Philipp Hahn arbeitet als Einsatzleiter auf Booten, deren Besatzungen im Mittelmeer Geflüchtete retten. Warum diese Aktionen die Unterstützung der Bewegung auf der Straße brauchen, erklärt Philipp im marx21-Gespräch
marx21: Philipp, du bist seit 2015 Einsatzleiter auf Booten von Sea-Watch e.V., die im Mittelmeer Geflüchtete in Seenot retten. Wie kam es dazu?
Philipp Hahn: Ich hatte schon davor mit Booten gearbeitet und länger darüber nachgedacht, wie man Geflüchteten in Seenot helfen kann. Im Urlaub in Senegal habe ich mal gesehen, wie Menschen mit einem Holzboot zu den Kanarischen Inseln aufgebrochen sind.
Und als du von Sea-Watch gehört hast …
… habe ich mich dort gemeldet und gemerkt: Das sind tolle Leute mit super Ideen, aber von Booten haben die nicht ganz so viel Ahnung. Und da konnte ich helfen.
Wo warst du zur Seenotrettung im Einsatz?
Im Jahr 2015 vor Lesbos nahe der türkischen Küste, als dort bis zu 50 Geflüchteten-Boote pro Tag losfuhren. Später vor der libyschen Küste. Und nächsten Monat fliegen wir nach Valletta auf Malta, um von dort mit der »Sea Watch 3« abermals vor Libyen zu arbeiten.
Mehrere Rettungsschiffe werden gerade in Häfen festgehalten. Könnt ihr dann überhaupt ablegen?
Im Moment gibt uns der Hafen von Valletta keine Genehmigung auszulaufen. Aber wir hoffen, dass der öffentliche Druck die Regierung noch dazu zwingen wird.
Was hältst du davon?
Seenotrettung ist ein Kampf auf Leben und Tod. Doch die italienische Marine hat ihre entsprechende Mittelmeer-Operation »Mare Nostrum« 2014 ersatzlos gestrichen. Die Situation ist, als würden die EU-Regierungen an Land die staatlichen Rettungswagen stilllegen und jetzt den privat organisierten verbieten, zu Unfällen auf der Autobahn zu fahren.
Die EU-Regierungen rüsten zurzeit verstärkt die libysche Küstenwache aus …
… was eine Katastrophe ist.
Wieso?
Man darf sich das nicht wie am Sylter Strand vorstellen. Libyen wird von mehreren verfeindeten Regierungen und Milizen beherrscht, die sich teilweise mit Waffen bekämpfen. Das betrifft auch die sogenannte »Libyschen Küstenwache«.
Manche Besatzungen haben Uniformen, manche keine. Manche fahren mit Polizei- oder Militärboten und haben Pistolen oder Sturmgewehre. Wenn wir als Seenotretter auf diese Boote treffen, wissen wir nie was passiert.
Inwiefern?
Libysche Patrouillen-Boote haben schon mit Bordkanonen Rettungsschiffe beschossen und sogar Schiffe der italienischen und deutschen Marine. Manche Milizen steigen auf die Rettungsboote und einige Seenotretter haben schon in den Lauf einer Pistole geschaut.
Wie kommt das?
Diese Besatzungen retten keine Menschen in Seenot, sondern sind von der EU beauftragt, so viele Geflüchtete wie möglich an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Sie versuchen, die Geflüchteten von unseren Booten zu entführen, zurück nach Libyen zu bringen und weiß Gott was mit ihnen zu tun. Alles was ich je von der »Lybischen Küstenwache« gesehen oder gehört habe, ist extrem kritikwürdig.
Was hast du schon erlebt?
Manche »Küstenwachen«-Kommandeure haben per Funk mit uns gesprochen und uns unsere Arbeit machen lassen. Aber einmal hat ein Boot einen Kanonenwarnschuss abgegeben. Dann ist die Besatzung auf unser Boot gestiegen und hat verlangt, dass wir ihnen die Geflüchteten übergeben.
Was habt ihr gemacht?
Wir haben gesagt, dass ihre Handlung illegal ist und wir ihnen keinen einzigen Geflüchteten überlassen. Als ich dem Kommandanten die Kamera am Mast gezeigt und ihm erklärt habe, dass alles, was er jetzt tut, live im Internet gestreamt wird, sind sie wieder gefahren.
Wie gefährlich ist die Seenotrettung für euch Retter?
Zurzeit ist unsere Einschätzung, dass es sowohl für die »Libysche Küstenwache« als auch für die EU-Regierungen ein Nachteil wäre, wenn sie einen Seenotretter verletzen würden …
… was euch Sicherheit bringt.
Das hoffen wir, aber wer weiß. Das Leben afrikanischer Geflüchteter schert die Soldaten kein bisschen. Wir setzen also praktisch darauf, dass uns unsere weiße Hautfarbe und europäischen Reisepässe schützen.
