Während die Bundesregierung von europäischen Werten und Menschenrechten redet, werden Leichen an die Mauern von Europa gespült. Michel Brandt besuchte das Seenotrettungschiff »Lifeline«. Wir sprachen mit ihm über seine Eindrücke auf dem Schiff, die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der EU und der Bundesregierung und die Aufgaben der Linken
marx21: Auf dem »Flüchtlingsgipfel« der EU haben sich die beteiligten Staaten auf eine drastische Verschärfung der Asylpolitik geeinigt. Merkel begrüßte die Einigung und sprach von einer »Guten Botschaft«. Hat sie Recht?«
Michel Brandt: Das Gipfelergebnis ist eine komplette Absage an die Menschenrechte. Merkel und die anderen Regierungschefs sind vor den Rechtspopulisten in Europa vollständig eingeknickt. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäischen Menschenrechte sind den Regierenden keinen Cent wert. Sie haben sich entschieden, Menschen einzusperren, deren einziges Vergehen ist, dass sie fliehen mussten. Die EU setzt auf Abschottung und Geflüchteten-Abwehr und sieht zu, wie täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken oder zurück in libysche Folterlager gezerrt werden – unter dem Beifall der Rechten. Die Botschaft ist also eine klare Absage an die Menschlichkeit.
Du warst auf dem Boot, mit mehr als 230 Flüchtlingen an Bord, das mehrere Tage auf die Erlaubnis wartete, in einen EU-Hafen einlaufen zu können. Was waren deine Eindrücke auf dem Schiff?
Ich war in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni für etwa vier Stunden auf der »Lifeline«. Die Lage an Bord war menschenunwürdig. Die Leute lagen dicht an dicht an Deck. Viele waren erschöpft, seekrank, hatten Verletzungen. Sie waren traumatisiert und berichteten von Folter und Misshandlung in libyschen Lagern. Ihre größte Angst war ein Rücktransport nach Libyen. Sie hätten schon Stunden nach der Rettung an Land sein müssen, um eine angemessene Versorgung sicherzustellen. Europäische Staaten haben gezielt Menschenleben aufs Spiel gesetzt, um die Abschottung Europas voranzutreiben. Das ist das Ende der Menschlichkeit.
Video: Michel Brandts Rede zur Flüchtlingspolitik der EU im Bundestag
Das Boot wird betrieben von der NGO »Mission Lifeline«. Was ist das für eine Organisation?
»Mission Lifeline« ist eine Rettungsorganisation aus Dresden. Sie wurde von engagierten Leuten 2016 als Antwort auf das Versagen der Politik gegründet, um dem Ertrinken auf dem Mittelmeer etwas entgegen zu setzen. Ich bin vom Mut und Engagement der Crew sehr beeindruckt. Selbst nach Tagen auf hoher See auf dem überfüllten Schiff haben sie Souveränität und Professionalität vermittelt.
Italiens Innenminister, Matteo Salvini, sagte »Die italienischen Häfen sind für diejenigen, die Schleppern helfen, geschlossen und werden es auch bleiben«. Er meinte die gierigen NGOs stiften Unruhe. Hat er Recht?
Nein. Salvini ist ein Rechtspopulist, der ohne zu zögern Menschenleben riskiert, um seine fremdenfeindliche Politik zu betreiben. Italien hat gegen geltendes Recht verstoßen, indem das Land die Zuständigkeit bei der Rettungsaktion der »Lifeline« verweigerte. Die Menschen in Seenot befanden sich in der italienischen SAR-Zone und Italien hat die Verantwortung der sogenannten libyschen Küstenwache zugeschoben. Die Libyer haben aber keine geeignete Infrastruktur und unzureichend geschultes Personal, um eine Seenotrettung zu leiten oder durchzuführen. Wenn die Libyer bei einer Seenotrettung auftauchen, gibt es regelmäßig Tote. Es handelt sich um Milizen, die Geflüchtete zurück in libysche Folterlager schicken. Dass die Bundesregierung diese Milizen auch noch mitfinanziert und ausbildet, ist völliger Irrsinn.
Nach tagelanger Odyssee durfte das Rettungsschiff »Lifeline« nun Malta anlaufen, die 234 Flüchtlinge konnten an Land. Ist dieser Vorfall im Mittelmeer ein Einzelfall?
Nein. Im Gegenteil: Die Katastrophen sind mittlerweile grausamer Alltag auf dem Mittelmeer. Zwei Wochen zuvor geriet das Rettungsschiff »Aquarius« der Organisation »SOS Méditerranée« mit über 600 Geflüchteten an Bord in eine ähnliche Lage. Italien verweigerte die Zufahrt zu den Häfen. Nach einer einwöchigen beschwerlichen Fahrt erreichte das Schiff Spanien, wo man bereit war die Menschen aufzunehmen. Auch in den kommenden Wochen und Monaten werden Menschen über das Mittelmeer fliehen, ob das Bundesinnenminister Seehofer passt oder nicht. Irgendjemand muss ihnen auf dem Mittelmeer zur Hilfe kommen. Die Bundesregierung mit ihren NATO-Schiffen wird sich weiterhin weigern, Menschen zu retten. Anstatt die NGO’s als Kriminelle abzustempeln, wäre es die Aufgabe der Bundesregierung, die Retterinnen und Retter zu unterstützen. Ohne zivile Seenotretterinnen und Seenotretter werden weiter Menschen ertrinken.
Wie viele Flüchtlingen, die den Weg übers zentrale Mittelmeer wagen, sind bereits dabei getötet worden?
