Thomas Kemmerich hat infolge des gewaltigen Drucks nach einem Tag seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen angekündigt. Doch das ist kein Grund für Entwarnung: Der rechte Flügel der Union will den Pakt mit der AfD und ist alles andere als geschlagen. Wie die Krise des Konservatismus die Demokratie zu zerstören droht, erklärt Vincent Streichhahn
Es war ein kurzes Gastspiel von Thomas Kemmerich (FDP) als Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Nach großem bundesweiten Druck kündigt Kemmerich bereits einen Tag nach seiner Wahl seinen Rücktritt an. Seine Fraktion werde einen Antrag zur Auflösung des Landtages im Parlament stellen und damit den Weg zu Neuwahlen freimachen. Dafür braucht es jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Landtag. Es hängt nun an der CDU, deren Stimmen es dafür bräuchte.
Noch am Abend zuvor hatte Kemmerich Neuwahlen in einem Interview mit dem heute-journal im ZDF ausgeschlossen und mantrahaft die sogenannten politischen »Mitte« beschworen. Was in Thüringen wirklich beobachtet werden konnte, war eine Allianz zwischen Rechtskonservativen und Faschisten, um eine linke Regierung zu verhindern.
Thüringen: Pakt mit den Faschisten
Fassungslosigkeit machte sich breit, als Kemmerich am vergangenen Mittwoch mit den Stimmen der CDU und AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wird. Das war der Sargnagel für die bereits ausgehandelte rot-rot-gründe Minderheitsregierung unter der Führung von Bodo Ramelow. Danach folgten gleich zwei Bilder mit Symbolgewalt. Das eine zeigt die Fraktionsvorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, die Kemmerich nicht wie das Protokoll verlangt, zur Gratulation die Hand schüttelt, sondern ihm den Blumenstrauß vor die Füße wirft.
Das zweite Bild zeigt Kemmerich, der dem Faschisten Björn Höcke (AfD) nach seiner Vereidigung die Hand reicht. Die historischen Analogien zum Handschlag von Adolf Hitler und Paul von Hindenburg werden schnell gezogen.
Kemmerich und auch der CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring geben sich nach der Wahl unschuldig: Man habe für einen Kandidaten der politischen »Mitte« gestimmt und sei nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien, gemeint ist natürlich die AfD. Diese hatte auch im dritten Wahlgang einen eigenen Kandidaten aufgestellt, doch schließlich geschlossen für Kemmerich gestimmt.
Das Märchen von Thüringen
Dass CDU und FDP von allem nichts gewusst hätten, ist natürlich ein Märchen. Schnell wird klar, dass Mohring und Kemmerich diese Option bewusst in Kauf genommen haben, um die rot-rot-grüne Minderheitsregierung zu verhindern. FDP-Chef Christian Lindner soll dafür bereits am Montag grünes Licht gegeben haben. Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer habe noch zu verhindern versucht, dass die CDU für einen FDP-Kandidaten stimmt, konnte aber den eigenen Landesverband nicht auf Linie bringen und auch Lindner nicht davon überzeugen.
Ob es nun direkte Gespräche mit der AfD zur Planung dieses Coups gegeben hat, ist zweitrangig. Der Landesverband Höckes hat seit der Landtagswahl im Oktober 2019 öfter zu verstehen gegeben, einen Kandidaten der CDU/FDP zu wählen und die konservative Regierung anschließend zu tolerieren, wenn damit eine Fortsetzung von r2g verhindert werden kann. Alle wussten Bescheid.
Bürgertum und Faschismus
Direkte Gespräche mit der AfD wären dadurch überflüssig. Es kann sie natürlich trotzdem gegeben haben, lanciert eventuell sogar von Politikern außerhalb Thüringens: Hans-Georg Maaßen (CDU), ehemaliger Verfassungsschutzpräsident und neuer Star der »Werteunion«, war engagiert im Thüringer Wahlampf. Sein Statement nach der Wahl Kemmerichs: »Hauptsache, die Sozialisten sind weg«.
Dieser Spruch Maaßens verweist auf eine lange antikommunistische Tradition des Bürgertums, das bei Bedarf nicht vor Bündnissen mit Faschisten zurückschreckt. Aufschlussreich dafür ist ein Zitat von Ludwig von Mises, einem der klassischen Theoretiker des Liberalismus. Im Jahr 1927 ist sein Buch »Liberalismus« erschienen, welches sich unter anderem gegen die Sozialisierungsbestrebungen in der Weimarer Republik wandte und das von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung unkommentiert in ihrer Reihe »Klassiker der Freiheit« neu aufgelegt wurde. Darin heißt es: »Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.«
Krise des Konservatismus
Nein, es war nicht überraschend, was im Erfurter Landtag passiert ist. Die CDU und mit ihr der Konservatismus befinden sich in einer tiefen Krise. Die Union ist innerlich zerrissen. Ein an Einfluss gewinnender rechtskonservativer Flügel, verkörpert durch die Werteunion, übt seit geraumer Zeit scharfe Kritik am Kurs von Merkel und Kramp-Karrenbauer. Deren Politik gebe zentrale konservative Werte preis, so der Vorwurf. Die von den Bundesparteien geforderte klare Abgrenzung gegenüber der AfD verhindert für sie Mehrheiten rechts der sogenannten »Mitte«.
