Terror, Islam und die Emanzipation der Frau: In der Debatte um das »Burkaverbot« verbinden sich alle Aspekte eines absichtlich heraufbeschworenen Kulturkampfs, der letztlich nur den Rassisten nützt. Von Martin Haller
Dass es bei der Debatte um das »Burkaverbot « nicht um die Burka geht, dürfte mittlerweile allen klar sein. Selbst die Innenminister der Union haben inzwischen gemerkt, dass das, was sie verbieten wollen, in Deutschland überhaupt nicht existiert. Und auch konservative Kommentatoren scheinen sich endlich einmal die Mühe gemacht zu haben, den Begriff zu googlen und sprechen heute vom »Nikab-Verbot« oder einem »Verbot der Vollverschleierung«. Zwar ist es ehrenwert, dass sich die Damen und Herren neuerdings mit islamischer Frauenmode befassen, jedoch bleiben ihre Argumente die gleichen rassistischen Phrasen.
Merkel zeigt Gesicht
Nach anfänglichem Streit haben sich Bundesinnenminister Thomas de Maiziere und seine Länder-Amtskollegen von der Union in einer »Berliner Erklärung« nun auf ein Teilverbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit geeinigt. Gelten soll es in Schulen, Hochschulen, Kindertagesstätten, im gesamten Öffentlichen Dienst, bei Gericht, den Melde- und Standesämtern, bei Pass- und Verkehrskontrollen, Demonstrationen, im Straßenverkehr sowie in allen Situationen, in denen Menschen identifizierbar sein müssen. Die Ausnahmen vom Verbot halten sich also in Grenzen.
Auf dem Bundesparteitag der CDU in Essen hat sich nun auch Kanzlerin Merkel hinter die Forderung der Unionsminister gestellt: »Bei uns heißt es: Gesicht zeigen, deswegen ist die Vollverschleierung nicht angebracht, sie sollte verboten sein, wo immer dies rechtlich möglich ist.« Dieser Satz bescherte ihr den wohl größten Applaus des Tages. Aber welches Ziel verfolgt die Union mit ihrem Feldzug gegen ein Kleidungsstück, dem man in Deutschland so gut wie nie begegnet?
Gemeint sind alle muslimischen Frauen
Als Begründung für die Maßnahme führte de Maiziere an, die Vollverschleierung passe nicht zu »unserer weltoffenen Gesellschaft«. Aber was ist das für eine weltoffene Gesellschaft, die Frauen aus anderen Kulturen oder Religionen einen bestimmten Kleidungsstil aufzwingt? Eine demokratische, sichere und freie Gesellschaft sollte sich genau dadurch auszeichnen, dass Frauen, genau wie Männer, das tragen können, was sie wollen, ohne dabei belästigt oder sanktioniert zu werden, egal ob es um Hotpants oder Gesichtsschleier geht.
De Maiziere beteuert nun, es gehe nicht um ein Kopftuchverbot, sondern um Verhüllungen, die das Gesicht der Trägerinnen verbergen. Angesichts der wochenlangen Verwirrung in Medien und Politik über Burka, Nikab, Tschador, Chimar oder sonst irgendwelche muslimischen Kleidungsstücke wirkt das fast lächerlich. Von Beginn an war klar: Sie sagen »Burka«, meinen aber alle Arten der islamischen Verschleierung. Selbst wenn erst einmal nur sehr wenige von den neuen Gesetzesplänen betroffen wären, da kaum eine Muslima in Deutschland ihr Gesicht vollständig verschleiert, sind alle muslimischen Frauen gemeint.
Im Westen nichts Neues
Es ist nicht das erste Mal, dass die »westlichen Werte« gegen die islamische Verschleierung ins Feld geführt werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Schleier zu einem zentralen kulturellen Symbol des Konflikts zwischen den Kolonialmächten und den kolonialisierten islamischen Gesellschaften. Während die europäischen Kolonisatoren das Kopftuch zum Sinnbild für die angebliche Rückständigkeit letzterer erklärten, wurde es für diese zum Symbol des Widerstands gegen die Unterdrücker. Die Kampagne der britischen Kolonialmacht zur Entschleierung der ägyptischen Frauen war ein Herrschaftsinstrument, um diesen Widerstand zu brechen. Das Gleiche galt für die Entschleierungskampagne der französischen Besatzer in Algerien.
