht war das Projekt ein Desaster. In Afghanistan sind die Taliban wieder an der Macht und die sektiererische schiitische Regierung Iraks ermöglichte es dem Iran, seinen Einfluss in der Region auszudehnen, und trug zur Entstehung des Islamischen Staats von Irak und Syrien bei. Eine Kette der Instabilität von Pakistan bis in den Maghreb ist das Ergebnis. Und was die imperialen Ambitionen der USA betrifft, haben ihre vernichtenden Niederlagen in Afghanistan und Irak ihre Fähigkeit geschwächt, ihre Interessen im Ausland durchzusetzen.
Feuerprobe der Geschichte
Ein Großteil der Mainstream-Debatte um Afghanistan betrachtet den Dissenz als eine zwischen »eingefleischten Liberalen«, die glauben, die USA hätten bleiben müssen, um »die Taliban in Schach zu halten«, auf der einen Seite, und Joe Biden und dem US-Sicherheitsestablishment auf der anderen, die die Ausweglosigkeit der Situation erkannt haben. Aber diese Debatte beruht auf der gleichen schiefen Prämisse wie vor 20 Jahren schon: Sollten wir das Volk Afghanistans, vor allem die Frauen, weiterhin unter den Taliban leiden lassen, oder das Land mit Bomben übersähen, um ihnen unsere Lesart der Freiheit aufzuzwingen? Dabei werden zwei grundlegende Dimensionen vergessen: das selbstbestimmte Handeln des afghanischen Volks und die Rolle von imperialistischen Interventionen, die die Bedingungen für den Aufstieg der Taliban schufen.
Das große Unglück Afghanistans liegt in seiner geografischen Lage an der Nahtlinie zwischen mehreren Imperien. Das von Ahmed Schah im 18. Jahrhundert geschaffene Imperium erstreckte sich für eine kurze Zeit vom Kaschmir bis zum heutigen Iran. Seine Königsherrschaft schlug nur schwache Wurzeln in der Gesellschaft und wurde von einer schwachen Verwaltung beaufsichtigt, die nur mit Mühe Steuern von örtlichen Grundbesitzern eintreiben konnte und sich daher vorrangig auf Einnahmen aus Handelsrouten und den besetzten Territorien stützte.
In den 1830 Jahren hatte der Staat diese Territorien mittlerweile wieder verloren und sah sich mit einer tiefen Krise konfrontiert. Ab jetzt stand es im Zentrum des »großen Spiels«, des Konflikts zwischen Russland und Großbritannien um die Kontrolle über Zentralasien. Das eröffnete die Möglichkeit, die Staatskasse mit Hilfe von Geldern der rivalisierenden imperialistischen Mächte zu füllen.
Großbritannien, die dominierende Macht auf dem indischen Subkontinent, war ein Schlüsselgeberland. Aber das hatte seinen Preis. Ab dem Augenblick, als die Herrscher Afghanistans nicht mehr in der Lage schienen, als zuverlässiger Puffer gegen die russische Intervention zu dienen, bot sich die Option einer Invasion. Die Briten führten drei Kriege gegen Afghanistan, um ihre Interessen durchzusetzen. Der erste, im Jahr 1838, endete für die britischen Invasoren in einem Desaster. Sie waren einmarschiert, um den Emir Dost Mohammed Khan zu stürzen und ihn durch eine unbeliebte, aber willige Alternative zu ersetzen.
Indem sie örtliche Herrscher bestochen und Widerständler brutal niederschlugen, konnten die Briten sich ihren Weg bis nach Kabul bahnen. Ihre Besatzung sah sich allerdings sehr bald mit einer Reihe von Aufständen, Desertionen und Fatwas zur Verkündung eines Dschihads gegen die Invasoren sowie mit Fahnenflucht und Meutereien in den eigenen Truppen konfrontiert. Dost Mohammed bestieg wieder den Thron, erhielt aber fortan beträchtliche Summen im Gegenzug für seine Unterstützung der britischen Außenpolitik.
Der zweite und dritte Krieg in den Jahren 1878 und 1919 endeten nicht in einer derartigen Blamage, allerdings wurden auch sie mit bedeutenden Volksaufständen konfrontiert.
