Bedeutend für die Kapitalismusanalyse von Karl Marx ist dessen Arbeitswerttheorie. Diese ist umstritten. Thomas Walter stellt das Besondere der Marxschen Arbeitswerttheorie dar und zeigt Unterschiede zur bürgerlichen »subjektiven Arbeitswerttheorie« (wie es Michael Heinrich nennt), deren Geist trotz aller Wandlungen auch noch in der heutigen Ökonomie waltet.
In »Wirtschaft und Statistik«, der vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Fachzeitschrift für wirtschaftsstatistische Daten, erschien im Mai 2010 ein Artikel »Die Überprüfung klassischer Preistheorien mithilfe von Input-Output-Tabellen«. Die »klassische Theorie« ist die Arbeitswerttheorie. Sie geht auf die klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo und schließlich auf Karl Marx zurück. Der Artikel beruht auf der Dissertation von Nils Fröhlich bei der Technischen Universität Chemnitz »Zur Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte«. Vom Statistischen Bundesamt erhielt er dafür den Gerhard-Fürst-Preis, der für »herausragende wissenschaftliche Leistungen« verliehen wird. Nils Fröhlich kommt zu dem Ergebnis: »Insgesamt spricht vor dem Hintergrund der deutschen Input-Output-Tabellen von 2000 und 2004 einiges dafür, dass die realen Preise tatsächlich durch das klassische Wertgesetz reguliert werden – so wie es die Vertreter der klassischen Nationalökonomie ursprünglich angenommen haben.«
Damit ist die Arbeitswertlehre fast amtlich bestätigt. Das heißt aber nicht, dass die Theorie von Karl Marx bestätigt und der Kapitalismus kritisiert wäre. Im Folgenden wird die Problematik um die Arbeitswerttheorie erläutert.
Arbeitswertlehre
Gemäß der Arbeitswertlehre ist der Wert eine Ware gleich der zu seiner Herstellung im Durchschnitt gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Das heißt, Waren haben nur einen Wert, wenn sie auch einen Gebrauchswert haben, wenn sie also ein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen. Viele dieser Bedürfnisse sind individuell, etwa das individuelle Bedürfnis auf einem Sofa sitzen zu können. Dies wäre dann der Gebrauchswert eines Sofas.
Waren tauschen sich gemäß ihrer Werte. Mit einer Ware, deren Herstellung zwei Stunden erfordert, können zwei Waren eingetauscht werden, deren Herstellung jeweils eine Stunde erfordert. Diese Tauschverhältnisse werden als Tauschwert der Waren bezeichnet. Werden die Waren speziell gegen Geld getauscht, spricht man von Preis.
Veraltet?
Welche Rolle spielt denn heute noch die Arbeitswertlehre in den Wirtschaftswissenschaften? Bei vielen bürgerlichen und marxistischen Ökonomen hat sich die Vorstellung eingebürgert, dass die Arbeitswertlehre zwar einst von bürgerlichen Ökonomen entwickelt wurde, heutzutage aber nur noch im Marxismus eine Rolle spiele. Die moderne bürgerliche Theorie hätte längst bessere Theorien entwickelt, so bürgerliche Meinungen, oder hätte die Arbeitswertlehre als ideologisch unbequem verabschiedet, so Marxisten.
»Subjektive Arbeitswertlehre«
Man sollte hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Völlig verschwunden ist die Arbeitswerttheorie aus der bürgerlichen Theorie nicht, auch wenn der Begriff selbst unüblich geworden ist. Nimmt man etwa die Aussage der Arbeitswerttheorie, dass Waren sich gemäß der zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitszeit tauschen, so findet sich das auch heute noch in bürgerlichen Theorien. Die bürgerliche Herleitung der Arbeitswerttheorie geht auf den Ökonomen Adam Smith zurück. Die sozusagen bürgerlichen Arbeitswerte können am Beispiel der sogenannten »Transformationskurve« erklärt werden. Werden 1000 Arbeitsstunden etwa aus der Kanonenproduktion abgezogen und in die Butterproduktion gesteckt, tauscht sich gemäß »Transformationskurve« eine gewisse Menge an Kanonen gegen eine Menge an Butter, und zwar gleiche Arbeitszeit gegen gleiche Arbeitszeit. Dies ergibt sich trivial aus der Annahme der vollen Auslastung der verfügbaren Arbeit.
