Die Tatsache, dass wir uns 150 Jahre nach Veröffentlichung des ersten Bands von Marx‘ »Kapital« immer noch mit dem Kapitalismus plagen müssen, schreit geradezu nach einer Neulektüre und Aktualisierung des bedeutendsten wissenschaftlichen Werkes der Neuzeit. Eine Gruppe aus Journalisten, Philosophen, Soziologen und einer Ökonomin hat das getan. Tilman von Berlepsch hat ihre Essaysammlung für uns gelesen
Karl Marx taucht selten auf der Spiegel-Bestsellerliste auf. Mathias Greffrath hat es jedoch mit einer Essaysammlung namhafter Autorinnen und Autoren über das wichtigste Werk des alten Karl geschafft. Optisch ansprechend geht das Buch den Fragen nach der Aktualität des »Kapitals« und nach der »Brauchbarkeit seiner Kategorien« nach.
Kontext des Klassenkampfs
Erhellend ist gleich zu Beginn John Holloways essayistischer Perspektivwechsel zur gängigen Marx-Interpretation. Er deckt das weitverbreitete Missverständnis auf, Marx beginne den ersten Satz des ersten Bands des »Kapital« mit der Ware. Stattdessen plädiert Holloway für eine Kapitallektüre, die mit dem Subjekt des ersten Satzes beginnt: »dem Reichtum«. Die Unterordnung des Reichtums, der für Marx »die Menschheit in ihrer höchsten Entwicklung« darstellt, unter die Warenform verdeutliche die »Notwendigkeit der Revolution«. »Das Kapital« sei daher nicht nur eine »Analyse der unausweichlichen Dynamik des Systems«, sondern vielmehr eine »Interpretation des Kontextes, in dem der Klassenkampf stattfindet«. Die Revolution sei demnach, »der Kuss des Prinzen, der unser Potenzial aus seinem jahrhundertelangen Schlummer erweckt«.
»Kapitalozän« statt »Anthropozän«
Elmar Altvater geht in seinem Artikel auf die Endlichkeit des Planeten ein und stellt fest: »Der Kapitalismus ist der Feind der Natur.« Schuld an der Umweltzerstörung und dem Klimawandel sei nicht »die Menschheit«, sondern »Täter sind die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation mit ihrer konstitutiven Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und deren Verwandlung in Kapital«. Folgerichtig sollte das neue Erdzeitalter nicht »Anthropozän« genannt werden, wie die Bioökonomie den Menschen als Einflussfaktor für die Umwelt eingeführt hat, sondern »Kapitalozän«. Stark sind Altvaters Anmerkungen zur grünen Wachstumskritik, der er vorhält, die inneren Triebkräfte des Kapitalismus nicht zu berücksichtigen. Der gleiche Fehler passiert ihm am Ende jedoch selbst, wenn er einen »nicht-kapitalistischen Weg innerhalb der planetary boundaries« mittels »Vernunft« erreichen will und dabei die Machtstrukturen übersieht, die – wider aller Vernunft – für ein Fortbestehen des Kapitalismus kämpfen.
Viel Lesenswertes und etwas (Un)Sinn
Irritierend ist, dass ausgerechnet der streng neoliberale Pop-Ökonom Hans-Werner Sinn mit der Antwort auf die Frage betraut wird, »was uns Marx heute noch zu sagen hat«. Sinn verwirft nämlich zunächst die Arbeitswerttheorie, und benutzt sodann das von Marx postulierte »Primat der ökonomischen Gesetze über die Politik«, um linke Sozialpolitik und den Mindestlohn zu diskreditieren. Unerwartet spricht Sinn dem alten Karl jedoch zu, der Begründer der Makroökonomie zu sein und mit dem »Fall der tendenziellen Profitrate« die »säkulare Stagnation« und die niedrigen Zinsen von heute prognostiziert zu haben.
Weitere lesenswerte und abwechslungsreiche Beiträge sind u.a. von Sahra Wagenknecht über Monopolbildung und Konzentration von Kapital, von David Harvey über Entwertung, von Wolfgang Streeck über Gewalt und die Entstehung des Kapitalismus, von Paul Mason über technischen Fortschritt und von Etienne Balibar über Revolution und was nach dem Kapitalismus kommt.
Die Essenz von Marx’ »Kapital«
Das Buch bietet streckenweise pointierte Wiederholungen der Essenz von Marx’ »Kapital« und ist sowohl für Einsteigerinnen als auch für Querdenker und Zweimalleserinnen brauchbar. Zum Lesen des Sammelbandes muss man kein eingefleischter Marxologe sein und auch nicht VWL studiert haben. Der essayistische Stil macht das Lesen zum Genuss, vorausgesetzt, man kann mit Marx’ Methodik der Abstraktion etwas anfangen und das erkenntnisgeleitete Interesse liegt darin, die Ökonomie und ihre Facetten zu verstehen, um sie zu ändern.
Das Buch:
Mathias Greffrath (Hrsg.):
Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert
Kunstmann
München 2017
240 Seiten
22 Euro
Foto: Erminig Gwenn
Schlagwörter: Berlepsch, Bücher, David Harvey, Kapital, Kapitalismus, Karl Marx, Marx, Revolution, Wagenknecht