Während immer weniger Geflüchtete aus Seenot gerettet werden und die Zahl der Toten steigt, wird die Arbeit von zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter massiv eingeschränkt. Wir sprachen mit Michel Brandt über die Skrupellosigkeit der EU, die Rolle der Bundesregierung und warum Linke Abschiebungen immer ablehnen müssen
Vor mehreren Monaten hast du das Seenotrettungschiff »Lifeline« besucht. Seitdem hat die Kriminalisierung der Seenotrettung durch die Regierenden in Europa massiv zugenommen. Mittlerweile ist kein Schiff privater Seenotretter mehr auf dem zentralen Mittelmeer unterwegs. Was bedeutet dies für Menschen, die über das Mittelmeer flüchten?
Die EU verurteilt durch ihre Abschottungspolitik und die Kriminalisierung der Seenotrettung tausende schutzsuchende Menschen zum Tode. Seitdem die zivilen Retterinnen und Retter an ihrer Arbeit gehindert werden, hat sich für Geflüchtete das Risiko zu Ertrinken dramatisch erhöht.
Inwiefern?
Die letzten Jahre haben gezeigt: Weniger Rettungsschiffe bedeuten nicht weniger Flüchtende, sondern nur mehr Tote. Denn die Behinderung der Rettungsmissionen ändert nichts an den Fluchtursachen. Trotz der Abschottungspolitik der EU fliehen Menschen weiterhin vor Kriegen, Armut, Hunger, Ausbeutung, Umweltzerstörung und Klimawandel.
Von wie vielen Menschen reden wir?
Laut den Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) wagten bis Mitte September 2018 74 388 Schutzsuchende die Reise über das Mittelmeer. Die Wahrscheinlichkeit, die Überfahrt nicht zu überleben, ist dieses Jahr dreimal höher als im Jahr 2015. Bis Mitte September 2018 sind 1.719 Menschen ertrunken. Die tatsächliche Zahl der Toten liegt jedoch wahrscheinlich viel höher, da nicht alle Fälle beobachtet oder aufgezeichnet werden.
Warum das?
Die Kriminalisierung der Seenotrettung geht so weit, dass selbst die Beobachtungsflugzeuge der zivilen Retterinnen und Retter nicht mehr fliegen dürfen. So bleiben viele Tragödien unentdeckt.
Die EU und die Seenotrettung
Was muss passieren, um dem Sterben auf dem Mittelmeer ein Ende zu setzen?
Wir brauchen sichere Fluchtwege nach Europa. Das bedeutet weniger Tote auf dem Mittelmeer. Die Kriminalisierung und Behinderung der zivilen Seenotrettung muss ein Ende haben. Darüber hinaus muss es eine staatlich finanzierte Mission mit dem klaren Auftrag der Seenotrettung auf dem Mittelmeer geben.
Geht das denn so einfach?
Natürlich! Eine staatlich organisierte Seenotrettung ist sofort möglich. Die italienische Regierung leitete von 2013 bis 2014 die Operation »Mare Nostrum«. Laut der IOM wurden damals in nur einem Jahr rund 150.000 Menschen gerettet.
Eine staatlich organisierte Seenotrettung ist sofort möglich
Warum müssen überhaupt zivile Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch oder Mission Lifeline die Aufgaben der EU übernehmen?
Die zivile Seenotrettung ist nötig, weil die Bundesregierung und die anderen EU- Mitgliedsstaaten sich weigern, eine aktive Seenotrettung durchzuführen. Nachdem sie die »Balkanroute« durch Mauern und Stacheldraht für Geflüchtete weitgehend unpassierbar gemacht haben, ist die Agenda der EU heute: »Schließung der Mittelmeerroute«. Dabei haben die europäischen Politikerinnen und Politiker keine Skrupel, menschenverachtende und undemokratische Maßnahmen zu beschließen.
Was meinst du damit?