Später versuchten bürgerliche Ökonomen sich von der Marxschen Theorie abzugrenzen. Der Begriff »Arbeitswertlehre« passte nicht mehr in die ideologische Landschaft. Die sogenannte subjektive Wertlehre änderte nichts an der Arbeitswerttheorie. Sie betonte aber, dass es um die »gesellschaftlich notwendige« Arbeitszeit gehe, um die für die Produktion von Gebrauchswerten gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Da aber ein Gebrauchswert (Erdbeereis, Computerspiel) subjektiv bestimmt sei, sei auch die klassische Arbeitswertlehre besser als »subjektive Werttheorie« zu bezeichnen. Schließlich seien ja die Gebrauchswerte der Ausgangspunkt, und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit beziehe sich auf die Produktion von subjektiv begehrten Gebrauchswerten. Der marxistische Politologe Michael Heinrich bezeichnet dies als »subjektive Arbeitswertlehre«.
Nutzentheorie
Marx geht davon aus, dass den Waren gemeinsam ist, dass sie durch Arbeit hergestellt worden sind. Kleidung, Brot, Schuhe werden von den jeweiligen konkreten Arbeiten des Schneiders, Bäckers oder Schusters hergestellt. Diese konkreten Arbeiten bzw. deren Zeitdauer kann aber nicht das Maß der Werte sein, weil die konkreten Arbeiten genau so unterschiedlich sind wie die hergestellten Gebrauchswerte. Abstrahiert man von der Unterschiedlichkeit der konkreten Arbeiten, bleibt die »abstrakte Arbeit« übrig, Arbeit schlechthin. Die Dauer dieser abstrakten Arbeit ist das Maß der Werte.
Doch diese Arbeitswertlehre allein kann nur die Tauschverhältnisse z.B. zwischen Kanonen und Butter erklären, nicht wie viel Kanonen und Butter tatsächlich nachgefragt werden. Diese Frage will die zur Nutzentheorie weiter entwickelte »subjektive Werttheorie« beantworten. Die Nutzentheorie geht spiegelbildlich zu Marx vor. Was ist allen Waren gemeinsam? Dass sie einen Gebrauchswert haben. Da nun die Gebrauchswerte verschiedener Waren offensichtlich verschieden sind, muss es also einen gemeinsamen abstrakten Gebrauchswert geben, den die Nutzentheorie Nutzen nennt. Dieser Nutzen soll nun maximiert werden. Die Arbeitswertlehre gibt die Möglichkeiten vor, sich zwischen Kanonen und Butter zu entscheiden. Davon wird die Möglichkeit ausgewählt, bei der der Nutzen maximiert wird. In diesem Optimum tauschen sich die Waren gemäß der Arbeitswertlehre, aber gleichzeitig auch so, dass gleicher Nutzen gegen gleichen Nutzen getauscht wird.