Der Theoretiker der Entkolonialisierung Frantz Fanon hat eindrucksvoll dargestellt, wie durch die Wechselwirkung von Unterdrückung und Widerstand der Schleier zum zentralen Symbol der Differenz zwischen Herrschenden und Unterdrückten wurde: »Auf die Offensive der Kolonialisten gegen den Schleier reagiert der Kolonisierte mit einem Kult um den Schleier.« Das Ziel der Entschleierungskampagnen war die Beherrschung der kolonialisierten Gesellschaften und die Legitimation ihrer Unterdrückung. Nicht viel anders verhält es sich heute, wenn der Westen Kriege im Namen der Frauenrechte führt, aber eben auch, wenn kopftuchtragende Muslima hierzulande diskriminiert oder gar kriminalisiert werden. Die freiheitlichen westlichen Werte werden in Stellung gebracht, um die Unterdrückung von Frauen in primitiven Gesellschaften zu unterbinden. So lautet zumindest die Botschaft. Doch genau wie im 19. Jahrhundert steht dahinter nichts anderes als Rassismus.
Zwischen Opfer und Bedrohung
Dass es nicht darum geht, verschleierte Frauen aus ihrer Unterdrückung zu befreien, offenbart allein die Tatsache, dass sie zwar als Opfer, zugleich jedoch auch immer wieder als Störerin oder gar als Bedrohung dargestellt werden. So fragte das ARD-Kulturmagazin »Titel, Thesen, Temperamente«: »Wir können sie nicht zu ihrer Freiheit zwingen, die Frauen, die sich bei uns verhüllen wollen, auf welche Art auch immer, aber müssen wir es aushalten, dass politische Symbole am Körper der Frau in der Öffentlichkeit getragen werden?« Immerhin ginge es um »Kleidungsstücke, die den Islamismus symbolisieren. Mit Religion haben sie vielleicht etwas zu tun, viel mehr aber mit politischem Fanatismus«.
Mit dieser Deutung des Schleiers als einem politischen Symbol wird nicht nur geleugnet, dass der Islam als religiöses Bekenntnis nicht zwangsläufig von jedem und jeder Gläubigen zugleich als politische Ideologie gelebt wird. Darüber hinaus wird der gesamte politische Islam zum Feindbild erhoben, das es zu bekämpfen gelte. Ali Ertan Toprak, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, bezeichnete Burka und Nikab in der ARD-Sendung als »Kampfanzüge« und »Uniformen des politischen Islam«. Dieser habe »gegen unsere Zivilisation den Krieg erklärt« und »wir wollen das nicht wahrhaben und ducken uns«. Muslimische Frauen, die sich verschleiern, sind also Opfer eines gnadenlosen rückständigen Patriarchats und zugleich Kriegerinnen in einem »Kampf der Kulturen«. Die Parallelen zur Propaganda der Kolonialisten des 19. Jahrhunderts sind nicht zu übersehen.
Patriarchat und Sexismus
Natürlich ist die Vollverschleierung ein Ausdruck von Geschlechterungleichheit – allerdings nur einer von vielen. Im Jahr 2012 gaben beispielsweise in Rahmen einer Studie 22 Prozent der befragten Frauen ab 15 Jahren an, im vorausgegangenen Jahr in irgendeiner Form sexuell belästigt worden zu sein. Über ein Drittel aller Frauen in Deutschland haben ab ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Noch immer verdienen Frauen in Deutschland bei gleicher Arbeit und Qualifikation 23 Prozent weniger als Männer. Es stellt sich also mit gutem Recht die Frage, ob bei der extrem niedrigen Anzahl vollverschleierter Frauen die Diskussion darüber tatsächlich die dringlichste in Sachen Sexismus ist.
Um die betroffenen Frauen und ihre Perspektive geht es dabei zumindest so gut wie überhaupt nicht. Stattdessen geht es darum, wer hierzulande über Frauen bestimmt: das westlich-patriarchale Kulturmodell oder das muslimisch-patriarchale. Denn Sexismus und Frauenunterdrückung sind in unserer Gesellschaft genauso allgegenwärtig wie in mehrheitlich islamischen Ländern, wenn auch teilweise unter anderen Vorzeichen.
