Im Frühjahr 2015 entsteht im Berliner Bezirk Neukölln eine neue Flüchtlingsunterkunft für 300 Menschen. Irmgard Wurdack meint: Wir müssen die Sammelunterkünfte und Containerdörfer für Flüchtlinge gegen Nazis und Rassisten verteidigen, aber beschönigen sollten wir sie nicht.
Irmgard Wurdack ist aktiv in der LINKEN und im Bündnis Neukölln für Flüchtlinge.
marx21: Immer mehr „besorgte“ Anwohnerinnen und Anwohner stellen sich gegen neue Flüchtlingsunterkünfte. Sie sagen Flüchtlinge wären kriminell, gefährlich und außerdem würde das Geld für sie an anderen Stellen, beispielsweise Kitas, fehlen. Stimmt das?
Irmgard Wurdack: Die sogenannte „Nein zum Heim“-Bewegung in Berlin wird geführt von stadtbekannten Nazis. Sie versuchen, die Opfer sollen zu Tätern zu machen, um Angriffe auf die Flüchtlinge propagandistisch vorzubereiten. Aber von Flüchtlingsunterkünften geht keine Kriminalität aus – und wenn, handelt es sich meist um Verstöße, die nur AsylbewerberInnen begehen können, etwa gegen die sogenannte Residenzpflicht oder gegen das Arbeitsverbot. Das belegen auch Polizeistatistiken.
In Wirklichkeit hatten im letzten Jahr rechtsextreme Gewalttaten die höchste Zuwachsrate in der Kriminalitätsstatistik. Dass diese Bedrohung real ist, zeigt die wachsende Zahl rassistischer Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte.
Auch die Behauptung, die Asylleistungen würden Unsummen von Steuergeldern verschlingen, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand: Die Ausgaben für Flüchtlinge 2014 in Berlin betragen bei einem Bruttoinlandsprodukt von 110 Milliarden Euro lediglich 0,1 Prozent der Gesamtwirtschaftleistung der Stadt.
Etwa 18.000 Flüchtlinge leben zur Zeit in Berlin. In Neukölln soll im Frühjahr 2015 eine neue Flüchtlingsunterkunft für 300 Menschen entstehen. Welche Herausforderungen birgt das für DIE LINKE Neukölln?
Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass NPD, AfD und ihr Gesinnungsumfeld auch gegen die jetzt geplante zweite Neuköllner Flüchtlingsunterkunft mobil machen könnten. Wie in anderen Berliner Stadtteilen beschwören sie auch in Neukölln das Bild eines zerfallenden Stadtteils herauf, in dem das friedliche Miteinander in Zukunft nicht mehr möglich sei.
Umso wichtiger für uns, frühzeitig die Anwohnerinnen und Anwohner über ihre neuen Nachbarinnen und Nachbarn zu informieren, rassistische Propagandalügen zu entlarven und auch die Erfahrungen von anderen Unterkünften zu verbreiten, die diesen Vorurteilen widersprechen.
Mit welchen Argumenten überzeugt ihr Leute davon, sich Euch anzuschließen? Was sind für Dich die wichtigsten Gründe, für Flüchtlinge aktiv zu werden?
Zunächst scheint uns wichtig, deutlich zu machen, dass Flüchtlinge, die es bis nach Berlin geschafft haben, durch Krieg, Verfolgung und Not aus ihren Heimatländern vertrieben wurden. Etliche von ihnen haben – auch wegen der Abschottungspolitik an den Grenzen der EU – eine Odyssee von Notlager zu Notlager hinter sich.
Das wichtigste Argument scheint mir, dass wir, also Neuankömmlinge und Einheimische, sehr viel mehr gemeinsam haben, als uns trennt, und 1.000 Gründe, uns gemeinsam gegen weitere Verschlechterungen und für ein besseres Leben einzusetzen.