Zum Beispiel die Zusammenarbeit der EU mit der sogenannten libyschen Küstenwache. An Wissen um die eklatanten Menschenrechtsverletzungen gegen Geflüchtete in Libyen und die allgemeine Gewaltsituation im Land mangelt es nicht. In Libyen werden Flüchtlinge vergewaltigt, misshandelt, gefoltert und hingerichtet. Trotzdem setzt die EU alles daran libysche Milizen zu unterstützen und aufzurüsten.
Kann die Ausbildung der sogenannten libysche Küstenwache nicht ein Weg sein, diese Situation zu ändern?
Nein. Die sogenannten libyschen Küstenwächter sind Milizen und keine Seenotretter. Ihr Ziel ist es, fliehende Menschen auf dem Meer abzufangen, zurückzuschleppen und einzusperren. Die EU nutzt diese libyschen Milizen, um für die EU den schmutzigen Job als Türsteher Europas machen. Das ist unglaublich zynisch und menschenverachtend.
Aber die EU hat doch eine eigene Rettungsmission Names EUNAVFOR MED?
Die Mission EUNAVFOR MED ist keine Rettungsmission, sondern ein Militäreinsatz. Ziel dieses Einsatzes ist die militärische Absicherung und Überwachung der Grenze. Beteiligt sind dementsprechend nur Kriegsschiffe. Diese Schiffe halten sich bewusst von Seenotrettungsgebieten fern. Im Rahmen des Einsatzes findet auch die Aufrüstung und Ausbildung der sogenannten libysche Küstenwache statt. Diese Mission zementiert die EU-Abschottungspolitik im Mittelmeer und muss sofort beendet werden.
Die Bundesregierung behauptet im Rahmen dieser Operation seien mehr als 49.000 Menschen aus Seenot gerettet worden. Die Bundeswehr hätte seit 2015 22.500 Menschen aus Seenot gerettet.
Das Seerecht verpflichtet grundsätzlich jedes Schiff zur Seenotrettung. Deswegen findet diese natürlich auch durch staatliche Akteure statt, die das eigentlich vermeiden wollen – also durch Militärschiffe, Frontex oder die italienische Küstenwache.
Aber die Rettung von Menschen in Seenot ist nicht das Operationsziel dieser Mission?
Richtig. Eine Erweiterung des Mandates zur Seenotrettung als weiteres Einsatzziel von EUNAVFOR MED lehnt Bundesregierung vehement ab. Im Übrigen: Die Bundeswehr hat als Teil dieser Mission – mit Ausnahme des Monats April – im Jahr 2018 noch keinen einzigen Menschen aus Seenot gerettet.
Die Bundeswehr und die EU-Mission
Im Ernst?
Ja, nur im April 2018 hat die Bundeswehr 403 Menschen aus Seenot gerettet. Wie Monitor berichtet, kostet der Einsatz der deutschen Schiffe trotzdem über 45 Millionen im Jahr. Aber nicht nur die Bundeswehr geht der Rettung von Menschen aus Seenot aus dem Weg. Nach Angaben der Bundesregierung wurden von Januar bis Juli 2018 83 Prozent weniger Menschen durch EUNAVFOR MED gerettet, als im Vergleichszeitraum 2017.
Dein Befund klingt deprimierend. Während die Militärmissionen also immer weniger Menschen retten und die Zahl der Toten steigt, wird die Arbeit von zivile Seenotretterinnen und Seenotretter massiv eingeschränkt. Warum macht die EU das?
Es ist anscheinend Teil der europäischen Abschottungspolitik, Menschen zur Abschreckung sterben zu lassen. Das sagt natürlich kein Politiker laut, aber das ist das Bild. Das was auf dem Mittelmeer passiert, ist ja nur die Spitze des Eisberges. Die Regierenden in Europa betreiben einen menschenverachtenden Überbietungswettbewerb, das Recht auf Asyl massiv einzuschränken.
Was meinst du damit genau?