»Zieht euch gefälligst was an, ihr Schlampen!«
Auch in Europa gibt es eine jahrtausendealte Geschichte von Vorschriften, gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen, wie sich Frauen zu kleiden und in der Öffentlichkeit zu präsentieren haben. Die einzige Konstante ist, dass sie dabei auf Sexualobjekte reduziert werden, die es wechselweise zu verhüllen oder zu entblößen gilt. So ist auch die Debatte um das »Burkaverbot« – oder noch offensichtlicher um das »Burkini-Verbot« in Frankreich – Teil des Versuchs einer patriarchal geprägten Gesellschaft, zu regulieren, was Frauen tragen dürfen und was nicht. Kleidungsvorschriften für Frauen sind Ausdruck von Geschlechterungleichheit. Das gilt aber genauso für Kleidungsverbote. In Frankreich wurde im April 2015 eine muslimische Schülerin wegen ihres zu langen Rocks vom Unterricht ausgeschlossen.
In Deutschland wiederum wurde im Sommer 2015 die Debatte um ein »Hotpants-Verbot« an Schulen geführt, weil die kurzen Hosen angeblich zu aufreizend seien und »den Schulfrieden stören«. Weibliche Kleidung wird mit den haarsträubendsten Argumenten durchreguliert und eigentlich macht frau es immer irgendwie falsch. Margarete Stokowski hat das in ihrer Kolumne in der »taz« auf den Punkt gebracht: »Falls ihr eine Burka tragen wollt: bloß nicht! Zeigt mehr Haut! Falls ihr gerade nackt seid: Zieht euch gefälligst was an, ihr Schlampen!«
Vorschriften im Namen der Emanzipation
Ein sehr bezeichnendes Bild dafür, wie es in unserer Gesellschaft um die Gleichberechtigung von Frauen bestellt ist, gaben die acht Innenminister der Union – allesamt Männer – ab, als sie vor die Kameras traten, um stolz grinsend im Namen der Emanzipation neue Kleidungsvorschriften für Frauen zu verkünden.
Wenn Männer Frauen über ihren Kopf hinweg verbieten wollen, bestimmte Sachen zu tragen, weil sie Ausdruck von Unfreiheit seien, ist das schlicht absurd. Die Befreiung der vermeintlich unterdrückten muslimischen Frau hat derweil nichts mit der Lebensrealität der meisten Musliminnen in Deutschland zu tun. Was selbige denken, wollen und vorhaben, spielt in der Diskussion so gut wie keine Rolle. Frauen, die angeben, sich freiwillig zu verschleiern, wird schlicht nicht geglaubt. Anstatt sich die Mühe zu machen, zu verstehen, warum es muslimische Frauen gibt, die sich aus freien Stücken einen Schleier anlegen, wird ihnen die eigene Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen.
Verschleierung als feministisches Statement
Der Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« von 2009 zufolge tragen 72 Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen überhaupt kein Kopftuch. Eine andere Studie kommt zu dem Schluss, dass es sich »bei den Kopftuch tragenden Musliminnen mehrheitlich um selbstbewusste, religiöse Frauen handelt«. Frauen, die sich verschleiern, verbinden damit also nicht zwangsläufig Unfreiheit oder Unterordnung unter den Mann.
Es gibt viele Gründe, warum eine Frau sich in Deutschland dazu entscheidet, ihre Haare oder ihr Gesicht zu verhüllen. Für nicht wenige ist es sogar ein Akt der Emanzipation, auch wenn sich das die westlichen Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der muslimischen Frau nicht vorstellen können. Viele Frauen, die den Nikab tragen, verstehen sich selbst ausdrücklich als emanzipierte, religiöse Frauen. Einen antireligiösen Feminismus lehnen sie freilich ab.
Doch genau wie der westliche Feminismus besteht eben auch der muslimische Feminismus aus vielen verschiedenen Strömungen, die teilweise sehr unterschiedliche Positionen vertreten – auch zum Kopftuch. Und manche vertreten eben auch die Meinung, dass das Tragen des Kopftuches für sie ein feministisches Statement ist. Gerade in Europa ist für viele muslimische Frauen die Verschleierung aber vor allem eines: ein Zeichen des Protests. Es ist einerseits eine Protestreaktion gegen die allgegenwärtige sexuelle Verfügbarkeit der Frau, aber auch gegen den wachsenden antimuslimischen Rassismus. Eine vollverschleierte Frau ist der Inbegriff der Ablehnung des westlichen Geschlechtermodells, deshalb wird sie auch so vehement bekämpft.