Der stellvertretende thüringische CDU-Fraktionschef Michael Heym hatte noch vor der Landtagswahl eine Koalition mit AfD und FDP ins Spiel gebracht. Auch die CDU-Landesverbände in Sachsen und Sachsen-Anhalt, haben schon öfter gezeigt, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD für viele von ihnen die bevorzugte Option wäre. So erklärten CDU-Landespolitiker in Sachsen-Anhalt in einem Papier letztes Jahr, das Nationale mit dem Sozialen versöhnen zu wollen. Sie richteten im Landtag, trotz der amtierenden Kenia-Koalition (schwarz-rot-grün) mit den Stimmen der AfD eine Enquete-Kommission »Linksextremismus« ein und verhalfen AfD-Politikern in Ämter.
Die CDU steht vor einer Zerreißprobe. Manche ihrer Landesverbände und vor allem die Werteunion stehen der AfD näher als der eigenen Partei auf Bundesebene. Der Einfluss auf die formal autonomen Landesverbände ist begrenzt, der Ausschluss ganzer Landesverbände das letzte Mittel, doch kein realistisches. Die Werteunion ist von der CDU-Bundespartei nicht offiziell anerkannt. Eigentlich müsste die CDU-Führung sie auflösen, agiert sie doch wiederholt gegen Parteibeschlüsse. Ob die CDU-Führung ihre Landesverbände wieder unter Kontrolle bringen kann, wird sich spätestens bei den kommenden Landtagswahlen im Osten zeigen. Ausgang ungewiss.
Gesellschaftlicher Druck
Der bundesweite Druck mag diesmal noch so stark gewesen sein, dass sich Kemmerich nicht im Amt halten konnte und der Weg zur Neuwahlen anscheinend bald freigemacht wird. Die große öffentliche Empörung und die spontanen Proteste noch am Wahlabend in zahlreichen Städten – mit teilweise vierstelligen Teilnehmerzahlen – waren ausschlaggebend hierfür. Dies zwang auch führende Politikerinnen und Politiker von Union und FDP, sich schnell und entschieden gegen das Verhalten ihrer Parteikollegen zu positionieren.
Eigentlich sind Mohring und Kemmerich für die jeweiligen Bundesparteien nicht mehr tragbar in ihrer Rolle als Landeschefs. Zu abgekatert war das Machtspiel. Mohring und die restliche CDU-Landtagsfraktion haben anscheinend gegen den erklärten Willen der Bundesvorsitzenden gehandelt.
Im Gegensatz zur CDU scheint Lindner den Schachzug von seinem Parteikollegen Kemmerich mitgetragen zu haben. Die parteiinterne Kritik am Parteichef wächst. Lindner ist angeschlagen und hat angekündigt, im FDP-Parteivorstand die Vertrauensfrage zu stellen.
Thüringen: Neuwahlen und rechte Gefahr
Die Neuwahlen werden einen noch stärkeren Lagerwahlkampf hervorbringen. Klar ist: Wer CDU oder FDP wählt, wird mit der AfD aufwachen. Doch dieser politische Dammbruch wird nicht auf Thüringen begrenzt bleiben. In zwei Ost-Bundesländern wird 2021 gewählt, in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. In Thüringen könnte es noch dieses Jahr Neuwahlen geben. Die häufig beschworenen Brandmauern gegen rechts sind gefallen.
Es ist nicht unrealistisch, dass bei den anstehenden Wahlen parlamentarische Mehrheiten von CDU und AfD zustande kommen. Der Druck des rechtskonservativen Flügels, diese wahrzunehmen und in eine schwarz-blaue Regierung einzutreten, wird gewaltig sein. Ob die Bundespartei der CDU in der Lage ist, das zu verhindern, ist offen.
Widerstand dem autoritären Projekt
Eine Welle der Empörung schwappte gestern durch die ganze Bundesrepublik. Wir erleben gegenwärtig eine Dynamik, die nicht auf die gesellschaftliche Linke beschränkt ist. Noch nie sprachen Medien und Politik bezogen auf die AfD so eindeutig und einhellig von »Faschisten« und »Nazis« wie in den letzten zwei Tagen. Nun gilt es, diese breite antifaschistische Stimmung zu festigen und in Widerstand gegen die AfD zu übersetzen. Dass die Partei heute für weite Teile der Bevölkerung als Nazipartei gebrandmarkt ist, ist dem entschlossenen Protest der letzten Jahre zu verdanken. Nur so kann auch der Druck auf Union und FDP erhöht werden, um den Preis für jede weitere Zusammenarbeit mit der AfD in die Höhe zu treiben.
Die voraussichtlichen Neuwahlen in Thüringen sind noch kein Sieg, da dürfen wir uns nichts vormachen. Und sie sind vor allem nicht das Ende. Der Druck muss jetzt aufrechterhalten und noch intensiviert werden. Und er muss über Thüringen hinaus wirken. Wir brauchen breite Bündnisse mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Kirchen und vielen anderen Akteuren, um dem autoritären Projekt des Konservatismus und Faschismus etwas entgegenzusetzen.
Schlagwörter: AfD, Antifaschismus, Inland