Der Einmarsch im Jahr 1919 war teils eine Antwort auf die Unabhängigkeitserklärung des damaligen Herrschers Amanullah Khan. In Anbetracht der Logik eines globalen Systems konkurrierender Nationalstaaten versuchte Amanullah, wie andere Herrscher seiner Zeit auch, einen eigenen modernen, europäisierten Staat zu schaffen. Die nachlassende Unterstützung durch Großbritannien und das eigene Unvermögen, die Macht der lokalen Herrscher zu brechen, nötigten ihn dazu, die Bauernschaft auszupressen und Beamte und Soldaten zu besteuern. Die dadurch erzielten sehr bescheidenen Einnahmen wurden dann für »Weiße-Elefanten-Projekte, die lediglich seinem engeren Familienkreis zugute kamen«, verschwendet.
Das von oben verordnete Modernisierungsprogramm verfolgte auch das Ziel, die Scharia-Gesetze und weitere Gebräuche einzuschränken. Es stieß auf wütenden Widerstand und im Jahr 1924 sah sich Amanullah genötigt, Afghanistan zu einem islamischen Staat zu erklären – was ihn nicht davon abhielt, vier Jahre später abermals zu versuchen, seine Reformen aufzuzwingen. Eine erneute Rebellion vereinte die Empörung wegen Steuern, Wehrdienst, Korruption und Säkularisierung in sich. Nur wenige Monate später fiel Kabul und Amanullah begab sich ins Exil.
Wie Jonathan Neale es in wenigen Worten zusammenfasst: »Die Afghanen hatten drei heilige Kriege gegen die britischen Invasoren geführt und einen heiligen Krieg gegen Amanullah.« Es war eine Tradition entstanden, die Besatzung und Ungerechtigkeit mit der Auferlegung fremder Normen identifizierte und im Islam eine gemeinsame Sprache des Widerstands entdeckte für ein Volk, das ansonsten durch Klasse, Stammes- und ethnische Zugehörigkeit sowie Sprache gespalten war.
Der Kalte Krieg
Während des Kalten Kriegs blieb Afghanistan neutral und von Auslandshilfen abhängig, die die Hälfte des Staatsbudgets deckten – wobei die USA und die Sowjetunion an die Stelle Großbritanniens getreten waren. Der afghanische Staat war nun bestrebt, eine öffentliche Verwaltung und einen Militärapparat aufzubauen, zusammen mit einem Bildungssystem, um Offiziere, Beamte und anderes Fachpersonal zu trainieren. Das expandierende Staatswesen verschlang einen Großteil der Regierungseinnahmen, es wurde wenig in die industrielle oder landwirtschaftliche Entwicklung investiert.
Im Jahr 1972/73 wurde das Land von einer Hungersnot heimgesucht. Die US-Hilfen waren bereits stark zurückgefahren, was Raum für einen wachsenden sowjetischen Einfluss schuf. Mohammed Daoud, ein Vetter des damaligen Königs, konnte die Macht in einem unblutigen Staatsstreich an sich reißen. Er erklärte das Land zu einer Republik und führte es näher an die Sowjetunion heran. Die erwartete Steigerung sowjetischer Hilfen blieb allerdings aus und Daoud wurde im Jahr 1978 seinerseits durch einen Putsch, diesmal unter Führung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA), gestürzt.
Die PDPA rekrutierte sich aus städtischen Fachkräften, Studenten und Armeeoffizieren, die das expandierende Bildungssystem auf den Markt warf. Sie setzten ihre Hoffnungen in ein stalinistisches Modell staatlich geleiteter Entwicklung zur Schaffung eines modernen Afghanistans, das eine von oben verordnete Landreform beinhaltete. Sie machten sich eine Interpretation des Islams zu eigen, die nicht nur religiöse Führer und Landbesitzer bedrohte, sondern auch bestehende Muster dörflichen Lebens, wozu, so Neales Beschreibung, ein »Islam, geboren aus Armut und Scham, gestählt durch große heilige Kriege gegen die Ungläubigen und kleine lokale Kriege gegen die Regierung« gehörte. Diese Anläufe, das Dorfleben umzugestalten, vermischten sich mit den Schwierigkeiten, die Landreform durchzusetzen. Wie Jonathan Lee argumentiert:
»Die PDPA hatte die Macht durch einen Militärputsch an sich gerissen und besaß kein Mandat der breiten Bevölkerung … Grundherren, deren Land beschlagnahmt wurde, forderten ihre Pächter zur Rückzahlung ihrer Schulden auf und verweigerten ihnen Kredite, Samen und Düngemittel … Bauern, die konfisziertes Land annahmen, verloren sämtliche Bewässerungsrechte … Um Samen und anderes einzukaufen, waren die Bauern gezwungen, sich bei städtischen Geldverleihern zu verschulden, die exorbitante Zinseszinse verlangten. Und wenn sie es nicht schafften, über die Runden zu kommen und ihre Schulden abzubezahlen, verkauften sie ihr Land wieder oder mussten erleben, wie es von Schuldeneintreibern beschlagnahmt wurde.«
Als Dorfbewohner und -bewohnerinnen, wiedermal unter dem Namen des Islams als gemeinsame Sprache des Widerstands protestierten, griff die PDPA zum Instrument der Repression. Als die Regierung im Jahr 1979 kurz davor war, zusammenzubrechen, marschierte die Sowjetunion ein. Wie bei früheren Invasionen erschien der Konflikt als »Krieg gegen die Ungläubigen«. Als Antwort auf die wachsende Repression gründeten sich Gruppen der Mudschaheddin. Diese Gruppen standen in Verbindung mit der einen oder anderen der rivalisierenden islamistischen Parteien in Peschawar, im Nordosten Pakistans – dem Zufluchtsort für viele unter Daoud Exilierte oder durch die sowjetische Invasion Vertriebene.
