Die Annahme eines »ehrenhaften Kompromisses« durch die griechische Regierung kommt einer Abkehr von jenem Programm gleich, das Syriza zur Regierungsverantwortung verhalf. Von Stathis Kouvelakis
Verweise auf die Idee eines »ehrenhaften Kompromisses« sind in letzter Zeit sehr in Mode in Griechenland – mit positivem sowie negativem Beigeschmack. Im medialen Diskurs und – noch besorgniserregender – auf Seiten der Regierung selbst ist das »Erreichen eines ehrenhaften Kompromisses« mit den so genannten »Institutionen«, wie die Troika umbenannt wurde, zum strategischen Ziel der Zeit aufgestiegen.
Es ist überflüssig hier zu erwähnen, dass diese diskursive Abweichung von Seiten Syrizas einen Abschied von jenem Ziel des Bruches mit den Sparpaketen und mit der Troika-Herrschaft signalisiert, auf dem der Wahlsieg der Partei gründete. Aber was könnte im aktuellen Kontext der allgegenwärtige Verweis auf etwas so Vages wie einen »ehrenhaften Kompromiss« bedeuten?
Kompromiss oder Unterwerfung?
Beginnen wir mit dem zweiten Wort, dem »Kompromiss«. Sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen klingt in dem Begriff »Kompromiss« die Gegenseitigkeit sehr stark mit. »Symvivasmos« auf Griechisch ist eine Mischung aus den Teilwörtern »syn« (zusammen) und »vaino« (gehen), ähnlich wie »compromissus« auf Latein, das aus den Teilwörtern »com« (zusammen) und »promittere« (versprechen) zusammengesetzt ist.
»Kompromiss« bedeutet daher, dass Zugeständnisse von beiden Seiten vorgenommen werden, vielleicht auf ungleicher Basis, aber wenigstens in einem Maß, das Vergleichbarkeit zulässt. Um einen bedeutungsvollen Tausch zu erreichen, müssen die Züge auf beiden Seiten, wenn nicht exakt ausgeglichen, dann wenigstens einem gemeinsamen Maß entsprechen.
Wenn eine Seite – offensichtlich die stärkere -, nicht das geringste Zugeständnis macht, dann kann dieser Prozess entsprechend keineswegs als ein »Kompromiss« bezeichnet werden. Der Begriff verkommt somit zum Feigenblatt für das Streben nach vollständiger Unterwerfung.
»Kompromiss« und »Ideologie«
Es gibt einen weiteren Gesichtspunkt an der umstrittenen Formulierung: den ethischen. Das »ehrenhaft« im »ehrenhaften Kompromiss« verweist auf eine Vorstellung von »Ehre«. Um es anders zu formulieren: Ein Kompromiss dieser Art setzt einen »Ehrenkodex« voraus, der von beiden Seiten geteilt wird. In diesem Sinne ist jeder echte Kompromiss »ehrenhaft«. Von einem »ehrlosen Kompromiss« zu sprechen ist ein Widerspruch in sich.
Hier wird eine begriffliche Unschärfe sichtbar: Obwohl es auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, wohnt dem Begriff eine wertende Dimension inne, die allerdings im alltäglichen Diskurs verborgen bleibt. Typischerweise deutet »Kompromiss« auf eine unideologische Einstellung hin. Als Ziel ist dieser angeblich an den Bedürfnissen einer »pragmatischen« Herangehensweise orientiert.
Im Gegensatz dazu ist »Ideologie« das Attribut derer, die »Kompromisse« ablehnen, die unverbesserliche »Maximalisten«, gefährliche »Hardliner« oder schlicht harmlose »Träumer« sind. Der Verweis auf den »Kompromiss« erfüllt also eine politische und ethische Funktion, aber eine die unausgesprochen bleibt und unterschwellig operiert. Insofern können wir vom Kompromiss als eine Form der Ideologie sprechen.