Wir müssen über die Ursachen sprechen, die Menschen zwingen, ihre Heimat und ihre Liebsten zu verlassen: Die deutsche Regierungspolitik und die seiner Bündnispartner ist überall vorne mit dabei. Deutschland ist Waffenexport-Weltmeister, vom Giftgas-Export nach Syrien bis hin zum Sturmgewehr G3 von Heckler & Koch in alle Welt. Deutschland ist treibende Kraft einer EU-Liberalisierungspolitik in Osteuropa, unter der vor allem die Ärmsten der Armen – oft Roma, die krass diskriminiert sind – und besonders in den Wintermonaten leiden. In Afghanistan ist die Bundeswehr selbst Kriegspartei und Besatzungsmacht.
Das heißt, nicht die Geflüchteten sind das Problem, sondern ein mörderisches System, dem Profite alles sind und Menschen nichts. Die hier dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, sind die Gleichen, die überall auf der Welt immer unerträglichere Lebensbedingungen der Mehrheit zu verantworten haben und täglich mehr Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen.
Darüber hinaus sind Flüchtlinge besonders betroffen von den drastischen neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungsprogrammen der letzten Jahre. Zum Beispiel Gesundheitsversorgung: Asylsuchende und Geduldete haben nur Anspruch auf eine Art Notversorgung bei Krankheiten, wenn sie „zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich“ ist (Asylbewerberleistungsgesetz), das heißt, ein Zahnarzt bekommt Behandlungskosten nur erstattet, wenn der Zahn schon braun ist und er ihn ziehen muss. Ich kenne einen kurdischen Flüchtling aus Syrien, der nicht einmal dann einen neuen Rollstuhl genehmigt bekam, als seiner bereits auseinanderfiel. Beispiel Bildung: Dass Schulen und Kitas nicht mit ausreichend Lehrkräften ausgestattet sind, bekommen geflüchtete Kinder besonders drastisch zu spüren. Neu angekommene Schulkinder, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen, werden oft über Monate in sogenannten Willkommensklassen geparkt statt sie möglichst schnell in Regelklassen zu beschulen.
Also sind die Schuldenbremse und die Umverteilung Probleme, unter denen sowohl die Einheimischen als auch Flüchtlinge leiden?
Klar. Nur dass wir uns richtig verstehen: Natürlich verteidigen wir Sammelunterkünfte und Containerdörfer für Flüchtlinge gegen Nazis und Rassisten. Aber beschönigen sollen wir sie nicht.
Wir fordern die dezentrale Unterbringung in Mehrfamilienhäusern, statt der Gettobildung durch Sammelunterkünfte Vorschub zu leisten. In Berlin wäre das rechtlich möglich. Doch der Senat hat in den vergangenen Jahren mit rückläufigen Asylanträgen sehenden Auges – also trotzdem absehbar war, dass weltweit bald wieder mehr Menschen fliehen mussten und müssen und damit auch nach Berlin kommen würden – Wohnraumplätze abgebaut und zudem städtische Wohnungen privatisiert. Die Folgen der Berliner Wohnungspolitik fällt uns heute allen auf die Füße: zu wenig ausreichender und bezahlbarer Wohnraum für alle – neu angekommene Asylsuchende und Einheimische.
Aber daraus ergibt sich auch eine Perspektive, um durch gemeinsame soziale Kämpfe in die Offensive zu kommen – zum Beispiel mit dem bevorstehenden Mieten-Volksbegehren.
Du bist nicht nur in der LINKEN, sondern auch im Bündnis Neukölln für Flüchtlinge aktiv. Was ist das für ein Bündnis?
Das Bündnis Neukölln ist ein überparteilicher, überkonfessioneller und multikultureller Zusammenschluss von Organisationen, Gewerkschaften und Kirchengemeinden, privaten und staatlichen Einrichtungen sowie Einzelpersonen im oder für den Bezirk Neukölln.
Wir treten ein für ein solidarisches und friedliches Miteinander unabhängig von der ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der Religion, Weltanschauung oder sexuellen Identität. Uns eint die Überzeugung, dass Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus gleich welcher Couleur keinen Platz in unserer Mitte haben dürfen.
Wir arbeiten bereits seit mehreren Jahren zusammen, wir haben Gegendemos gegen Nazi- und antimuslimische Aufmärsche in Neukölln organisiert, Veranstaltungen, Filmabende und vieles mehr.