Diese Parteien sponserten die Gruppen der Mudschaheddin mit Geld und Waffen, die ihnen die USA und ihre Verbündeten wie Saudi Arabien in rauen Mengen zur Verfügung stellten. Gelder und Waffen wurden auch an die Inter-Service Intelligence, die pakistanische Version der CIA, geleitet. Unter den Begünstigten befand sich ein saudischer Staatsbürger, Osama bin Laden, der den Auftrag erhielt, ein Netzwerk von Arabern für den Dschihad zu rekrutieren, das die Basis für die später entstehende Al Qaida bildete.
Spätestens 1987 musste die Sowjetunion erkennen, dass sie in einem ungewinnbaren Krieg steckte. Die Militärhilfe für die Mudschaheddin belief sich mittlerweile auf 300 Millionen US-Dollar. Diese umfasste »die effektiven Boden-Luft-Raketen Stinger, 120mm Minenwerfer und Waffensysteme gegen Minenfelder«, und weitere 60 Millionen US-Dollar für nicht tödliche Militärausrüstung.
Der Afghanische Islamismus
Der Islam, so wie er in Afghanistan auf dem Land praktiziert wurde, war eng verwoben mit prä-islamischen religiösen Anschauungen und mystischen Praktiken des Sufismus wie dem Anbeten von lokalen Heiligen in Schreinen. Religion spielte eine wichtige Rolle im Dorfleben, die Moschee war Sammelpunkt für Dorfversammlungen und Gebete strukturierten den Tagesablauf. Praktiken wie die Verhüllung von Frauen waren, in unterschiedlichem Ausmaß in unterschiedlichen Gebieten, Gang und Gäbe schon lange vor dem Aufstieg der Taliban. Die Dörfer hatten ihren Mullah, der in der Regel arm war und von den Dorfbewohnern gewählt wurde. Oft war er die einzige gebildete Person im ganzen Dorf.
Der Islamismus, der primär eine politische Strömung ist, unterscheidet sich radikal von dieser traditionellen islamischen Praxis. In seinem bahnbrechenden Werk »Der Prophet und das Proletariat« argumentiert Chris Harman, dass islamistische Strömungen nicht eine Ablehnung der modernen Gesellschaft darstellen, sondern vielmehr den widersprüchlichen Versuch, die traumatischen Auswirkungen der kapitalistischen Entwicklung und des Imperialismus zu bewältigen.
Der Islamismus kann Anklang finden unter den alten ausbeutenden Klassen, die durch die kapitalistische Entwicklung bedroht sind, wie Grundbesitzer oder Handelsleute, oder unter neu entstehenden Netzwerken islamischer Kapitalisten. Ihr Kader rekrutiert sich allerdings vorwiegend aus Schichten gebildeter Fachleute, die die Modernisierung schuf. Wie Olivier Roy es ausdrückt, ist diese Gruppe auf der Suche nach »einer modernen, auf dem Islam gründenden politischen Ideologie, die in ihren Augen den einzigen Weg bietet, sich in der modernen Welt zurechtzufinden, und das beste Mittel, um den ausländischen Imperialismus zu konfrontieren«.
Islamisten kann es auch gelingen, Schichten der verarmten Landbevölkerung zu gewinnen, die in ihrer Not in die Städte ziehen und dabei ihre alte Lebensweise verlieren, »ohne sich eine sichere materielle Existenz aufbauen oder eine stabile Lebensführung finden zu können«. Die Unterdrückung, mit der sie sich konfrontiert sehen, kann sich in islamischer Sprache ausdrücken, wobei Moscheen und religiöse Netzwerke soziale Unterstützung und Sicherheit in einer sich schnell verändernden Welt bieten.