Das europäische Grenzregime ist die tödlichste Grenze der Welt. 6 von 100 Flüchtlingen, die den Weg übers zentrale Mittelmeer wagen, finden aktuell den Tod. Insgesamt sind seit dem Jahr 2000 über 35.000 Menschen an den europäischen Außengrenzen ums Leben gekommen. Das Mittelmeer bleibt für viele Migrantinnen und Migranten aber weiterhin der wichtigste Weg nach Europa – und wird für viele von ihnen zum Grab. Die Bundesregierung redet von europäischen Werten und Menschenrechten, während Leichen an die Mauern von Europa gespült werden. Das sind ein politischer Skandal und eine Bankrotterklärung dieser Bundesregierung.
Kann man nach diesen Vorfällen noch davon sprechen, dass es in der EU noch ein tatsächliches Recht auf Asyl gibt?
Von einem Recht auf Asyl, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht, hat sich diese Bundesregierung schon lange verabschiedet. Seehofer hat offen erklärt, gegen Asylrecht verstoßen zu wollen, um seine rechtspopulistischen Interessen durchzusetzen. Wie den meisten anderen EU-Staaten, geht es auch der Bundesregierung nur noch um die Abwehr von Geflüchteten und den Ausbau der Festung Europa.
Welche Organisationen der EU spielen bei der Bekämpfung der Flüchtlinge eine besondere Rolle?
Im Grunde haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten schon klar auf ein Konzept zur Geflüchteten-Abwehr verständigt. Dazu gehört der Versuch, den Staaten in Nordafrika die Taschen mit Geld vollzustopfen, damit sie auf ihrem Gebiet Sammellager einrichten. Dort werden die Menschen dann grundlos inhaftiert. Wenn es dort zu Folter und Vergewaltigung kommt, sieht Europa einfach weg. Bisher findet sich aber kein Staat, der bereit ist Massenknäste einzurichten – außer Libyen natürlich, aber das ist kein funktionierender Staat. Geht es nach der Bundesregierung, soll die Grenzschutzagentur »Frontex« massiv ausgebaut und zu einer Armee zur Abwehr von Geflüchteten hochgerüstet werden. Mit Menschenrechten und den sogenannten europäische Grundwerten hat das jedenfalls nichts zu tun.
Welche Verantwortung hat die Bundesregierung dabei?
Die Bundesregierung schweigt und sieht zu, wie Menschen ertrinken und zivile Seenotretterinnen und Seenotretter vor Gericht gezerrt werden. Im Fall der »Linfeline« hätte Seehofer das Leid der Menschen an Bord sofort beenden können, indem er der Aufnahme der hilfesuchenden Menschen veranlasst hätte. Mehrere Bundesländer hatten sich bereit erklärt, die Geflüchteten aufzunehmen. Bundesaußenminister Heiko Maas hat nicht eingegriffen als ein Schiff einer deutschen NGO’s festgesetzt wurde. Während die »Lifeline« vor Malta festsaß und die »Iuventa« der Kieler NGO »Jugend Rettet« immer noch in Italien beschlagnahmt ist, sind in den letzten Tagen mehrere hundert Menschen ertrunken. Das hätte die Bundesregierung verhindern können.
Welche Aufgaben lassen sich dadurch für die LINKE ableiten?
Wir brauchen eine noch stärkere Bewegung gegen die Festung Europa. Das kann vielfältig aussehen: Aktionen gegen Auffanglager gehören genauso dazu, wie die konsequente Unterstützung der zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter. Es gibt demnächst u.a. in Baden-Württemberg und Hamburg Großdemonstrationen und es gibt derzeit zahlreiche Solidaritätsaktionen für die zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter, an denen wir uns beteiligen müssen. Solche Initiativen muss auch DIE LINKE fördern und unterstützen.
Warum?
DIE LINKE hat als einzige Partei gegen die Asylrechtsverschärfung gestimmt und fordert die Wiederherstellung des Asylrechts. Sie fordert, alle benachteiligenden Regelungen und Gesetze aufzuheben, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und Arbeitsverbote für Geflüchtete. Außerdem fordert DIE LINKE, die Unterbringung in Sammellagern sofort abzuschaffen, Abschiebungen zu beenden und ein Bleiberecht für alle. Diese Forderungen müssen wir auf die Straße tragen. Wenn wir dem gesellschaftlichen Rechtsruck entgegenwirken wollen, brauchen wir Druck von unten. Wir müssen gemeinsam mit anderen sichtbar machen, dass viele Menschen in Deutschland gegen die Verschärfungen des Asylrechts sind und gegen den weiteren Ausbau der Festung Europa.
Die neue Bundesregierung ist in den Themen Flüchtlingspolitik, Abschiebung und Innere Sicherheit weit nach rechts gerückt. Wie sollte die LINKE darauf reagieren?
Wir müssen dagegenhalten und deutlich machen, dass wir jede Verschärfung des Asylrechts ablehnen. Wir sollten alle parlamentarischen Mittel einsetzen, um die Kriminalisierung der Seenotretterinnen und Seenotretter zu beenden. DIE LINKE verlangt die Einsetzung einer staatlichen zivilen Seenotrettung. Bis dahin muss die Bundesregierung die NGO’s bei ihrer Arbeit aktiv unterstützen. Wir brauchen legale und sichere Fluchtwege nach Europa, wir fordern die Bundesregierung auf, die Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache sofort zu beenden und wir müssen zum Prinzip der Menschlichkeit zurückkehren. Nicht Geflüchtete oder offene Grenzen sind das Problem, sondern dass Milliarden für Bankenrettungen ausgegeben wurden und der Reichtum ungleich verteilt ist. Die LINKE darf nicht zulassen, dass Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht werden – wie es AfD, Pegida und Konservative es tun. Das ist ein Ablenkungsmanöver.
Das Interview führten Hannes Maerker und Yaak Pabst
Foto: campact
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