Warum findest Du diese Art von Bündnissen wichtig? Kann man nicht auch allein als LINKE Basisorganisation Aktionen machen?
Erst mal schließt das Eine das Andere ja nicht aus. Aber in einem Bündnis kommen natürlich mehr Leute und damit mehr Kräfte und mehr Ideen zusammen. Wenn es um kreative Aktionen, aber auch um die Gestaltung und Finanzierung zum Beispiel von Flyern geht, steht man in einem Bündnis meistens besser da. Außerdem treffen dort politisch erfahrene und ganz neue Leute mit verschiedenen Hintergründen zusammen, die in der gemeinsamen Arbeit voneinander lernen.
Wenn man Organisationen mit dabei hat, die viele Mitglieder haben, bringt man natürlich auch mehr Menschen gegen die Nazis auf die Straße. Außerdem kann man Infos und Aufrufe sehr breit streuen.
Würdest Du sagen, je bunter das Bündnis, desto größer die Blockade?
Ja, aber nicht nur das. Natürlich sind Blockaden gegen Nazis größer, wenn mehrere Mitgliederorganisationen dazu aufrufen und auch Anwohnerinnen und Anwohner in die Organisation eingebunden wurden. Außerdem kann man so aber auch eine gelebte Willkommenskultur für die Flüchtlinge in der Nachbarschaft schaffen. Je mehr Leute sich in unterschiedlichen Bereichen dafür engagieren, desto besser. Gelegenheiten und Orte, Feste und Veranstaltungen wo Ansässige und Flüchtlinge zusammenkommen, miteinander kochen, sich kennenlernen, private Patenschaften eingehen, Beratungen in verschiedenen Sprachen oder Deutschunterricht stattfinden – all das und mehr kann kaum eine Organisation alleine stemmen, aber in einem Bündnis kann das alles zusammen kommen. Eine Kultur der Integration von unten ist sehr wichtig, sie wirkt der Gettoisierung entgegen und ist letztlich unsere einzige Möglichkeit, das Leid der Flüchtlinge zu lindern. Wenn das klappt, wird es auch von den Anwohnerinnen und Anwohnern als Bereicherung empfunden. Aber natürlich ist das Leben der Flüchtlinge in solchen Unterkünften trotzdem beschissen. Letztlich bräuchte es Wohnungen.
Das klingt nach vielen schwierigen Aufgaben. Worauf legt ihr den Fokus?
Die Unterkunft in Neukölln ist ja noch nicht gebaut. Das Wichtigste ist erst mal, die Menschen zu informieren, bevor sie das erst aus den Medien erfahren und die Nazis auch hier ihre „Nein zum Heim“-Hetze verbreiten. Das war allen im Bündnis klar.
Als Erstes haben wir ein Flugblatt „Neue Nachbar*innen“ geschrieben, in dem wir die wichtigsten gängigen Vorurteile gegen Geflüchtete widerlegen. Davon haben wir 5000 Stück drucken lassen, die wir in den Nachbarhäusern stecken. Als Nächstes organisieren wir eine Anwohnerversammlung in einer Kirche, damit die Menschen wissen, dass sie neue NachbarInnen bekommen und um mögliche Bedenken und Vorbehalte auszuräumen. Außerdem wollen wir Angebote machen, wie Menschen sich einbringen können, wenn sie helfen wollen.
Warum ist die Informationsarbeit so wichtig?
Die Strategie der Nazis ist es, die Anwohnerinnen und Anwohner zu verunsichern und gegen die Flüchtlinge aufzuhetzen. So ein Lager, eine Sammelunterkunft ist immer ein Fremdkörper im Kiez. Es sieht schon von außen abstoßend aus, hat einen Getto-Charakter. Außerdem stellt das die Infrastrukturen in der Nachbarschaft, zum Beispiel Ärzte und Schulen, vor enorme Herausforderungen.
Die Menschen in der Umgebung machen sich um solche Sachen Sorgen. Damit sind sie auch empfänglich für den Horror, den Nazis über Flüchtlinge verbreiten.
Was genau behaupten denn die Nazis?