Die Politik des Islamismus spiegelt die widersprüchliche Natur ihres Kaders wider: Er ist ein Kind des Fortschritts und zugleich Rebell gegen dessen Ungerechtigkeiten. Er vertritt eine utopische Vision einer nach »authentischen« islamischen Grundsätzen erneuerten Gesellschaft und lehnt sich auf gegen die eingesessenen Eliten und Herrscher. Daher können Islamisten in Konflikt mit ihrem eigenen Staat und dem Imperialismus geraten, sie können aber genauso gut Frauen angreifen, jene, die ihre religiösen Ansichten ablehnen, oder andere Minderheiten. Es gibt auch strategische Widersprüche: »Der Islamismus pendelt hin und her zwischen Rebellentum, um eine komplette Wiederauferstehung der islamischen Gemeinschaft zu vollbringen, und der Bereitschaft zu Kompromissen, um islamische ›Reformen‹ durchzusetzen.« Er kann sich radikalisieren, zu terroristischen Mitteln greifen, oder sich kompromissbereit zeigen.
Der Islamismus entstand als bedeutende Kraft in Afghanistan zeitgleich mit der PDPA und zwar aus der gleichen sozialen Basis. Die Islamisten waren »fast alle ein Produkt des staatlichen Bildungssystems« und gerieten an den Universitäten und in den Schulen oft mit den Kommunisten aneinander. Viele der frühen islamistischen Anführer hatten in Kairo studiert, wo sie in Berührung mit der Muslimbruderschaft kamen, einer bedeutenden islamistischen Kraft in der arabischen Welt.
In der Konfrontation mit der Sowjetunion banden sich die Mudschaheddin in unterschiedlichem Maße an die Ideen der islamistischen Parteien in Peschawar. Lokale Anführer sicherten der einen oder anderen Partei ihre Unterstützung zu, um Waffen und Gelder zu erhalten, wechselten aber oft ihre Loyalitäten. Die Parteien in Peschawar wurden weitgehend als korrupt angesehen, sie verwendeten einen Großteil der Auslandshilfe für eigene Zwecke und wetteiferten ständig um die Macht. Als sich die Sowjetunion im Jahr 1989 zurückzog, fühlten sich die Mudschaheddin nicht mehr ihren islamistischen Sponsoren verpflichtet, die schnell in brutale interne Machtkämpfe stürzten. Afghanistan stürzte in den Bürgerkrieg, wobei die Kriegsherren eine ideologische Basis in der ethnischen Zugehörigkeit ihrer jeweiligen Anhängerschaft suchten.
Obwohl die Paschtunen, die etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die vorherrschende Bevölkerungsgruppe in der früheren Geschichte Afghanistans bildeten, war die ethnische Zugehörigkeit zuvor keine bedeutende Triebkraft gewesen. Aber nun wurde sie angesichts des Vakuums, das das Versagen der verschiedenen politischen Strömungen hinterließ, zu einem entscheidenden Faktor.
General Abdul Raschid Dostum, ein ehemaliger kommunistischer Kommandant einer usbekischen Miliz, stachelte anti-paschtunische Ressentiments an. Er verbündete sich mit Ahmed Schah Massoud, einem Islamisten, der das Tadschik-Pandschir-Tal nördlich von Kabul kontrollierte. Armeeoffiziere aus einer der kommunistischen Fraktionen, den Khalkis, »erfanden sich neu als paschtunische Chauvinisten«, und viele unter ihnen vereinten sich mit Gulbuddin Hekmatyar, einem Islamisten, dessen Artillerie bald Kabul zerstörte.
Aus diesem Chaos gingen die Taliban hervor. Sie wuchsen in und um Kandahar, Afghanistans zweitgrößter Stadt, und hatten ihre Basis in der paschtunischen Bevölkerung. Sie übernahmen eine neue Version des Islamismus, wandten sich gegen die Korruption sowohl der Kriegsherren als auch der islamistischen Parteien. Im Gegensatz zu früheren Islamisten genossen sie keine Universitätsbildung. Sie waren Mullahs, die lediglich ein paar Jahre in den oftmals mit saudischer Unterstützung in Afghanistan und Peschawar errichteten Madresen verbracht hatten.