Auf den ersten Blick erscheint die Nutzentheorie nicht als schwerwiegende Veränderung. Es ist sozusagen nur die Gebrauchswertseite stärker theoretisch entwickelt. Einige argumentieren auch so, dass die Nutzentheorie von der marxistischen Theorie übernommen werden könnte, ohne dass dies viel ändere. Es gibt aber doch eine ganze Reihe von Kritikpunkten. So ist die Marxsche Abstraktion von den konkreten Arbeiten, die zur Herstellung der verschiedenen Waren notwendig sind, zur abstrakten Arbeit, deren Zeitdauer die Werte der Waren bestimmt, sinnvoll. Auch in der Realität könnte grundsätzlich ein Arbeiter aus einer Kanonenfabrik in eine Butterfabrik wechseln. Gerade im entwickelten Kapitalismus sind die Arbeitsprozesse entsprechend vereinfacht oder standardisiert. Es findet sozusagen auch eine Realabstraktion der Arbeit statt. Es ist aber völlig unmöglich, dass jemand, dem es an Butter fehlt, zum Ausgleich mit noch so viel Kanonen den gleichen Nutzen erzielen kann. Gebrauchswerte sind eben ihrem Wesen nach unterschiedlich, was für die unterschiedlichen konkreten Arbeiten nicht zutrifft. Der Begriff eines allen Gebrauchswerten gemeinsamen »Nutzens« ist realitätsfremd.
Arbeit als ein Produktionsfaktor von vielen
Inzwischen sind in der herrschenden Lehre weitere Relativierungen der Arbeitswerttheorie vorgenommen worden, welche die Rolle der Arbeit als knapper Faktor betreffen. Bei Marx werden die Arbeitswerte normalerweise durch die im Durchschnitt zu ihrer Herstellung notwendige Arbeitszeit bestimmt. Dies ist bei Massenproduktion eine vernünftige Annahme. Bürgerliche Ökonomen unterstellen die »marginale« Arbeitszeit. Der Ölpreis bestimmt sich nicht durch die kurze Arbeitszeit in Saudi Arabien, sondern durch die lange Arbeitszeit im Golf von Mexiko. Auf den ersten Blick ist das eine vernünftige Annahme, aber sie hat Folgen. Eine solche Überlegung kann zugleich auf alle möglichen anderen »Produktionsfaktoren« neben Arbeit angewandt werden, also auch auf Boden oder auf »Kapital«, worunter Bürgerliche eine Art Zusammenfassung von Produktionsmitteln verstehen. Die Waren tauschen sich gemäß der zu ihrer Herstellung notwendigen »marginalen« Arbeitszeit und gleichzeitig gemäß des zu ihrer Herstellung marginal benötigten Bodens und gleichzeitig gemäß des zu ihrer Herstellung marginal benötigten Kapitals. Über die subjektive Nutzentheorie tauschen sie sich auch noch gemäß gleichem Nutzen gegen gleichen Nutzen. Mit solchen Relativierungen ist es in der Tat wenig sinnvoll noch von Arbeitswertlehre zu sprechen. Arbeit ist jetzt nur noch ein Produktionsfaktor neben anderen, auch wenn nach wie vor Waren sich gemäß der notwendigen Arbeitszeit, allerdings der marginalen, tauschen.
In langfristiger Betrachtung wird allerdings auch in bürgerlichen Modellen angenommen, dass letztlich Arbeit der knappe Produktionsfaktor ist. »Kapital«, worunter Bürgerliche die Produktionsmittel (Maschinen, Material) verstehen, wird durch Arbeit und andere Produktionsmittel hergestellt. Letztlich lässt sich ermitteln, wie viel Arbeit insgesamt direkt und indirekt über die Vorprodukte und die Abnutzung der Maschinen in einer einzelnen Ware steckt.
Die Ware Arbeitskraft – die entscheidende Entdeckung von Marx
Die »subjektive Arbeitswerttheorie« ist nicht kritisch. Im Gegenteil, sie will ausdrücken, dass der Produktionsfaktor Arbeit optimal eingesetzt wird, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Für Arbeitslosigkeit ist in dieser Sichtweise kein Platz, weil ja volle »effiziente« Auslastung der Arbeit unterstellt wird.