Ein legaler Deckmantel für rassistische Gewalt
Die individuellen Gründe, sich für ein Kopftuch oder sogar eine Vollverschleierung zu entscheiden, spielen aber im Grunde keine Rolle, denn der entscheidende Punkt ist, dass eine muslimische Frau sich fast immer – entgegen der vorherrschenden Stereotype – entscheidet. Und damit geht es ganz einfach niemanden mehr etwas an, was sie auf dem Kopf oder vor dem Gesicht trägt oder eben nicht. Wohin ein Verbot führt, zeigt das Beispiel Frankreichs, wo die Vollverschleierung seit etwa fünf Jahren mit Geldbußen und einem Zwangskurs in Staatsbürgerkunde geahndet wird.
Tatsächlich haben einige der lediglich 1900 Frauen, für die das Gesetz extra maßgeschneidert wurde, ihren Nikab abgelegt. Jedoch nicht unbedingt aufgrund der Sorge, vom Staat belangt zu werden, sondern vielmehr aus Angst vor rassistischen Übergriffen. »Ich habe angefangen, den Nikab zu tragen, als ich 16 war. Nach dem Gesetz habe ich es noch für weitere sechs Monate getan. Aber dann habe ich aufgehört. Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich ihn trage«, so eine Muslima aus Paris gegenüber dem Deutschlandfunk. »Die Polizei kontrolliert bloß die Identität oder verhängt das Bußgeld. Danach sind sie wieder weg. Aber die Leute können aggressiv werden.« Muslimische Verbände beklagen seit Verabschiedung des Gesetzes, die Aggressionen gegenüber verschleierten Frauen hätten generell zugenommen. Das Gesetz biete inzwischen vielen einen »legalen Deckmantel, verschleierte Frauen anzupöbeln«.
Kulturkämpfer enttarnen
Nahezu zynisch erscheint vor diesem Hintergrund Innenminister de Maizieres Begründung, es ginge beim Vorstoß der Union um den »gesellschaftlichen Zusammenhalt«. Während auch in Deutschland der antimuslimische Rassismus seit Jahren auf dem Vormarsch ist, wöchentlich Anschläge auf Moscheen verübt werden und die AfD immer unverhohlener gegen Muslime hetzt, möchte der Minister den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« stärken, indem er mit staatlicher Repression gegen eine diskriminierte Minderheit vorgeht.
Das Kalkül ist offensichtlich: Die Unionsminister versuchen sich mit einer rassistischen Kampagne gegenüber der erstarkenden AfD zu behaupten. Nun beteiligt sich auch Merkel an diesem perfiden Spiel. Doch statt sie zu schwächen, wird es der AfD nur noch größeren Zulauf bescheren, wenn der Rassismus gegen Muslime immer weiter geschürt wird.
Linke sollten für das Recht eintreten, die Religion zu kritisieren, genauso wie für das Recht, sie auszuüben. Sie sollten sich für das Recht einsetzen, den Schleier nicht tragen zu müssen, wie für das Recht von Frauen, ihn doch zu tragen, wenn sie das wünschen. Vor allem aber sollten wir die Vorstöße der Kulturkämpfer der Union, die unter dem Deckmantel der Emanzipation daherkommen, als das enttarnen, was sie sind: rassistische, autoritäre und frauenfeindliche Politik.
Dieser Artikel erschien zuerst im marx21-Magazin mit dem Titel »Teile und Herrsche – Rassismus in der Abstiegsgesellschaft«. Bestelle dir jetzt das neue Magazin »Zeit der Monster« als kostenloses Probeheft nach Hause oder abboniere marx21 und verpasse in Zukunft keine Ausgabe mehr.
Foto: geralt
Schlagwörter: AfD, Algerien, Antimuslimischer Rassismus, Burka, Burkaverbot, Emanzipation, Fanon, Feminismus, Frantz Fanon, Gleichberechtigung, Inland, Innenminister, Islam, Kolonialismus, Kopftuch, Kopftuchverbot, Maiziere, Merkel, Muslima, Nikab, Patriarchat, Rassismus, Schleier, Sexismus, Terror, Verschleierung