Die Ideologie der Taliban richtete sich nicht nach schon vorhandenen islamistischen Strömungen wie der Muslimbruderschaft Ägyptens. Vielmehr »stellte sie eine Reaktion gegen alle intellektuellen, mit ›Modernisierung‹ in Verbindung gebrachten Strömungen dar, ob islamistisch oder säkular … Sie waren das pathologische Produkt des Schadens, den die wettstreitenden Großmächte dem Land zugefügt hatten.«
Sie bezogen sich auch auf die Tradition der Deobandi, die sich im indischen Subkontinent im 19. Jahrhundert ausbreitete. Die Deobandi wollten den Islam von solchen Praktiken wie dem Beten vor den Grabmälern von Heiligen bereinigen, sie standen aber auch unter dem Einfluss des damaligen antikolonialen Kampfs. Mit der saudischen Unterstützung für ihre Madresen näherte sich ihre Ideologie der von Riad vertretenen puristischen Version des Islam an.
Die Taliban wurden von Pakistan unterstützt, das die Hoffnung hegte, eine Handelsroute nach Zentralasien und eine Öl- und Gaspipeline von Turkmenistan zu errichten. Für eine kurze Zeit genossen sie auch die Unterstützung durch die USA, in erster Linie auf Geheiß von Unocol, einem Unternehmen mit Sitz in Kalifornien, das am Gasprojekt beteiligt war.
Die Taliban erstürmten den grenznahen Militärstützpunkt Spin Buldak im Oktober 1994. Bereits einen Monat später nahmen sie Kandahar ein, und im September 1996 Kabul. Ihre Gegnerschaft gegen Korruption und ihr Versprechen, dem Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten, hatten ihnen Unterstützung auf dem Land beschert, und als sie Gebiete eroberten, schlugen sich lokale Kommandeure auf ihre Seite. Ihre Herrschaft war »ein brutaler Versuch, Ordnung in einer von Brutalität zerrissenen Gesellschaft wiederherzustellen« durch Mobilisierung um »die in den Madresen gelehrte Botschaft, so wie sie von jenen interpretiert wurde, die nur wenig von der Welt außerhalb ihrem isolierten und verarmten Dorf, dem Flüchtlingslager und der Armee wussten«.
Die versprochene Stabilität währte nicht lange. Auf die Angriffe von 9/11 folgte massive Vergeltung in Gestalt von schweren Bombardierungen aus der Luft, während britische und US-amerikanische Spezialkräfte Millionen Dollar an Bestechungsgeldern verteilten, wobei General Dostums Nördliche Allianz den Bodenkampf führte.
Das Wiederaufleben der Taliban
Die Invasion stieß anfänglich auf wenig Widerstand. Die Taliban wurden, solange der Bürgerkrieg tobte, zwar als das geringste Übel betrachtet – zumindest in den paschtunischen Gebieten. Das bedeutete aber nicht, dass die Menschen bereit gewesen wären, für die Verteidigung des Regimes zu sterben. Die Taliban selbst verloren in den frühen Monaten der Invasion etwa 20 Prozent ihrer Kämpfer. Und nach nicht enden wollender Brutalität und Krieg hofften wohl manche, dass die USA ihnen zumindest Frieden und Linderung der Armut bringen würden.
Solche Hoffnungen waren ungerechtfertigt. Auf die Besatzung folgten Überfälle durch US-amerikanische und britische Truppen und ihre afghanischen Verbündeten. Die Unterdrückung zwang die Menschen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Ein Augenzeuge berichtet:
»Ende 2002 führte die afghanische Polizei eine Razzia in unserer Moschee durch. Sie packten meinen Vater, schleppten ihn vor die Dorfbewohner und beschuldigten ihn, für die Taliban zu arbeiten … Sie beleidigten ihn persönlich und warfen ihn dann ins Gefängnis. Er war 70. Die Gläubigen unserer Moscheegemeinde gingen zur Polizei und beschwerten sich … Ich war nur ein Kind, doch die Polizei verhaftete auch mich, zweimal … Sie verhörten mich, stellten dumme Fragen wie: »Wo sind die Taliban?« oder »Wo sind die Waffen versteckt?««
Häufige Bombardierungen aus der Luft durch Regierungskräfte töteten unterschiedslos Zivilisten wie Kämpfer. Ein afghanischer Bauer drückte es so aus: »Die Menschen hatten gehofft, dass die USA sie von der Gewalt der Taliban befreien würden, aber die USA tun nichts anderes, als uns anzugreifen … Sie sollten spezifische Zentren der Taliban treffen, nicht Zivilisten.« Die wiederholte Zerstörung der Mohnernte, auf die viele Bauern nun angewiesen waren, führte auch zu wütenden Reaktionen.