Marx dagegen fiel auf, dass die bürgerlichen Ökonomen eine wichtige Ware vergessen haben, die Arbeitskraft. Diese müssen die Lohnarbeiter an die Kapitalisten verkaufen, weil sie sonst keine andere haben, die sie für den Lebensunterhalt verkaufen können. Auch für diese Ware gilt die Arbeitswertlehre. Zum einen hat die Ware Arbeitskraft den Wert, der der Arbeitszeit entspricht, die zu ihrer Herstellung oder Erhaltung notwendig ist. Dies ist die Arbeitszeit, die notwendig ist, um die von den Arbeitern benötigten Waren herzustellen.
Zum anderen hat diese Ware auch einen Gebrauchswert. Dieser Gebrauchswert hat aber nichts mit den subjektiven Bedürfnissen der Menschen zu tun. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft besteht darin, dass die Kapitalisten diese Arbeitskraft in ihren Fabriken einsetzen können. Wenn die Arbeitszeit gesellschaftlich notwendig ist, werden so für die Kapitalisten Waren produziert, die einen Wert haben und zu diesem Wert verkauft werden können.
Jetzt entstehen kapitalismuskritische Fragen. Die Kapitalisten setzen die Arbeitskraft solange ein, dass Waren mit einem Wert produziert werden, der höher ist als der Wert der Arbeitskraft, den sie den Lohnarbeitern als Lohn bezahlen müssen. Ein Teil der Arbeitszeit wird also nicht bezahlt. Darauf kommt es den Kapitalisten an. In dieser Mehrarbeitszeit entsteht der Mehrwert, der bei den Kapitalisten als Profit verbleibt. Käme es zu keiner Mehrarbeit, rentierte sich für die Kapitalisten der Kauf der Arbeitskraft nicht.
Vordergründig könnte man sogar behaupten, dass alles mit rechten Dingen zu geht. Der Arbeiter erhält für seine Ware, die er dem Kapitalisten verkauft, den Arbeitswert als Lohn. Der Kapitalist erhält für seine Waren, die er verkauft, deren Arbeitswerte. Es bleibt aber eine offene Frage. Wie lange müssen die Arbeiter arbeiten? Die Arbeiter sind daran interessiert, möglichst kurz zu arbeiten. So können sie ihre Arbeitskraft – auch für das Kapital – am besten erhalten. Die Kapitalisten pochen darauf, dass sie die Arbeitskraft gekauft haben und daher jetzt über diese verfügen dürfen. Das heißt, die Arbeiter sollen möglichst lange ihre Arbeitskraft in den Fabriken wirken lassen. Da die Frage der Arbeitszeit die Arbeitswertlehre nicht beantworten kann, muss letztlich der Klassenkampf entscheiden, wie viel Mehrarbeit die Arbeiter leisten müssen.
David Ricardo
Worin liegt nun der Unterschied zum bürgerlichen Ökonomen David Ricardo, der Marx unmittelbar voran ging? Ricardo begreift nicht die Arbeitskraft als Ware und kennt daher auch keinen Klassenkampf um die Länge des Arbeitstages, also um das Ausmaß der unbezahlten Mehrarbeit. Er geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Arbeiter so lange wie möglich arbeiten. Die Länge des Arbeitstages ist so »natürlich« gegeben. Die Arbeiter erhalten in seiner Theorie für ihre Arbeit einen Lohn, der ihnen die Selbsterhaltung nebst Aufzug von Kindern ermöglicht. Dies ist auf den ersten Blick nicht viel anders als bei Marx. Ricardo sah auch, wieder ähnlich wie bei Marx, dass im Produktionsprozess mehr Wert geschaffen wird als nur das, was die Arbeiter als Lohn benötigen. Dieses Mehr an Wert kommt daher, dass die Arbeiter mehr produzieren, als nur für sie selbst benötigt wird. Die Arbeiter können dies, weil die Kapitalisten ihre Produktionsmittel dem Produktionsprozess zur Verfügung stellen. So wird die Produktivität der Arbeiter erhöht. Dieses mehr an Produktion kommt den Kapitalisten zugute, denn die Arbeiter bekommen weiterhin nur das für sie Notwendige. Aber es sind ja auch die Produktionsmittel der Kapitalisten, die dieses Mehr an Produktion überhaupt erst möglich machen, meint Ricardo.