Aber weiß das auch jeder einzelne Soldat und Milizionär, dem wir begegnen? Schließlich gibt es in Libyen weder funktionierende Parlamente noch Justiz oder Polizei, bei der man Straftaten melden könnte.
Das bedeutet, …
… wir machen jedem, der bei uns mitfährt, klar, dass wir auf bewaffnete Soldaten im Einsatz treffen und alles passieren kann, auch der Tod eines Retters.
Fahren die Geflüchteten aufs Meer, weil sie hoffen, gerettet zu werden? Würden sie es sein lassen, wenn es euch nicht gäbe?
Das war auch meine erste Frage als ich zu Sea-Watch kam. Ich habe mich gründlich damit beschäftigt und bin zum Ergebnis gekommen: Das ist völliger Unsinn.
Es gibt viele Ursachen für die Flucht, aber niemand hat jemals wissenschaftlich gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Rettungsboote und der Zahl der Geflüchteten auf dem Meer gibt. Auch kein rechter Wissenschaftler hat versucht, das zu belegen.
Bewiesen ist hingegen ein anderer Zusammenhang: Je mehr Rettungsboote auf dem Meer sind, desto mehr Geflüchtete überleben. Und je weniger es sind, desto mehr sterben.
Rettest du »nur« Menschen oder sollen sie deiner Ansicht nach auch in Europa bleiben dürfen?
Um zu begreifen, warum die Flucht nach Europa für diese Menschen notwendig ist, müssen wir verstehen, aus welcher Situation sie kommen.
Das heißt?
Die libysche Küste ist keine Raststätte, in der man kurz chillt, vor der letzten Etappe. Die Menschen erleiden hier Gewalt, Vergewaltigung, Folter und Mord. Viele gehen aufs Meer, weil sie in einer Hölle leben.
Es gibt keine Flucht aus Armut?
Natürlich. Aber wer an der libyschen Küste ist, hat meist eine lebensgefährliche Fahrt durch die Wüste hinter sich und lebt in einer Region, in der jeden Tag Menschen getötet werden. Wer von hier aufs Mittelmeer flieht, tut das auch, um sein Überleben zu sichern …
… wobei viele Boote doch auch lebensgefährlich sind.
Das sind keine Ausflugsschiffe. Wer einmal in die Hände von Schleppern geraten ist, wird bis zur Abfahrt bewacht, oft auch komplett ausgeraubt und geschlagen. In Boote, in die 60 Menschen passen, werden 150 reingetrieben.
Wie gelingt den Schleppern das?
Wer sich weigert, wird mit vorgehaltener Waffe aufs Boot gezwungen und diese Leute meinen es ernst. Wir haben schon Geflüchtete mit Schussverletzungen geborgen.
Was meinst du: Sollten Menschen unkontrolliert einwandern?
»Kontrolle« kann sehr viel Verschiedenes bedeuten. Wollen wir an der Grenze kontrollieren, ob jemand ein weltweit gesuchter Kriegsverbrecher ist? Meinetwegen. Aber unsere heutige »Kontrolle« von Einwandern führt praktisch dazu, dass wir sie in Italien und Griechenland unter menschenverachtenden Bedingungen in Lager zusammenpferchen, die für Gefängnisinsassen unzulässig wären.
Und das, obwohl 99,9 Prozent dieser Einwanderer keine Straftat begangen haben. Das hat mit Kriminalitätsbekämpfung nichts zu tun.
Wäre die Bekämpfung von Fluchtursachen nicht besser als die Flucht nach Europa zu unterstützen?
Ich fände es toll, ernstzunehmende Anstrengungen zu unternehmen, um dem Süden auf die Beine zu helfen. Aber genau das sehe ich nicht. Stattdessen betreiben die EU-Regierungen die Liberalisierung von Märkten, was Fluchtursachen verschärft, statt sie zu abzubauen.
Wieso das?
Wenn Konzerne das Recht erhalten, Land von Kleinbauern zu kaufen, müssen diese an einem anderen Ort leben, an dem es Jobs gibt. Und die besten Aussichten darauf gibt es für viele in Europa. »Fluchtursachen bekämpfen« darf kein Vorwand sein, um Menschen ihre überlebensnotwendige Flucht zu verbieten.
Woher weißt du, dass du keinen Terroristen nach Europa bringst?
Weiß ich nicht. So wenig, wie ein Chirurg weiß, ob der Mensch, den er gerade notoperiert, später jemanden ermordet.
Das Problem ist: Politik und Medien haben uns die letzten Jahre allen ins Gehirn geprügelt, dass man bei Europäern grundsätzlich von guten Menschen ausgehen muss, mit wenigen Ausnahmen und bei Afrikanern oder Muslimen grundsätzlich von schlechten, mit wenigen Ausnahmen. Nur unter dieser stillschweigenden Annahme kann man darüber diskutieren, ob man Menschenleben im Mittelmeer retten soll oder lieber nicht.
