Das Kabinenpersonal bei Ryanair trotzt dem Regime der Angst. Paul Severin über eine mutige Belegschaft, die sich auf den Weg gemacht hat, die übermächtige Airline in die Knie zu zwingen
Als eine amerikanische Soziologin in den frühen 1980er Jahren eine Studie über das Kabinenpersonal bei Delta Airlines machte, waren ihre Interviewpartnerinnen und Interviewpartner im Durchschnitt 35 Jahre alt und 40 Prozent waren verheiratet. Der Kontrast zur Belegschaft bei Ryanair könnte kaum größer sein: Die Beschäftigten sind jung, unerfahren, meist Single und fast ausnahmslos aus Süd- oder Osteuropa.
Auch hat der Job bei Ryanair wenig mit dem Jetset-Nimbus zu tun, der der Branche einmal anhaftete. Es handelt es sich um eine prekäre Lebensabschnittsbeschäftigung, denn der Job ermöglicht es kaum, dauerhaft eine Existenz aufzubauen. Entsprechend ist die Fluktuation innerhalb der Belegschaft enorm: Wer bei Ryanair anheuert, ist dort meist wenige Jahre beschäftigt, per Leiharbeit oder auf Basis eines irischen Arbeitsvertrags, der den Beschäftigten kaum Rechte einräumt. Ein Regime der Repression und der Angst vermochte es bisher, die Beschäftigten gefügig zu halten.
Ryanair spart an jeder Ecke
Zwischen der Arbeit einer Stewardess in den 1980er Jahren und der Situation der Cabin Crew bei Ryanair heute liegen Welten. Die Entwertung dieser Beschäftigungsgruppe ist Resultat eines gnadenlosen Preiskampfes in Folge der Deregulierung der Luftfahrtindustrie in den 1990er Jahren. Ryanair stieg in dieser Zeit zur größten europäischen Airline auf, weil radikal an jeder Ecke gespart wurde, insbesondere an den Einkommen des Kabinenpersonals, deren Tätigkeit sich maßgeblich zu jener einer fliegenden Drückerkolonne für Snacks und Rubbellose wandelte – eine wesentliche Einnahmequelle der Airline und ein wesentliches Kriterium für die Beförderung der Beschäftigten.
Um Kosten zu senken, nutzt die Airline die Not junger Menschen in Süd- und Osteuropa aus. Während der Eurokrise kam es insbesondere in Italien, Spanien und Portugal aufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit zu einer Auswanderungswelle. Junge und oft hochqualifizierte Arbeitsmigranten sind willkommene Billigarbeitskräfte in Gastronomie, bei Lieferdiensten – und eben in der Luftfahrindustrie. Die Entlohnung an deutschen Ryanair-Standorten von rund 1200 EUR pro Monat erscheint zunächst einmal großzügig, ist sie doch allemal doppelt so hoch wie ein Einstiegsgehalt in den Ursprungsländern. Was viele der jungen Beschäftigten jedoch nicht auf der Rechnung haben, sind die Lebenshaltungskosten in den Ländern, in denen sie ohne Mitspracherecht, wohin es gehen soll, stationiert werden. Der Traum nach Unabhängigkeit verpufft schnell, wenn die einzige Wohnoption eine enge WG in Nähe eines abgelegenen Flughafens ist und obendrein noch lokale Sozialabgaben bezahlt werden müssen. Die Gewinne von Ryanair sind derweil explodiert – sie haben sich zwischen 2014 und 2016 verdreifacht. »Ryanair handelt clever im Sinne seiner Aktionäre«, so kommentiert das ein polnischer Flugbegleiter mit langjähriger Erfahrung mit der Firma, »nur lastet das eben alles auf unseren Schultern«.