Wie Ricardo den Sachverhalt schildert, ist nicht einfach falsch, vielmehr funktioniert Kapitalismus so. So kritisiert Marx die Aussage des Gothaer Programms der SPD, wonach »Arbeit« der »Quell allen Reichtums« sei. Dies sei eine »bürgerliche Phrase«, wenn von den gesellschaftlichen Bedingungen abstrahiert werde. Unter kapitalistischen Bedingungen können die Arbeiter nicht über die Produktionsmittel verfügen, weil diese Eigentum der Kapitalisten sind. Nur mit ihrer »Arbeit« allein können die Arbeiter aber wenig anfangen. Dies zeigt sich in trauriger Weise bei Millionen von Arbeitslosen, denen Sprüche von »Arbeit als Quell allen Reichtums« wenig weiter helfen. Erst wenn die Arbeiter die Produktionsmittel in eigene Verwaltung nehmen, kann die Arbeit für alle Reichtum schaffen.
Ricardo und andere bürgerliche Ökonomen liegen falsch, wenn sie diese Zustände für das Ende der Geschichte halten, als ob keine andere Produktionsweise mehr möglich wäre. Marx setzt dagegen, dass die Arbeiter selbst als Gemeinschaft die Produktionsmittel besitzen und so auch ohne Kapitalisten die Wirtschaft organisieren können.
Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
Je mehr Kapital die Kapitalisten je Arbeitsplatz investieren, desto höher die Arbeitsproduktivität. Der Teil der Wertschöpfung (bei Marx des »Neuwerts«), der an die Kapitalisten fällt, nimmt zu. Marx weist aber auf die Schwierigkeit hin, dass laut Arbeitswertlehre Arbeiter, die zehn Stunden arbeiten, eben nur in entsprechender Höhe Wert schaffen können. Die Kapitalisten können also durch Steigerung der Arbeitsproduktivität nur den Teil des Neuwerts, der an sie als Mehrwert fällt, steigern. Der Neuwert insgesamt wird aber nicht erhöht. Wenn dabei immer mehr Kapital je Arbeitsplatz investiert wird, muss die Profitrate (Mehrwert in Bezug auf Kapitaleinsatz) tendenziell sinken. Dies ist das Marxsche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate.
Kritik der Nutzentheorie
Die Marxsche Version der Arbeitswertlehre ist auch eine Kritik an der Nutzentheorie. Dort ist die Arbeitszeit eine freie Entscheidung freier Individuen. Sie wählen die Arbeitszeit so, dass ein Nutzenmaximum entsteht. Einerseits entstehen während der Arbeitszeit nützliche Konsumgüter. Dies geht aber zu Lasten nützlicher Freizeit. Andererseits hat Freizeit einen Nutzen. In der Freizeit werden aber (in der Fabrik) keine nützlichen Konsumgüter produziert. Die Individuen müssen abwägen. Gemäß Nutzenfunktion wählen sie die optimale Kombination an Arbeitszeit und Freizeit.
Bei Marx können die Arbeiter nicht frei über ihre Arbeitszeit entscheiden. Sie sind vielmehr gezwungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und ein Machtkampf mit den Kapitalisten entscheidet über die Länge des Arbeitstages. Mit dem Gebrauchswert der Arbeitskraft kommt eine neue Zielfunktion ins Spiel. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft ist der Mehrwert, den sie den Kapitalisten verschafft. Für die Kapitalisten ist dieser Mehrwert das Ziel, nicht der Nutzen oder die Bedürfnisse der Menschen. Die sind nur »Nebenbedingung«, dass Waren überhaupt verkauft werden können.
