Mehrere Frauen werden in der Silvesternacht sexuell belästigt. Doch anstatt die Vorfälle in Zusammenhang mit der alltäglichen sexistischen Gewalt in Deutschland zu bringen, diskutieren Politik und Medien vor allem über die Herkunft der mutmaßlichen Täter. Von Silke Stöckle und Marion Wegscheider
Bei den Silvesterfeierlichkeiten in Köln, Hamburg und weiteren Städten kam es in einem hohen Ausmaß zu sexuellen Übergriffen auf Frauen, in mindestens einem Fall zu einer Vergewaltigung. Es ist bestürzend, dass dies geschehen konnte und empörend, dass die Behörden Anzeigen von Frauen offenbar zunächst nicht ernst nahmen.
Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen ist in Deutschland allgemein ein großes und sicherlich kein neues Problem: regelmäßig werden auf Großereignissen wie Festivals, dem Münchner Oktoberfest oder im Karneval Frauen sexuell belästigt oder gar vergewaltigt. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums erfährt jede siebte Frau in Deutschland in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Jede vierte Frau – unabhängig von Bildungsstand oder sozialem Status – ist häuslicher Gewalt mit zum Teil lebensbedrohlichen Verletzungen ausgesetzt. Die Täter sind fast immer männlich, eine aussagekräftige Kategorisierung nach Religion, Herkunft, Bildungsstand oder sozialem Status existiert allerdings nicht.
Es gäbe also jeden Tag mehr als genug Gründe für einen gesellschaftlichen Aufschrei gegen Sexismus und sexuelle Gewalt in Deutschland. Beide Phänomene sind mit dem herrschenden Frauenbild eng verwoben. Dementsprechend werden sexuelle Übergriffe auf Frauen allzu oft nicht ernst genommen und zunächst marginalisiert – wie nun auch in Köln, wo sich die betroffenen Frauen von Seiten der Lokalpolitik über »Verhaltensregeln für Massenveranstaltungen« belehren lassen dürfen, als hätten sie angesichts der entschlossenen Täter den nötigen Handlungsspielraum gehabt. Frauen werden hierzulande in Filmen, in der Werbung und den Massenmedien regelmäßig als sexualisierte Objekte dargestellt. Frauenunterdrückung ist weiterhin strukturell in unserer Gesellschaft verankert, was an Lohnunterschieden, Karrierechancen oder herrschenden Rollenbildern abzulesen ist. Von Gleichberechtigung kann hier noch lang keine Rede sein, auch wenn sie noch so oft öffentlich ausgerufen wird.
Politiker und Medien schüren antimuslimischen Rassismus
Anstatt jedoch die Vorfälle in Köln und Hamburg in Zusammenhang mit der alltäglichen sexistischen Gewalt gegen Frauen in Deutschland zu bringen, diskutieren Politik und Medien seit Bekanntwerden der Vorfälle vor allem über die Herkunft der mutmaßlichen Täter und über Fragen der öffentlichen Sicherheit. Wenn sexuelle Übergriffigkeit überhaupt einmal als strukturelle Erscheinung benannt wird, dann nur in Bezug auf die »Kultur« in den mutmaßlichen Herkunftsländern der Täter. Auf diese Weise wurde die Debatte über die Übergriffe von Anfang an instrumentalisiert und, einer klassisch rassistischen Argumentation folgend, Muslimen oder Flüchtlingen pauschal zu Tätern stilisiert.
Mainstreammedien und Politiker schüren den ohnehin bestehenden antimuslimischen Rassismus und fachen die Hetze gegen Flüchtlinge noch weiter an: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spricht davon, dass kriminelle ausländische Straftäter abgeschoben werden müssten. Und im Sat1-Frühstücksfernsehen wird gefordert, »unserer Werte, Lebensart und Überzeugung« gegenüber den »Moslemmänner« zu verteidigen. Davon, dass zahlreiche unbeteiligte Männer und die hundert vor Ort anwesenden Polizeibeamten nicht eingriffen, um die Frauen vor den Übergriffen zu schützen, ist bezeichnenderweise wenig zu vernehmen – obwohl sich auch eine Beamtin in Zivil unter den Opfern befand.