Die Kunst des Kompromisses
Bedeutet dies, dass der Kompromissbegriff abzulehnen ist, oder dass Kompromisse im Allgemeinen unmöglich sind? Offensichtlich nicht. Was sollte dann das Kriterium sein, um über deren Begehrtheit oder Realisierbarkeit zu urteilen? Es gibt nur eins: Politik, die Kunst der Intervention zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Hier liegt die wahre Bedeutung des berühmten Texts von Lenin zum Thema Kompromiss, der leider für alle möglichen Zwecke missbraucht wurde. Lenin macht sich über all diejenigen lustig, die im Namen einer moralischen Reinheit alle Kompromisse grundsätzlich ablehnen, um ihre Hände immer sauber zu halten. Doch ebenso abzulehnen sei die Idee, dass Kompromisse – wieder aus Prinzip – ein Mittel an und für sich sind.
Kompromiss und Bruch
Alles hängt von einer konkreten Analyse der konkreten Situation ab. In diesem exakten Moment, sagt Lenin Anfang September 1917, und nur für eine sehr kurze Zeit (»nur ein paar Tage oder höchstens eine oder zwei Wochen«), sei ein Kompromiss »zum Zweck der Erschöpfung auch der geringsten Möglichkeit für die friedliche Entwicklung der Revolution« möglich und erstrebenswert.
Aber sehr kurz danach änderten sich die Bedingungen und das Gerede von einem »Kompromiss« ist nicht mehr möglich – nicht weil eine solche Idee moralisch verwerflich wäre, sondern weil diese politisch unrealistisch ist. Die Revolution ist nicht mehr in der Lage, sich friedlich zu entwickeln. Dann besteht keine Wahl zwischen einem »Kompromiss« und einem »Bruch«.
Der Bruch ist in jedem Fall unvermeidlich. Die Wahl ist dann zwischen einem Bruch nach Kornilow-Art und einem Bruch nach Lenin-Art, mit anderen Worten zwischen einem konterrevolutionären Putsch und einer Radikalisierung des revolutionären Prozesses. Unter diesen Umständen würde die Suche nach einem Kompromiss politische Impotenz signalisieren, und Impotenz inmitten einer dermaßen polarisierenden Situation bedeutet Vernichtung.
Ein Kompromiss ist unmöglich
Die laufende Konfrontation innerhalb von Syriza und innerhalb der griechischen Gesellschaft über die Fähigkeit zum Kompromiss und seine Realisierbarkeit (meistens ohne zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden) ist kein Konflikt zwischen »Realisten«, die sich diesen einerseits wünschen, und »Hardlinern«, »Maximalisten« oder »Ideologen«, die diesen andererseits ablehnen und nach einem »Bruch« streben.
In diesen Begriffen zu diskutieren kann nur in einer Falle führen, wo Politik abstrakten moralischen Normen untergeordnet wird, was wiederum zum reinen Moralisieren verkommen wird. Diese Art politischer Auseinandersetzung hält den vorherrschenden Diskurs aufrecht und »naturalisiert« die Politik, indem sie diese der Verwaltung einer Herrschaftsordnung anpasst, die von Natur aus nicht überwunden werden kann.
Um das etwas anders zu formulieren: Genau deshalb, weil ein »Kompromiss« unter den jetzigen Bedingungen praktisch unmöglich ist, verschleiert dessen zwanghaftes Heraufbeschwören die kritischen aktuellen Themen, entpolitisiert diese und präsentiert sie als Zusammenstoß von ethischen Anschauungen: »Realisten« vs. »Hardliner«, »Pragmatiker« vs. »Utopisten«, usw.
Ungleiche Kräfte
Was sich eigentlich in der aktuellen diskursiven Auseinandersetzung offenbart, ist, dass ein »ehrenhafter Kompromiss« nicht möglich ist, weil die Voraussetzungen für diesen nicht existieren. Die stärkste Partei, die Europäische Union, ist an einem Kompromiss nicht interessiert, sondern nur in der Verwaltung der Demütigung, die per se eine Entehrung beinhaltet.
Die Unrealisierbarkeit eines Kompromisses steht natürlich in Zusammenhang mit der Ungleichheit der Kräfteverhältnisse, die den Kompromiss im bestimmten Sinne nicht erzwingt und somit aus Sicht der stärkeren Partei unnötig macht. Aber es geht nicht nur darum.