In allen führenden EU-Staaten wird das Asylrecht massiv beschnitten. Die Bundesregierung macht hier als Ideengeber fleißig mit. Nicht erst seit dieser Bundesregierung ist ja eine deutliche Verschärfung der Asylpolitik zu beobachten. Andere EU-Länder ziehen jetzt mit weiteren repressiven Asylgesetzen nach.
Welche Folgen haben die Asylrechtsverschärfungen in Deutschland für Geflüchtete?
Die Gesetzesänderungen haben katastrophale Folgen für alle Lebensbereiche von schutzsuchenden Menschen: Für ihre Asylverfahren, ihre Integrationschancen, ihre soziale und medizinische Versorgung oder ihren Rechten gegenüber deutschen Behörden.
Kannst du uns ein Beispiel nennen?
Asylsuchende bekommen schlechtere Sozialleistungen als andere Hilfsbedürftige in Deutschland. Menschen müssen dauerhaft in Sammelunterkünften leben – oft im Mehrbettzimmer ohne jede Privatsphäre oder Rückzugsmöglichkeit. Anstatt Bargeld gibt es Lebensmittelpakete mit Mahlzeiten, die sie nicht kennen oder essen können. Anstelle regulärer Gesundheitsversorgung wird nur eine medizinische Notversorgung gewährt. Gerade die restriktive Handhabung der medizinischen Versorgung wird von Menschenrechtsorganisationen, der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer und vielen Juristinnen und Juristen als Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte kritisiert.
Warum?
Oft entscheiden medizinisch inkompetente Behördenmitarbeiterinnen oder sogar Wachschützer, ob ein Behandlungsanspruch für asylsuchende Menschen besteht. Die Betroffenen setzen sich dadurch tödlichen Risiken aus, wie der »Fall Leonardo« vor drei Jahren deutlich gemacht hat.
Was ist damals passiert?
Wachschutz- und Behördenmitarbeiter der staatlichen Asylaufnahmestelle in Zirndorf bei Nürnberg verweigerten über Stunden hinweg einem lebensbedrohlich kranken Kleinkind den Rettungswagen. Nach wochenlangem Koma überlebte das Kind mit schwersten Behinderungen.
Ein Einzelfall oder?
Leider nein. Zu Todesfällen aufgrund fehlender angemessener Krankenversorgung kommt es immer wieder. Nur berichtet darüber kaum jemand. Klar ist: Die Regelungen im Asylbewerberleistungsgesetz führen zu schwerer Diskriminierung der Betroffenen.
Die Regelungen im Asylbewerberleistungsgesetz führen zu schwerer Diskriminierung der Betroffenen
Was fordert die LINKE stattdessen?
DIE LINKE hat als einzige Partei gegen die Asylrechtsverschärfung gestimmt und fordert die Wiederherstellung eines umfassenden Asylrechts. Sie fordert, alle benachteiligenden Regelungen und Gesetze aufzuheben, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und Arbeitsverbote für Geflüchtete. Außerdem fordert DIE LINKE, die Unterbringung in Sammellagern sofort abzuschaffen, Abschiebungen zu beenden und ein Bleiberecht für alle. Die LINKE ist gegen Seehofers »Ankerzentren«, weil diese nichts anderes als Internierungslager sind.
In Thüringen, Brandenburg und Berlin ist die LINKE in Regierungsverantwortung. Wird dort auch eine »linke« Asylpolitik gemacht?
Das ist in einer Koalition ohne Mehrheit im Bundestag gar nicht möglich. Man kann aber nicht leugnen, dass es in den linksregierten Ländern Versuche gibt auch Verbesserungen durchzusetzen. Als linke Asylpolitik kann man das trotzdem nicht bezeichnen – auch hier wird zum Beispiel immer noch Abgeschoben. Ich bin der Meinung, dass zwangsweise und gewalttätige Abschiebungen gegen Paragraph 1 des Grundgesetzes verstoßen.
Und wenn Flüchtlinge eine Straftat begehen?