Du hast auch an der Demonstration am 7. Juli in Berlin für Seenotrettung teilgenommen. Warum ist Protest jetzt so wichtig?
Die Frage, ob wir Seenotrettung betreiben können, hängt zurzeit nicht nur von ausreichend Aktiven oder genug Spenden ab, sondern zuerst davon, ob die EU-Regierungen es erlauben. Im Moment werden wir von ihnen als Verbrecher dargestellt und in Häfen festgehalten. Deshalb brauchen wir mehr politischen Druck.
Mit welcher Begründung verbieten Regierungen die Seenotrettung?
Mit gar keiner. Alles was wir tun, ist zu hundert Prozent im Einklang mit dem Seerecht, dem internationalen Recht, mit was auch immer. Sie halten uns fest, weil sie die Macht dazu haben, und Geflüchtete lieber ertrinken lassen als sie aufzunehmen.
Und jetzt …?
… brauchen wir endlich eine große Bewegung auf der Straße.
Hältst du das für möglich?
Ja. Erinnern wir uns an die Zeit, als Deutsche zum Bahnhof gekommen sind, um den Geflüchteten Beifall zu klatschen, einfach nur weil sie da sind; als die Hilfsorganisationen darum baten, keine Lebensmittel und Kleidung mehr zu spenden, weil sie nicht wussten, wohin damit.
Diese Leute sind doch nicht alle zynisch-geifernde Menschenhasser geworden. Sie sind alle noch da. Man sieht sie nur nicht. Sie sind nicht organisiert und nicht in den Medien. Das müssen wir ändern.
Die Demonstration in Berlin war mit 12.000 Teilnehmern überraschend groß. Wie war das möglich?
Die Seenotretter sind gerade in Berlin gut vernetzt, untereinander und mit vielen linken und antirassistischen Organisationen. Ansonsten steckt da kein Geheimnis dahinter. Die große Demonstration zeigt vielmehr, wie viele Leute sich danach sehnen, aus dem rassistischen Rahmen der Diskussion auszubrechen und den Rechten was entgegenzusetzen. Machen wir was draus.
Aber was ist, wenn mir das Leben von Afrikanern egal ist?
Auch dann gibt es sehr egoistische Gründe, die Seenotrettung zu verteidigen.
Tatsächlich?
Ja. Selbst die AfD-Politiker wissen, dass Geflüchtete für Europa keine echte Gefahr sind. Es geht um etwas anderes: Die Diskussion um Seenotrettung ist nur ein Trick der Rechten, um die Menschen- und Grundrechte allgemein in Frage zu stellen.
Genauso wie es US-Präsident Trump nicht wirklich wichtig ist, dass Einwanderer von ihren kleinen Kindern getrennt werden. Vielmehr sollen wir alle lernen, dass es jetzt wieder grundsätzlich in Ordnung ist, die Menschenwürde anzutasten.
Warum?
Um noch weiter zu gehen. Wenn es richtig ist, eine Gruppe von Menschen im Meer sterben zu lassen, warum nicht auch eine andere an Land? Welches Leben ist schützenswert, welches nicht? Und warum sollen alle Menschen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren bekommen? Warum sollen die »Gutmenschen« Meinungs- und Medienfreiheit haben und ihre Sachen ins Internet stellen dürfen?
An all diese Fragen wagten sich die Rechten bisher nicht ran. Jetzt sehen sie ihre Chance gekommen. Sie schlagen die Seenotrettung und meinen die Demokratie.
Klingt beängstigend.
Das ist es. Aber es ist auch die Chance für die vielen Millionen demokratisch denkende Menschen, einen Strich zu ziehen und zu sagen: bis hierher und nicht weiter. Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Und wir werden nicht zusehen, wie ihr die Seenotrettung entsorgt und den Rest von Demokratie und Menschenrechten gleich mit.
Wünschst du dir, dass auch DIE LINKE mehr Protest mobilisiert?
Natürlich! Es geht um unser aller Grundrechte und deshalb müssen wir alle zusammen dafür einstehen. Wir versuchen, ein breites Bündnis zu organisieren, zum Beispiel auch mit evangelischer und katholischer Kirche. Gibt es an diesen Organisationen was zu kritisieren? Ganz sicher. Brauchen wir sie im Kampf um die Menschenrechte? Auch ganz sicher.
Manche Leute haben noch nicht verstanden, dass es gerade um was Grundsätzliches geht. Wenn wir jetzt noch glauben, handverlesene Bündnispartner auswählen zu können, droht uns allen ein ganz böses Erwachen.
Philipp, ich danke dir für das Gespräch.
Das Interview führte Hans Krause.
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