Scheinbar auf derselben Seite
Während der einzigen Periode der Geschichte, als der Kapitalismus in den Ländern des »Weltzentrums« auf der Grundlage eines Klassenkompromisses funktionierte – so wie in den Jahrzehnten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg –, spielte die Tatsache eine wichtige Rolle, dass ein Großteil des westlichen Kapitals sich am antifaschistischen Krieg beteiligte und sich in diesem Kontext für einen kurzen, aber entscheidenden Moment auf derselben Seite mit den organisierten Kräften der unterdrückten Klassen zusammenfand.
Dieses minimale, dennoch keineswegs unwesentliche Terrain bestand selbst während der ersten Phase des Kalten Krieges fort, zumindest in Europa. Griechenland machte eine ähnliche Erfahrung während des Kampfes gegen die Militärdiktatur (1967-1974), der den Boden für den politischen Kompromiss nach deren Fall bereitete und dem seit 1949 bestehenden repressiven Regime ein Ende setzte.
Neoliberale Konterrevolution
Die neoliberale Konterrevolution, die – wie Naomi Klein und David Harvey passend betonen – ihren Ursprung in der Niederschlagung des Experiments der chilenischen Unidad-Popular-Regierung durch die Panzer Pinochets hat, zerstreute das Obengenannte in die vier Himmelsrichtungen.
Das Kräfteverhältnis, das den Klassenkompromiss der Nachkriegszeit aufrechterhielt, wurde mit zermalmender Wucht zugunsten des Kapitals umgekippt.
Die gemeinsamen Verweise auf den Wert des antifaschistischen Kampfes, die für die Schaffung und die Legitimation des Nachkriegssozialstaates von fundamentaler Bedeutung waren, lösten sich in Luft auf. Sie wurden von einem wiederaufgewärmten Kalter-Krieg-Antikommunismus im Gewand des »Antitotalitarismus« abgelöst, gemischt mit Begeisterung für die Werte des Marktes, des Profits und der freien Konkurrenz.
Die bürgerliche Welt und die etablierte Ordnung in Europa werden nicht mehr von Persönlichkeiten wie de Gaulle, Macmillan oder Jean Monnet vertreten, sondern von Merkel, Dijsselbloem und Draghi.
Geist der Abspaltung
Die in Griechenland in den letzten fünf Jahren angewandte Schocktherapie ist nicht mehr als eine radikale (für die Verhältnisse eines westeuropäischen Landes) Auslegung derselben neoliberalen Konterrevolution. Diejenigen, die diese verkörpern, innerhalb und außerhalb des Landes, sind Vollstrecker einer Operation der Ausplünderung und der nackten Unterwerfung. Sie sind gewalttätig und vulgär zugleich; die Antithese eines kompromisssuchenden Typs. Unter diesen Umständen kann nur die Aktivität der Unterdrückten eine Perspektive der politischen, sozialen und ethischen Erneuerung aufzeigen.
Dies setzt eine entschlossene Wiederauferstehung dessen voraus, was der italienische Revolutionär Antonio Gramsci, den französischen Marxisten Georges Sorel zitierend, als den »Geist der Abspaltung« der unterdrückten Klassen bezeichnete, deren Fähigkeit, die ideologische und ethische Hegemonie der dominanten Gruppen zu brechen, sowie die latenten Widersprüche in den sozialen Verhältnissen zu entblößen und ihre eigene Weltsicht und »ethische Reform« vorzubringen.
Nur diese Abspaltung ist im Hier und Jetzt »ehrenhaft« – weil sie Trägerin eines Bruches ist, der sowohl die Voraussetzung als auch der Bote einer radikal neuen, vereinenden Politik und Ethik im Kampf für die allgemeine Befreiung ist.
(Zuerst veröffentlicht auf Jacobin, übersetzt von Leandros Fischer.)
Foto: europeancouncilpresident
Schlagwörter: EU, Europa, Gramsci, Griechenland, Syriza, Troika, Tsipras