In London sind Kuriere des Lieferdienstes Deliveroo in einen wilden Streik getreten. Martin Haller über einen Arbeitskampf, der hoffentlich Schule macht
Sie nennen sich »Premium-Lieferdienste« und werben damit »dein Lieblingsessen« in kürzester Zeit zu dir nach Hause zu bringen. Start-ups wie Deliveroo und Foodora liefern sich international einen erbitterten Konkurrenzkampf um den boomenden Markt der Online-Essensbestellungen. Das Konzept: Per App lassen sich Gerichte aus lokalen Restaurants und Imbissen ordern, bei denen man normalerweise nicht bestellen kann. Das mag praktisch für die Kunden sein, doch das Geschäftsmodell kennt auch Verlierer.
Scheinselbstständigkeit und Dumpinglöhne
Die Fahrerinnen und Fahrer der neuen Start-ups verdienen oft weniger als den Mindestlohn – bei geringen oder gar keinen Sozialabgaben. Möglich wird das dadurch, dass sich die Kuriere häufig nicht in einem festen Anstellungsverhältnis befinden. Stattdessen arbeiten sie in klassischer Scheinselbstständigkeit. Bei Deliveroo sind nahezu alle Kuriere sogenannte Freelancer, die lediglich die Arbeitskleidung gegen eine Kaution vom Unternehmen gestellt bekommen. Sie haben weder Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, noch eine Unfallversicherung, trotz ihrer nicht ungefährlichen Arbeit auf dem Fahrrad oder Motorroller durch die Großstädte. Der Basis-Stundenlohn liegt bei Deliveroo bei 7,50 Euro, zusätzlich einem Euro je Auftrag. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten aber für mehrere Lieferdienste, was teilweise auch von ihnen erwartet wird, damit ihre Scheinselbstständigkeit nicht auffliegt.
Die Start-ups Deliveroo und Foodora sind erst seit 2013 bzw. 2014 auf dem Markt. Doch seither haben sie einen rasanten Aufstieg hingelegt. Im Jahr 2015 wurde Foodora, ehemals unter dem Dach von Rocket Internet, vom Marktführer Delivery Hero aufgekauft, der hierzulande bereits mit Lieferheld und Pizza.de präsent ist. Mit 2,8 Milliarden Euro Börsendotierung weist Delivery Hero nach dem Musikstreaming-Dienst Spotify in Europa die zweithöchste Bewertung eines privat finanzierten Internetunternehmens auf. Der zweite große Anbieter auf dem deutschen Markt ist die niederländische Firma Takeaway mit der Marke Lieferando.
Verdrängungswettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten
Innerhalb von 32 Minuten wird geliefert, verspricht Deliveroo in seiner Werbung. Für den Service müssen Kundinnen und Kunden etwa 2,50 Euro auf den Preis für das Essen draufzahlen, plus eventuell ein kleines Trinkgeld für die Kurierin oder den Kurier. Doch aufgrund des harten Wettbewerbs nimmt der Kostendruck immer weiter zu.
Mit Sonderaktionen und Rabatten versuchen die Konzerne die Konkurrenz auszustechen – zulasten der Beschäftigten. Im Frühjahr dieses Jahres teilte Deliveroo seinen Fahrerinnen und Fahrern in Deutschland mit, dass der Wochenendbonus in Zukunft wegfällt. Für Hauptberufliche bedeutet das 100-150 Euro weniger im Monat – viel Geld bei einem Bruttolohn von gerade einmal 1400 Euro, vor allem wenn als Selbstständiger etwa 250 Euro allein für die Krankenversicherung draufgehen.
Widerstand gegen die schlechten Löhne und Arbeitsbedingungen gibt es hingegen kaum. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad dürfte nahezu bei Null liegen. Nicht nur, dass die Beschäftigten keine Ausbildung benötigen, leicht zu ersetzen sind und daher ständig um ihren Job bangen müssen oder die Arbeit ohnehin nur als Nebenverdienst oder Übergangsphase betrachten. Sie sind auch während der Arbeit vereinzelt und stehen in unmittelbarer Konkurrenz zueinander. Kollektive Organisierung oder gar Arbeitskämpfe scheinen da nahezu unmöglich. Doch das hat sich nun geändert.