Ein gefundenes Fressen für die Rechten
Die Feministin Alice Schwarzer, die seit längerem mit dem konservativen Milieu sympathisiert und auch schon mal Verständnis für die Grundsätze von Pegida verlauten ließ, bläst ins gleiche Horn, wenn sie nun von verfehlter Toleranz gegenüber muslimischen Männern spricht, in diesem Zusammenhang Terror erwähnt und eine Integrationspflicht für Migranten fordert.
Für die Rechten ist dieser argumentativ bereitete Raum ein gefundenes Fressen. Neonazis, ProNRW und die AfD verkünden unisono, keine Flüchtlinge mehr aufnehmen und »unsere Frauen« schützen zu wollen. In sozialen Netzwerken werden Straßenaktionen bis hin zu körperlichen Angriffen gegen ausländische Männer angekündigt.
Dabei müssen Frauen sich vor genau diesen Parteien und Zusammenhängen schützen, die ihrerseits zutiefst frauenfeindliche Rollenbilder und Gesellschaftsstrukturen propagieren oder befördern. Die AfD, zunehmend ein Sammelbecken für Nazis, kämpft für die heterosexuelle Familie als Norm, lehnt die Homo-Ehe ab und verortet die Frau in der klassischen Mutterrolle. Ferner kämpft sie für eine Verschärfung des Paragrafen 218 (erschwerter Zugang zu Schwangerschaftsabbruch), organisiert Kampagnen gegen Frauenquoten und Feminismus – und heuchelt im selben Atemzug, die Gleichberechtigung von Frauen sei längst erreicht. Und selbst eine gemäßigtere konservative Partei wie die CSU, die aktuell postuliert: »Wer den Respekt gegenüber Frauen nicht akzeptiert, kann hier in Deutschland keinen Platz in unserer Gesellschaft haben«, straft sich selbst Lügen, wenn man sich beispielsweise ihr Abstimmungsverhalten zum Thema Vergewaltigung in der Ehe in der nicht allzu fernen Vergangenheit vor Augen hält.
Kampf gegen Rassismus und Sexismus
Dass der Übergriff gerade in Köln stattgefunden hat, verdeutlicht übrigens einmal mehr die fortgeschrittenen Polarisierung der Gesellschaft: Die Domstadt gilt als liberale Metropole. Doch vor einem Jahr wurde sie auch zum Aufmarschort von 4000 Hogesa-Anhängern.
Nicht zuletzt deswegen gilt: Die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht in Köln, Hamburg und anderen Städten müssen geahndet und die Täter bestraft werden. Wir alle müssen – wie am 5. Januar vor dem Kölner Dom geschehen – gemeinsam gegen frauenfeindliche Gewalt und Rassismus auf die Straße gehen. Zudem sollten wir von den Medien und politischen Parteien fordern, gegen die erstarkende Rechte aktiv zu werden, anstatt sie mit haltlosen Argumenten zu unterstützen. Die nächste zentrale Möglichkeit, um gegen die antifeministische AfD als neues Sammelbecken für Nazis auf die Straße zu gehen, ist der Frauenkampftag am 6. März in Berlin. Was die gesellschaftliche Linke angeht, so muss absolute Klarheit darüber herrschen, dass die Frauenunterdrückung in Deutschland strukturell angelegt ist und wir uns im Kampf gegen sie keinesfalls durch Rassismus spalten lassen dürfen – wir müssen beiden Erscheinungen mit gleicher Entschlossenheit die Stirn bieten.
Weiterlesen: http://feminismus-im-pott.de/2016/01/gewalt-gegen-frauen-ist-staats-grenzenlos/ (siehe vor allem die Linksammlung am Ende des Textes)
Foto: Robin Geschonneck
Schlagwörter: AfD, Alice Schwarzer, Antimuslimischer Rassismus, Frauenunterdrückung, Hamburg, Hogesa, Köln, Polizei, Rassismus, Sexismus, Sexuelle Gewalt