Sie sagen, Flüchtlinge seien kriminell, würden in fremde Gärten pinkeln, einbrechen, Leute überfallen, Frauen könnten nachts nicht mehr allein nach Hause gehen und Kinder nicht allein zur Schule fahren… Außerdem behaupten sie, die Kosten der Unterbringung seien zu hoch und dass für „uns“ kein Geld da wäre. Als in Britz eine neue Unterkunft gebaut wurde, hat die NPD überall „Nein zum Asylantenheim in Britz“, „Sicher leben – Asylflut stoppen“, „Geld für die Oma, statt für Sinti und Roma“ plakatiert.
Mit Unterstellungen wie drohender Überfremdung, wachsender Kriminalität, zunehmendem Lärm und Schmutz knüpfen sie an vorhandenen rassistischen Vorurteilen an und versuchen auch in Neukölln, Ängste schüren und Geflüchtete zu Sündenböcken für soziale Missstände zu stempeln.
Dabei können sie ja unter anderem an den Integrationsdebatten konservativer Politiker und an einer antimuslimischen Stimmungsmache anknüpfen, die bis weit hinein in die bürgerlichen Medien mit teils offenem Rassismus seit Jahren in die selbe Kerbe schlägt.
Was würdest Du Aktivistinnen und Aktivisten raten, die ähnliches an anderen Orten machen wollen? Wer sind Akteure vor Ort, die man ansprechen kann und wie macht man das?
Unser Bündnis in Neukölln existiert ja schon einige Jahre. Als der Plan zum Bau der neuen Flüchtlingsunterkunft bekannt wurde, haben wir eine AG Flucht & Asyl gegründet und zum ersten Treffen breit eingeladen. Da kamen dann auch Leute, die bisher noch nicht dabei waren und andere wurden wieder aktiv, die schon länger nicht mehr zu den regulären Bündnistreffen kamen. Es ist natürlich an jedem Ort unterschiedlich, je nachdem welche Strukturen es schon gibt.
…und wenn es noch keine solchen Strukturen gibt?
Dann muss man diejenigen ansprechen, die potenziell aktiv werden könnten, am besten eben größere Mitgliederorganisationen und solche, die vor Ort verankert sind. Auf jeden Fall kann man Gliederungen von Parteien, Gewerkschaften, Migrantenorganisationen, Sozialverbände und Kirchen- oder Moschee-Gemeinden vor Ort ansprechen. Vielleicht gibt es auch schon Organisationen oder Initiativen, die vor Ort aktiv sind, mit denen man sich zusammentun kann.
Oder man organisiert als LINKE-Basisorganisation am besten gleich mit anderen gemeinsam beispielsweise eine Diskussionsveranstaltung zum Thema oder lädt zu einem ersten Bündnistreffen ein. Hauptsache man schafft einen offenen Raum, in dem man sagen kann. „Wir wollen mit Euch zusammen die Nazis zurückdrängen und die Flüchtlinge willkommen heißen! Macht ihr mit? Was habt ihr für Ideen?“ Wenn man es schafft, dass sich verschiedene Organisationen und Einzelpersonen treffen und entscheiden, regelmäßig gemeinsam aktiv zu werden, hat man den ersten und wichtigsten Schritt gemacht.
Das Interview führte Nora Berneis.
Hilfreiche Handreichungen zur Gründung von Willkommensbündnissen und zur Organisation von AnwohnerInnenversammlungen findet Ihr hier:
Was tun, damit’s nicht brennt?
Herausgeber: Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus & die Evangelische Akademie zu Berlin; 24 Seiten.
Keine Bühne für Rassismus – Flüchtlinge willkommen heißen!
Empfehlungen zur Durchführung von öffentlichen Informationsveranstaltungen in geschlossenen Räumen anlässlich der Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft (2013); Herausgeber: VDK e. V. und MBR Berlin; 6 Seiten.
Die Handreichung kann als Printversion bei der MBR bestellt werden: info@mbr-berlin.de
Foto: ekvidi
Schlagwörter: AfD, Alternative für Deutschland, Berlin, DIE LINKE, DIE LINKE Berlin, DIE LINKE Neukölln, Flüchtlinge, Geflüchtete, Nazis, Neukölln, Rassismus, Rechtsextremismus, Refugees