Hinzu kam der Charakter der von Hamid Karzai und seinem Nachfolger Aschraf Ghani angeführten Regierung – letzterer ehemaliger Wirtschaftsberater der Weltbank, der die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 mit lediglich 4,9 Prozent der Stimmen der erwachsenen Bevölkerung gewann. Unter ihrer Herrschaft sind Gelder tatsächlich reichlich nach Afghanistan geflossen. Nach einer Schätzung kosteten der Krieg und seine Folgen die USA 2,3 Billionen Dollar – das entspricht 575 Jahren des Bruttosozialprodukts von vor der Invasion. Dieses Geld hat allerdings die meisten Afghanen kaum erreicht:
»Es floss in die Taschen der Beamten der neuen Regierung … Es ging an die Menschen, die mit den Amerikanern und den Besatzungstruppen anderer Nationen zusammenarbeiteten. Es ging an die Warlords und ihre Gefolgschaft … Es ging an jene Menschen, die das Glück hatten, eigene, wohl gesicherte Luxusbehausungen in Kabul zu besitzen, die sie an die ausländischen Angestellten vermieten konnten. Es ging an die Männer und Frauen, die für vom Ausland finanzierte NGOs arbeiteten. Und alle diese Gruppen überlappten sich natürlich.«
Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Taliban lebten 90 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 2 US-Dollar am Tag. Die Auslandshilfe machte 43 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.
Die Korruption höhlte auch die afghanischen Sicherheitskräfte aus, die immer öfter Deals mit den Taliban schlossen, »sie vor anstehenden Offensiven warnten, ihnen Waffen und Ausrüstung verkauften und sich selbst weigerten zu kämpfen«. Eine enorme Anzahl der in die Armee Berufenen waren »Geistersoldaten« – entweder schon tot, nicht mehr im Dienst oder ganz einfach erfunden –, deren Sold von korrupten Offizieren kassiert wurde. Im Jahr 2016 gehörten 40 Prozent der afghanischen Kräfte in der Provinz Helmand zu dieser Kategorie.
Die Brutalität und die Korruption bildeten den Hintergrund für die Neugruppierung der Taliban. Bereits im Jahr 2005 »wandten sich die Taliban an Mullahs, Dorf- und Stammesälteste, um sie zur Teilnahme am Dschihad aufzufordern«. Weitere Gruppen stellten sich unter den Schirm der Taliban und vergrößerten somit ihr Netzwerk. Im Jahr 2015 hatten sie mittlerweile 200.000 Mann unter ihrem Befehl und kontrollierten weite Teile des Landes.
Wie frühere Besatzer beschlossen die USA, ihre Verluste zu begrenzen. 2013 richteten die Taliban eine Auslandsvertretung in Doha, Katar, ein, um formelle Verhandlungen mit ihren Gegnern aufzunehmen, und im Februar 2020 stimmte die Trump-Regierung einem Deal zu, das den Rückzug der US-Truppen innerhalb von 14 Monaten vorsah. Im Gegenzug verpflichteten sich die Taliban dazu, terroristische Operationen gegen die USA von afghanischem Boden aus zu unterbinden. Biden hielt sich an diesen Plan, obwohl er den Abzug auf Ende August nach hinten verschob. Als dieses Datum näher rückte, intensivierten die Taliban ihre Angriffe.
Etwa 50 der 370 Distrikte des Landes fielen unter die Kontrolle der Taliban zwischen Mai und Juni, und ihre Kämpfer waren bereit, die Provinzhauptstädte sofort nach dem Abzug der US-Truppen einzunehmen. Ghani floh am 15. August aus der Hauptstadt. Ohne den Schutz der USA und ohne jegliche reale Massenbasis in der Bevölkerung, fiel Ghanis Regierung und die Taliban wurden an die Spitze der Macht getragen.
Die Taliban haben sich in den letzten 20 Jahren weiterentwickelt. Zum Beispiel konnten sie Fuß in den tadschikischen und usbekischen Gebieten fassen, indem sie ihre paschtunischen Wurzeln in den Hintergrund rückten. Sie stellen sich auch als Pragmatiker dar, wovon ihre Bereitschaft, mit den USA zu verhandeln, zeugt. Das ist wichtig, wenn sie weiterhin Auslandshilfen erhalten wollen, von denen der Staat nach wie vor abhängt. Letztendlich könnte ein stabilisiertes Afghanistan sogar Großkonzerne mit der Aussicht anlocken, Handelsrouten und Pipelines zu öffnen und einige der auf 1 Billion US-Dollar geschätzten Bodenschätze auszubeuten.