Von den Arbeitswerten zu den Produktionspreisen
Schließlich stellt sich die Frage, ob Arbeitswerte, die für die Nutzenmaximierung »optimal« wären, auch noch optimal für die Profitmaximierung sind. Entsteht Mehrwert, versuchen die Kapitalisten diesen zu maximieren. Sie konkurrieren dabei untereinander. Dies hat jetzt Rückwirkungen auf die Tauschwerte, die tendenziell nicht mehr unmittelbar durch die Arbeitswerte erklärt werden können.
Würde eine »reine« Arbeitswertlehre (Fritz Helmedag) gelten, führt das zu Schwierigkeiten. Es gibt Branchen, wo sehr viele Arbeiter beschäftigt sind, vielleicht in Fast-Food-Ketten. Dort würde wegen der vielen Arbeiter viel Mehrwert entstehen bei vergleichsweise geringem Kapitaleinsatz (geringem Einsatz an konstantem Kapital für Maschinen und Material). Die Profitrate wäre überdurchschnittlich hoch. In einer anderen Branche, vielleicht in der Stahlindustrie, stehen sehr teure Stahlwerke, worin aber vergleichsweise wenig Arbeiter beschäftigt sind, die entsprechend wenig Mehrwert abwerfen. Die Profitrate wäre dort niedrig. Jetzt setzt ein Konkurrenzkampf ein, der dazu führt, dass das Kapital weniger in Stahlwerke, dafür mehr in Fast-Food investiert wird. Das Angebot an Stahl sinkt. Bei knapper werdendem Angebot steigen die Preise. Sie sind jetzt höher als die Arbeitswerte. In der Fast-Food-Branche dagegen ist es umgekehrt. Dort steigt das Angebot, das nur zu sinkenden Preisen abgesetzt werden kann. Die Preise liegen dann niedriger als die Arbeitswerte. Es kommt so zu einer Annäherung der Profitraten, letztlich zu einem Ausgleich der Profitraten zwischen den Branchen. Die so entstandenen neuen Preise der Waren der verschiedenen Branchen werden von Marx als Produktionspreise bezeichnet. Sie entsprechen nicht mehr oder nur zufällig den Arbeitswerten. In der einen Branche sind die Preise höher, als durch die Arbeitswertlehre angezeigt, in der anderen niedriger. Die Arbeitswertlehre gilt noch im Durchschnitt der Branchen, weshalb auch Marx' gesamtwirtschaftliche Ableitungen weiterhin gelten.
Die neoricardianische oder Sraffa-Schule
Daran knüpft nun eine linke Schule an, die die Arbeitswertlehre ablehnt. Die sogenannte Neoricardianische Schule behauptet, dass die Produktionspreise unmittelbar mathematisch berechnet werden können ohne einen Rückgriff auf eine Arbeitswertlehre. Diese sei schlicht überflüssig. Die Neoricardianer halten es für den Normalzustand der Wirtschaft, dass die von Marx genannte Tendenz zum Ausgleich der Profitraten zu einem Abschluss gekommen ist. Was bei Marx nur eine Tendenz zu einem theoretischen Gleichgewichtszustand ist, ist bei den Neoricardianern von vorne herein als abgeschlossener Vorgang vorausgesetzt. Damit sind Krisen, die ja im Widerspruch zu Gleichgewicht stehen, von vorne herein ausgeschlossen oder haben nur als Störungen untergeordnete Bedeutung.
Unter dieser Gleichgewichtsannahme lassen sich dann für die Neoricardianer die Produktionspreise berechnen. Allerdings übersehen sie ganz in der Tradition Ricardos eine wichtige Ware, die Arbeitskraft. Die Arbeitskraft hat keinen Produktionspreis. Ohne Arbeitswerttheorie kann weder Wert noch Preis der Arbeitskraft ermittelt werden.