Selbst wenn Flüchtlinge oder hier lebende Ausländer straffällig geworden sind, löst eine Abschiebung gar nichts. Wir tun gut daran, das Strafrecht vom Aufenthaltsrecht zu trennen. Wer in Deutschland strafbare Handlungen durchführt, wird nach dem Strafrecht verurteilt. Kriminalität hängt nicht mit einer bestimmten Staatsangehörigkeit zusammen, sondern mit konkreten Lebenslagen. Der Kampf gegen Armut und Ausgrenzung, für gesellschaftliche Integration und für eine Lebensperspektive sind ein Schlüssel zur Vermeidung von Straffälligkeit – bei Menschen mit und ohne deutschen Pass.
Alexander Dobrindt hat die »aggressive Anti-Abschiebungsindustrie« angeprangert. Und auch in den Leitmedien der Republik herrscht beim Thema Abschiebung ein harscher Ton. Der Vorwurf: Es gibt insgesamt zu wenig davon. Stimmt das?
Das ist pure Stimmungsmache. Der staatliche Abschiebeapparat funktioniert. Viele Betroffene reisen aus Angst und nicht freiwillig aus, andere werden nach langen Jahren doch noch abgeschoben. Im ersten Halbjahr des Jahres 2018 wurden 12.000 Menschen aus Deutschland abgeschoben. Das sind mehr als 60 Menschen pro Tag.
Aber gibt es nicht mehr »Ausreisepflichtige« als Abschiebungen durchgesetzt werden?
Immer wieder geistern absurd hohe Zahlen zu angeblich ausreisepflichtigen, abgelehnten Asylbewerbern durch die Medien. Zum Stichtag 30. Juni 2018 waren 234.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Aber nur etwa 126.000 davon sind überhaupt abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Die Zahl der »unmittelbar Ausreisepflichtigen« – also Menschen, die nach aktueller Gesetzeslage gleich abgeschoben werden könnten, beläuft sich nach Angaben der Bundesregierung auf 61.000 Menschen. Etwa die Hälfte von ihnen sind abgelehnte Flüchtlinge. Drei Viertel der nur »Ausreisepflichtigen« haben jedoch eine »Duldung«. Das heißt: Sie wurden aufgefordert, das Land zu verlassen, können aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden.
Warum gibt es so viel Menschen mit dem Status einer »Duldungen«?
Das hat was mit der absurden Ablehnungspraxis des BAMF zu tun. 40 Prozent der beklagten BAMF-Bescheide werden von den Gerichten als falsche Ablehnungen kassiert. Das zeigt, dass vom BAMF viel zu viele Leute unrechtmäßig abgelehnt werden. Die Behörde ist schlicht inkompetent.
Es gibt also viele gute Gründe, warum Menschen nicht abgeschoben werden können.
Ja, absolut. Das kann gesundheitliche Gründe haben oder humanitäre Gründe. Das kann auch den Grund haben, dass die Identität der betreffenden Person nicht geklärt werden kann oder dass das Land, in das die Person abgeschoben werden soll, sich weigert, diese zurückzunehmen. In Deutschland werden Menschen teilweise Jahrzehnte lang nur geduldet. Für die Betroffenen ist das fatal.
Warum?
Obwohl Deutschland für viele zum Lebensmittelpunkt geworden ist, haben sie nicht die gleichen Rechte. Sie leben, lernen und arbeiten hier, bekommen Kinder, die hier aufwachsen. Aber sie müssen immer damit rechnen das ihre Duldung beendet wird. Das ist eine beängstigende und zermürbende Lage. Fast ein Drittel der geduldeten Menschen sind Minderjährige. Statt mehr Abschiebungen brauchen diese Menschen ein dauerhaftes Bleiberecht.
Interview: Hannes Maerker und Yaak Pabst
Foto: Th-K
Schlagwörter: Asylrecht, EU, Europa, Flüchtlinge, Inland, Migration, Seenotrettung