Das ist es vielleicht, was China dazu bewog, als einer der ersten Staaten Kommunikationskanäle mit den Taliban zu eröffnen, wobei es allerdings die versprochenen Gewinne gegen seine Angst vor einer Radikalisierung der eigenen muslimischen Minderheit, vor allem in der Xinjiang-Region, abwägen wird.
Der wachsende Pragmatismus der Taliban wurde allerdings von einem Abfall einiger Elemente aus ihren Reihen begleitet, von denen sich einige mit dem Islamischen Staat der Provinz Khorasan (ISKP) verbündet haben. Im Gegensatz zu den Taliban tritt der ISKP für einen pro-aktiven, globalen Dschihad ein und steht ideologisch dem Salafismus des ISIS viel näher. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Spannungen entwickeln werden.
Die Linke und Afghanistan
Wie sollte sich die Linke zu den Entwicklungen in Afghanistan positionieren? Hier erweist sich Harmans Herangehen an den Islamismus nach wie vor als unschätzbare Quelle. In Gesellschaften, die durch ihre Eingliederung in den globalen Kapitalismus pulverisiert, Opfer wiederholter imperialistischer Interventionen wurden und mit einer Tradition der Mobilisierung gegen Invasionen, in der der Islam einen gemeinsamen Ausdruck für die Hoffnungen der Menschen bietet, ist nicht überraschend, dass der Widerstand durch die eine oder andere Form des Islamismus geprägt ist.
Es mag uns lieber sein, wenn der Widerstand sich unter dem Banner des Sozialismus formiert hätte. Aber das Versagen der PDPA und der Horror der sowjetischen Invasion haben in den Augen vieler Afghanen den Sozialismus – leider nicht nur seine stalinistische Karikatur – und auch den Feminismus diskreditiert. Unter diesen widrigen Umständen können sich die Unterdrückten zu islamistischen Organisationen mit all ihren Widersprüchen hingezogen fühlen. Die Taliban bleiben eine Bewegung, die gegen Teile der Unterdrückten vorgehen kann. Sie sind zugleich eine Bewegung, deren Mitgliedschaft zum großen Teil aus den Söhnen verarmter Bauern besteht und die ganz objektiv mit dem Imperialismus in Konflikt geraten sind. Die Schwächung des US-Imperialismus zu begrüßen, ohne die Taten der Taliban zu beschönigen, stellt für Sozialisten absolut keinen Widerspruch dar.
Der Imperialismus ist eine der Hauptursachen für die Schrecken, denen das afghanische Volk ausgesetzt wurde, und er kann nicht zu seiner Befreiung beitragen. Die Aufgabe der Linken in Ländern wie Großbritannien ist es daher, jegliche Intervention unserer eigenen herrschenden Klasse und ihrer Verbündeten zu bekämpfen, um so Raum für die Entstehung progressiver Kräfte innerhalb der afghanischen Gesellschaft zu schaffen. Das schließt auch den Missbrauch des Feminismus, um Interventionen zu rechtfertigen, ein. Wie Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale argumentieren:
»Stell dir vor, die USA wären von einer Fremdmacht okkupiert, die zwischen 12 und 24 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen getötet, in jeder Stadt Menschen gefoltert und 100 Millionen Amerikaner ins Exil getrieben hätte. Stell dir vor, beinahe alle Feministen in den USA unterstützten die Invasoren … Was, denkst du, würden die meisten Amerikaner von einer zweiten Invasion durch eine andere Fremdmacht oder von Feminismus halten? Was meinst du, was die meisten afghanischen Frauen von einer weiteren Invasion halten, diesmal durch die Amerikaner, im Namen der Rettung afghanischer Frauen?«
Da ist jedenfalls etwas Abstoßendes an der Haltung einer US-Regierung, die es duldet, dass einer ihrer größten Bundesstaaten, Texas, Millionen Frauen wegen Abtreibung kriminalisiert und Menschen anstachelt, jene, die ihre Fruchtbarkeit kontrollieren wollen, vor Gericht zu zerren, aber für sich beansprucht, für die Befreiung von Frauen einzutreten.
Das bedeutet nicht, dass die Linke gleichgültig gegenüber dem Schicksal der afghanischen Frauen sein muss. Eine Art, Solidarität zu zeigen und die Verlogenheit unserer Herrscher anzuprangern, besteht in der Forderung, dass unsere Grenzen für afghanische Flüchtlinge geöffnet werden – was Gruppen wie Stand Up To Racism in Großbritannien vertreten.