Die Herrschaft der Angst wackelt
Umso bemerkenswerter ist der erste Streik des Kabinenpersonals am 12. September. Sein Hintergrund sind Turbulenzen, die die Airline seit 2017 erfasst haben. Zahlreiche Flugausfälle aufgrund von Personalmangel und Fehlplanungen bereiteten eine günstige Gelegenheit für eine Kampagne zur Organisierung der Ryanair-Belegschaft, die international von der European Transport Federation angestoßen wurde. Gefordert werden nationale Tarifverträge, deutliche Gehaltserhöhungen aber eben auch Respekt – ein Ende der Gängelung und Missachtung der Beschäftigten durch das Management.
In Deutschland arbeitet ver.di seit Ende 2017 am Aufbau gewerkschaftlicher Organisationsmacht – mit bemerkenswertem Erfolg. Binnen weniger Monate konnte wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Belegschaft organisiert werden, an manchen Standorten deutlich mehr. Die Herrschaft der Angst wackelt: in Berlin Schönefeld und Tegel traten zuletzt jede Woche Dutzende in die Gewerkschaft ein, um streikfähig zu werden. Für viele steht die Organisation des Protests an allererster Stelle, weil es eine realistische Chance gibt, die übermächtige Airline in die Knie zu zwingen. Neue Mitglieder wurden sogar an Bord gewonnen, von Kolleginnen und Kollegen, die selbstbewusst Schlüsselbänder und Anstecker der Gewerkschaft zur Schau stellen.
Kein ritualisiertes Würstchenessen
Die jungen Beschäftigten stellten ihren Mut und ihre Entschlossenheit während des Streiks eindrucksvoll zur Schau. Sie trotzten den Repressionen des Managements, das die Streikposten abfotografierte und allen Streikenden rechtswidrig eine Abmahnung wegen unerlaubten Fehlens aufbrummte. Sie kämpften um jede einzelne Person, die regulär zur Arbeit gehen wollte, und schafften es, viele davon zu überzeugen, sich dem Streik anzuschließen.
Der Streik bei Ryanair war kein ritualisiertes Würstchenessen einer abgesicherten Belegschaft, sondern ein erbitterter und heroischer Kampf einer Belegschaft, die an vielen Standorten fast zur Hälfte auf Probezeit arbeitet, also dem akuten Risiko einer fristlosen Kündigung ausgesetzt ist.
Im Wechselbad zwischen Angst und Mut, Erfolg und Enttäuschung (wenn Flüge nicht verhindert werden konnten) standen vielen der Streikenden am Ende des Tages die Tränen in den Augen. »Wir haben heute ein Ausmaß an Geschlossenheit an den Tag gelegt, das wir in unserer täglichen Arbeit nicht ausleben können – weil Ryanair uns in Konkurrenz zueinander setzt«, so das Fazit einer der Kernaktiven, 26 Jahre alt und selbst erst seit wenigen Monaten gewerkschaftlich organisiert.
Internationaler Streik des Kabinenpersonals
Der Streik am 12. September war ein Achtungserfolg, der die Streikfähigkeit der Belegschaft unter Beweis gestellt hat, jedoch mit Abstrichen. Durch Erpressung und falsche Versprechen konnte Ryanair eine Minderheit an jeder Basis als Streikbrecher einsetzen und damit viele der Flüge, die nicht von vornherein gestrichen wurden, durchführen. Es ist noch einige Überzeugungsarbeit nötig, um die harte Auseinandersetzung zu gewinnen, und viele Kolleginnen und Kollegen bekommen angesichts der Repressionen kalte Füße.
Doch Rückenwind kommt aus anderen Ländern in Europa. Am 28. September streiken die Pilotinnen und Piloten von Ryanair in Portugal, Spanien, Belgien, Italien und Holland gemeinsam mit dem Kabinenpersonal – womöglich unter Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen in Deutschland. Die Piloten an den deutschen Standorten haben ihre Beteiligung am Streik bereits zugesagt, die Entscheidung des Kabinenpersonals steht noch aus. Ryanair mag in gewohnter Manier die Zähne fletschen, doch die Tage ihrer Herrschaft der Angst sind gezählt.
Foto: geekoftheweek
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