Wilder Streik bei Deliveroo in London
Letzte Woche traten Fahrerinnen und Fahrer von Deliveroo in London, dem Firmensitz des Konzerns, in einen wilden Streik. Auslöser war die Ankündigung des Managements das Lohnsystem umzustellen. Bisher erhalten die Kolleginnen und Kollegen, ähnlich wie in Deutschland, einen Stundenlohn von 7 Britischen Pfund und einem Pfund zusätzlich je Auslieferung. In Zukunft soll der Stundenlohn komplett entfallen und stattdessen lediglich eine Pauschale von 3,75 Pfund je Lieferung ausgezahlt werden. Dem Unternehmen zufolge sei diese Umstellung auch im Interesse der Kuriere. Nicht nur würde die Flexibilität für die Fahrerinnen und Fahrer erhöht, auch die Löhne würden steigen. Doch die Beschäftigten sehen das anders. Sie befürchten nicht nur Lohneinbußen, sondern beklagen, dass das Risiko dadurch vollständig auf sie abgewälzt werde. Ist die Auftragslage schlecht oder sind zu viele Kuriere auf der Straße, kostet es das Unternehmen nichts, denn die Beschäftigten bekommen die Wartezeiten zwischen den Aufträgen nicht länger bezahlt.
Besonders für Empörung unter den Streikenden sorgte die Tatsache, dass fast zeitgleich zur Verkündigung der Umstellung des Lohnsystems die Konzernleitung des Start-ups verkündete in einer weiteren Finanzierungsrunde 275 Millionen US-Dollar an neuen Investitionen eingesammelt zu haben. Dadurch wird das Unternehmen an der Börse jetzt mit über einer Milliarde Pfund bewertet.
»Wir wollen alle das Gleiche«
Mittlerweile ist die Gruppe der Streikenden, die täglich vor dem Konzernsitz demonstrieren, auf über Einhundert angewachsen. Das ist angesichts der etwa 3000 Deliveroo-Kuriere in London noch eine kleine Minderheit, aber dennoch der erste richtige Arbeitskampf in der jungen Boombranche. Es ist bereits ein wichtiger Erfolg, dass es überhaupt gelungen ist unter diesen schlechten Bedingungen kollektiven Widerstand zu organisieren.
Das Management reagierte auf den wilden Streik mit Beschwichtigungsversuchen. Es habe für das Unternehmen höchste Priorität mit seinen Fahrern über das neue Lohnmodell zu sprechen und sich ihre Sorgen anzuhören. Als am Freitag ein Konzernvertreter auf die Streikenden zuging und sie zu individuellen Gesprächen einlud, lehnten diese jedoch empört ab: »Wir wollen alle das Gleiche: 8 Pfund pro Stunde!«
Ob sich der Streik wird ausweiten können, ist ungewiss. Doch bereits jetzt hat er eine Signalwirkung, denn es ist nicht nur die Lieferdienstbranche, in der das Modell der Scheinselbstständigkeit auf dem Vormarsch ist. In den USA macht der Begriff der Gig-Economy bereits seit Jahren Karriere. Gemeint ist damit, dass Arbeitskräfte nicht festangestellt, sondern je Auftrag (Gig) bezahlt werden. Fast 40 Prozent der werktätigen Bevölkerung der USA arbeiten inzwischen in irgendeiner Form der Selbständigkeit und auch in Deutschland nimmt der Anteil rapide zu. Von Unternehmenskreisen wird das neue Geschäftsmodell dafür gepriesen den Arbeitskräften viele Freiheiten zu ermöglichen. Sie könnten selbst entscheiden, wie viel sie arbeiten und wann sie welche Aufträge annehmen. Tatsächlich geht die Flexibilisierung jedoch auf Kosten der Beschäftigten.