Die Neoricardianer unterstellen stattdessen, dass der Lohn frei verhandelbar ist zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Theoretisch könnte der Lohn so hoch sein, dass kein Profit mehr übrig bleibt. Die Neoricardianer übersehen, dass bei hohem Lohn das kapitalistische System nicht mehr funktioniert, sei es dass die Kapitalisten kein Interesse mehr haben, Arbeiter zu beschäftigen, sei es dass viele Arbeiter dank hoher Einkommen viel sparen könnten und gar nicht mehr gezwungen wären, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Lohn kann also nicht einfach beliebig durch Verhandlungen bestimmt werden, sondern folgt einem Gesetz, dem Gesetz der Arbeitswerttheorie. Allerdings muss die Wirkungsweise dieser Theorie modifiziert werden, was Marx durch den Begriff der Produktionspreise geleistet hat.
Über den Klassenkampf um die Höhe des Lohnes ist die neoricardianische Schule anschlussfähig an die marxistische Theorie und eine Kritik an bürgerlichen Theorien, die den Lohn über die Arbeitsproduktivität bestimmen wollen ohne Klassenkampf. Die neoricardianische Schule ist aber auch anschlussfähig an die bürgerliche Theorie. Da sie die Arbeitswertlehre verwirft, gibt es bei ihr keine Mehrarbeit der Arbeiter, keinen Mehrwert, keine Krisen und keinen tendenziellen Fall der Profitrate. Diese Schule ist »zentristisch«. Sie steht zwischen Marx und herrschender bürgerlicher Lehre.
Sowohl bei Marx als auch bei den Neoricardianern sind die einzelnen Preise nicht gleich den Arbeitswerten. Dies widerspricht der bürgerlichen »subjektiven Arbeitswertlehre«, wonach bei effizientem Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit, etwa zur Nutzenmaximierung, sich Arbeitswerte als Grundlage für die Preise herausbilden müssen. Bemerkenswerterweise waren es bürgerliche Ökonomen, wie z.B. Carl Christian von Weizsäcker, die versucht haben zu beweisen, dass auch im Rahmen der neoricardianischen Theorie letztlich Arbeitswerte gelten. Nur so könne Effizienz und Optimalität des Kapitalismus behauptet werden. Dies unterstreicht noch einmal, dass eine »subjektive Arbeitswertlehre« nicht kapitalismuskritisch ist.
Was belegt die Statistik?
Empirische Ergebnisse, wie sie jetzt z.B. von Nils Fröhlich beim Statistischen Bundesamt veröffentlicht wurden, beantwortet nicht alle Fragen. Einerseits belegen sie, dass die Arbeitswerttheorie keine marxistische Verschrobenheit ist, sondern auch heute noch eine Rolle spielt und empirisch belegbar ist. Andererseits würden bürgerliche Ökonomen behaupten, dass dies lediglich die »subjektive Arbeitswertlehre« bestätigt und ausdrückt, dass im Kapitalismus Arbeit optimal eingesetzt wird, zum höchstmöglichen Wohle der Bevölkerung.
Für Marx ist die Arbeitswertlehre dagegen Ergebnis der Tatsache, dass die Lohnarbeiter unter den kapitalistischen Klassenverhältnissen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft wie eine Ware zu ihrem Arbeitswert zu verkaufen. Dies sieht Marx als eine entscheidende Entdeckung an, die ihn von der bürgerlichen Theorie unterscheidet. Durch diese Marxsche Arbeitswertlehre wird klar, weshalb die Kapitalisten den Arbeitern im Klassenkampf einen möglichst langen Arbeitstag und eine möglichst lange Lebensarbeitszeit (z.B. Rente erst mit 67) abringen wollen. Die Marxsche Arbeitswertlehre kann erklären, weshalb Arbeitslosigkeit herrscht, wo doch angeblich im Kapitalismus Arbeit optimal eingesetzt wird. Mit Hartz IV-Gesetzen schließlich werden den Arbeitern ihre Ersparnisse genommen, damit sie weiterhin gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Auf Grundlage der Arbeitswertlehre kann argumentiert werden, dass die Erhöhung der Arbeitsproduktivität mit Hilfe größeren Kapitaleinsatzes den Kapitalisten als ganzes nichts bringt, weil es für den Wert auf die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit ankommt und nicht auf die Menge der produzierten Gebrauchswerte. »Daher die Krisen«, so Marx.