Die Zukunft des Imperialismus
Es ist ebenfalls angebracht, die Frage aufzuwerfen, was diese Ereignisse für den US-Imperialismus bedeuten. Ein Rückzug aus den unlösbaren Konflikten in Afghanistan und Irak gehörte zu den Zielen aller drei US-Präsidenten seit Bush, Demokraten wie Republikaner, aber auch der mit vielen Ressourcen betriebene verstärkte Fokus auf China. Diese Bestrebungen haben unter Biden neuen Auftrieb bekommen. Siehe beispielsweise den Aukus-Vertrag zwischen Großbritannien, den USA und Australien im September 2021. Aukus stellt Australien die Technologie zum Bau nuklear-betriebener U-Boote zur Verfügung, die im Südchinesischen Meer patrouillieren können – als Antwort auf Chinas wachsende Seemacht. Ein Leitartikel der Financial Times fasste die Lage so zusammen:
»Es ist mehr als nur ein Waffendeal. Das Trio stellte es als Verteidigungspakt dar … das sofort von China verurteilt wurde … Das Timing ist sicherlich günstig für Präsident Joe Biden angesichts des Debakels seines Rückzugs aus Afghanistan. Es signalisiert Bidens Selbstverpflichtung zu regionalen Bündnissen als Gegengewicht zu China … das in Bidens Augen schließlich die größte geopolitische Drohung für US-Interessen darstellt.«
Die Entscheidung fand im Vorfeld eines Gipfeltreffens der »Quad«, dem aus den USA, Indien, Japan und Australien bestehenden Bündnis, das Biden in seinen Bemühungen, China entgegenzutreten, stärkt. Sozialisten sollten solche Schritte verurteilen, die einen neuen kalten Krieg zwischen China und den USA immer wahrscheinlicher machen.
Der Aukus-Deal riskiert nicht nur Ärger mit dem Hauptrivalen der USA, er hat auch Frankreichs Präsidenten Macron aufgebracht: Er bedeutet nicht nur das Ende eines Multimilliarden-Deals, im Rahmen dessen Australien den Kauf von 12 französischen Diesel-U-Booten plante, er stellt auch eine Beleidigung für EU-Führer dar, die sich in der Konfrontation mit China zögerlicher zeigen als die USA. Es wird das Gerede in Europa von einer unabhängigen EU-Militärmacht und größerer »strategischer Autonomie« befeuern. In Wirklichkeit sind sich die europäischen Mächte ihrer fortgesetzten Abhängigkeit von der amerikanischen Feuerkraft im Rahmen eines möglichen entscheidenden Konflikts sehr wohl bewusst, so dass das wahrscheinliche Ergebnis fortgesetzte Zusammenarbeit begleitet von zunehmenden Reibereien sein wird.
Mit den jüngsten Ereignissen in Afghanistan schließt sich ein Kapitel des Imperialismus, das mit 9/11 seinen Anfang nahm. Das Folgekapitel wird nicht weniger gefährlich sein, wobei der Konflikt zwischen den USA und China, die zentrale Bruchlinie im imperialistischen System, sein Hauptthema sein wird.
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Joseph Choonara ist der Herausgeber von »International Socialism«. Er ist der Autor von »Kapitalismus entschlüsseln: eine Anleitung zur marxistischen politischen Ökonomie« und »Das Kapital lesen«, beides im Edition Aurora Verlag erschienen.
Ergänzung der Redaktion:
Seitdem dieser Artikel im Oktober 2021 erschienen ist, hat sich die Lage in Afghanistan verschlechtert. Westliche Sanktionen, wie das Enthalten der sieben Milliarden Dollar der afghanischen Zentralbank durch die USA, müssen im Zusammenhang mit dem Verhungern von mehr als 13.000 afghanischen Babies seit Beginn des Jahres oder der Tatsache, dass 19.7 Millionen Menschen vor Ort von akutem Hunger betroffen sind, gesehen werden.
Aus dem Englischen von David Paenson und Angelo Kumnenis.
Zuerst erschienen in International Socialism 172 (Oktober 2021)
Foto: swiss.frog
Zum Vermächtnis der Bundeswehr in Afghanistan siehe: »Afghanistan: Kundus und die Lügen der Bundesregierung«
Zur Rückkehr der Taliban siehe: »Rückkehr der Taliban: Das Ende der Besatzung«
Zum Interview mit dem Journalisten Emran Feroz siehe: »Der Krieg der Nato hat die Taliban nur gestärkt«
Schlagwörter: Afghanistan, Imperialismus, NATO