Auch in Deutschland regt sich etwas
Widerstand dagegen aufzubauen, schien für die prekären »Freelancer« fast unmöglich. Die Londoner Kurierinnen und Kuriere von Deliveroo haben mit ihrem mutigen Streik nun bewiesen, dass es geht. Und auch in Deutschland regt sich etwas: Als die Ankündigung der Streichung des Wochenendbonus für die Deliveroo-Beschäftigten umgesetzt wurde, reagierten einige mit einem Protestbrief an das Unternehmen. Etwa 60 Kuriere unterschrieben. Die Antwort war, dass es Deliveroo sehr leid täte, aber sie ihnen nichts Neues vorschlagen könnten. Nun diskutiert die Gruppe, wie sie weitermachen kann und informiert sich über ihre Rechte. Ein Streik könnte für die selbstständigen Fahrerinnen und Fahrer als Vertragsbruch gewertet werden. Mit der Debatte darüber, wie man sich wehren kann, ist jedoch bereits ein wichtiger Schritt aus der Vereinzelung hin zu kollektiver Interessenvertretung getan. Vielleicht müssen Kundinnen und Kunden auch in Berlin, Köln oder München schon bald länger als die versprochenen 32 Minuten auf ihre Lasagne warten.
Update: Erfolg der Streikenden
Am Mittwoch Abend endeten die Verhandlungen einer Delegation der Streikenden mit dem Management von Deliveroo in der Londoner Konzernzentrale mit einem großen Erfolg: Es wird keine neuen Arbeitsverträge geben und die Kolleginnen und Kollegen werden weiterhin in erster Linie einen festen Stundenlohn erhalten. Sogar die Fahrerinnen und Fahrer, die den neuen Vertrag bereits unterschrieben haben, können dies rückgängig machen und zum alten Lohnmodell zurückkehren. Doch es gab auch ein Entgegenkommen der Streikenden: In der Einigung wird die Beibehaltung des bisherigen Systems als »trial« (deutsch: Test) bezeichnet und ab dem 14. September soll erneut verhandelt und über das Lohnsystem gesprochen werden. Wer nicht Teil dieser Testsphase sein will, wird sein bisheriges Einsatzgebiet verlassen müssen, kann sich das neue Gebiet jedoch selbst aussuchen und erhält die Garantie, dass die bisherigen Arbeitszeiten beibehalten werden.
Auch wenn die Forderungen der Streikenden damit nicht vollständig umgesetzt werden, ist das Ergebnis ein wichtiger Sieg. Allein die Tatsache, dass sich das Management auf kollektive Verhandlungen mit Streikdelegierten einlassen musste, ist ein großer Schritt nach vorne, denn er bedeutet eine Anerkennung des Rechts auf kollektive Interessenvertretung. Nach Bekanntwerden der Entscheidung die neuen Verträge zumindest vorerst zurückzunehmen, feierten die Streikenden ihren Sieg vor dem Unternehmenssitz.
Der Grund für die schnelle Einigung und den Erfolg der Beschäftigten liegt wohl nicht in erster Linie im wirtschaftlichen Schaden, den der Streik für Deliveroo verursacht hat, sondern im immensen öffentlichen Druck, der dadurch aufgebaut wurde. Denn das Image von Deliveroo hat durch die Skandalisierung der Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne stark gelitten. Das ist für den Konzern nicht unbedeutend, denn viel mehr als seine Reputation hat er nicht. Zwar stehen Milliarden Inverstitionen hinter dem Start-up, dennoch ist das Unternehmen im Prinzip nicht viel mehr als eine App und ein Firmenlogo. Das macht es angreifbar.
Die Kurierinnen und Kuriere haben bewiesen, dass sie sich trotz ihrer prekären Lage erfolgreich wehren können. Jetzt gilt es aus den neu entstandenen Strukturen eine feste Organisierung aufzubauen, um die gemeinsamen Interessen auch in Zukunft kollektiv vertreten zu können.
Foto: steven.eason
Schlagwörter: Arbeitskampf, Gewerkschaft, Gig-Economy, London, Mindestlohn, Streik, Wilder Streik