Die kapitalistischen Klassenverhältnisse mit Verkauf der Arbeitskraft sind geschichtlich entstanden. Was geschichtlich entstanden ist, kann auch geschichtlich wieder verschwinden. Die Arbeiterklasse hat das Interesse und kann aufgrund ihrer Rolle im Arbeitsprozess auch die Fähigkeit entwickeln, in einer Revolution sich der Produktionsmittel zu bemächtigen und eine neue Wirtschaftsordnung ohne Ausbeutung und Fremdbestimmung aufzubauen.
Zum Autor:
Thomas Walter ist Ökonom, Mitglied der LINKEN.
Literatur:
- Farjoun, Emmanuel und Moshe Machover (1983): Laws of Chaos. London 1983. (Dieses Buch setzt sich mit der Frage auseinander, wie Marxisten mit der Tatsache umgehen sollen, dass statistische Untersuchungen die »reine« Arbeitswertlehre, also nicht die Produktionspreise, zu bestätigen scheinen. Ein Link zum Download findet sich hier: http://sites.google.com/site/iwright/probabilisticpoliticaleconomy )
- Fröhlich, Nils (2009): Die Aktualität der Arbeitswerttheorie – Theoretische und empirische Aspekte. Metropolis-Verlag Marburg.
- Fröhlich, Nils (2010): Die Überprüfung klassischer Preistheorien mithilfe von Input-Output-Tabellen, Wirtschaft und Statistik 5/2010, S. 503-508. (Im Internet bei www.destatis.de herunterladbar)
- Heinrich, Michael (1988): Was ist die Werttheorie noch wert? Prokla 72, Nr. 3. (im Internet abrufbar
- Heinrich, Michael (2006): Die Wissenschaft vom Wert. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster.
- Helmedag, Fritz (1992): Warenproduktion mittels Arbeit – Zur Rehabilitation des Wertgesetzes. Metropolis Verlag, Marburg.
- Kurz, Heinz D. (2009): Wer war Hermann Heinrich Gossen (1810-1858), Namensgeber eines der Preise des Vereins für Socialpolitik? Schmollers Jahrbuch 129. (Dieser Aufsatz weist darauf hin, dass sich die Begründer der sogenannten »subjektiven Wertlehre« oder der Nutzentheorie nicht als Gegner der Arbeitswertlehre, sondern als Anhänger einer sozusagen subjektiven Arbeitswertlehre verstanden.)
- Weizsäcker, Carl Christian von (2010): A New Technical Progress Function (1962). German Economic Review 11/3 (Erstveröffentlichung eines 1962 geschriebenen Artikels. Der Artikel enthält eine mathematische Argumentation, wie sich Produktionspreise doch als Arbeitswerte – im Sinne einer subjektiven Arbeitswertlehre – ausdrücken lassen.)
- Weizsäcker Carl Christian von, und Paul A. Samuelson (1971): A new labor theory of value for rational planning through use of the bourgeois profit rate. Proceedings of the National Academy of Sciences U S A. (Weiterer Artikel, der auf Grundlage einer subjektiven Arbeitswertlehre argumentiert – und der Sowjetunion empfiehlt, doch Arbeitswerte als Planpreise vorzugeben. Paul A. Samuelson ist ein 2009 verstorbener »Papst« der bürgerlichen Ökonomie.)
- Außerdem:
- Bell, John R. (2009): Capitalism and the Dialectic – The Uno-Sekine Approach to Marxian Political Economy. Pluto Press. London, New York.
- Carchedi, Guglielmo (1991): Frontiers of Political Economy. Verso. London New York.