Die USA werden von einer der größten Streikbewegungen der letzten Jahrzehnte erschüttert. Nach West Virginia, Oklahoma und Arizona erreichten die Lehrerstreiks mit Los Angeles erstmals demokratisch regiertes Terrain. Wir sprachen mit der Geschichtslehrerin Gillian Russom, die den historischen Kampf mit organisierte.
Gillian Russom ist Geschichtslehrerin an der Roosevelt Highschool in Los Angeles, Kalifornien, und Mitglied des Board of Directors der Gewerkschaft United Teachers Los Angeles (UTLA).
marx21: Die Lehrerinnen und Lehrer des Los Angeles Unified School District (LAUSD) haben Anfang des Jahres für eine Woche gestreikt und über die Landesgrenzen hinweg für viel Aufsehen gesorgt. Was war bei euch los?
Gillian Russom: Wir waren sechs Tage lang im Streik und es war ein Riesenerfolg. Das zeigt schon ein Blick auf die Zahlen: Unsere Gewerkschaft UTLA hat insgesamt 33.000 Mitglieder, aber zu unseren Downtown-Rallyes kamen über 60.000 Teilnehmer – trotz Regen, mitten am Tag – mit dem Ergebnis, dass wir viermal die Innenstadt komplett stillgelegt haben. Es nahmen nicht nur Lehrerinnen und Lehrer teil, sondern auch ihre Familien, viele Eltern, Schülerinnen und Schüler und Mitglieder anderer Gewerkschaften. Das war extrem ermutigend, denn die Lehrerinnen und Lehrer in Los Angeles hatten seit dreißig Jahren nicht mehr gestreikt.
Worum ging es bei eurem Streik?
Bis es zum Streik kam, steckten wir erstmal für 21 Monate in Tarifverhandlungen fest. Zu Beginn der Tarifrunde sahen wir den vom Schulbezirk geplanten Angriff auf unsere Gesundheitsvorsorge als die größte Bedrohung. Aber das war letztlich nicht der Grund, warum wir in den Streik getreten sind.
Was dann?
Stattdessen sind wir zu einem Kampf um die Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler und um unsere Arbeitsbedingungen als Lehrerinnen und Lehrer übergegangen.
Warum das?
Weil die Bedingungen in unseren Klassenzimmern wirklich schrecklich sind. Kalifornien ist der reichste Staat der Nation und die fünftgrößte Wirtschaftskraft der Welt, aber wir sind auf Platz 43 von 50, wenn es um die öffentlichen Bildungsausgaben geht.
Kampf um Lernbedingungen in Klassenzimmern
Wie äußert sich das?
Zum Beispiel in den Klassengrößen: An den Highschools von Los Angeles haben die meisten Klassen über 40 Schülerinnen und Schüler. Es fehlt an Lehrerinnen und Lehrern, aber auch an anderem Personal, wie etwa Krankenschwestern und Bibliothekaren. Wenn dein Kind am falschen Tag krank oder verletzt wird, ist niemand da, der ihm hilft. Der Personalmangel ist ein Kernproblem an unseren Schulen, das wir auch in unserer Tarifrunde aufgreifen wollten. Es ist eine Schande, wenn in einer so wohlhabenden Stadt selbst die Grundbesetzung an den Schulen nicht gewährleistet werden kann.
Wie kommt es, dass die Situation gerade an Kaliforniens Schulen so schlecht ist?
Noch in den 1950er und 60er Jahren waren die kalifornischen Schulen die finanziell am besten ausgestatteten Schulen der Nation. Im Jahr 1978 verabschiedete die Regierung dann eine Reform der Grundsteuer, die es den Unternehmen erlaubte, nur noch Steuern auf Grundlage des Werts zu zahlen, den ihre Immobilien beim Kauf hatten, anstatt auf den aktuellen Wert. Daraufhin haben große Konzerne Steuern in Milliardenhöhe gespart, weil diese auf einmal an Immobilienwerte aus dem letzten Jahrhundert gebunden waren. Der gewaltige Verlust in der Staatskasse wurde durch Kürzungen der Mittel für öffentliche Schulen und andere soziale Dienste kompensiert.
Das Kaputtsparen der öffentlichen Bildung dient aber nicht nur dazu, den Reichen und Konzernen Steuergeschenke zu machen, sondern hat noch einen anderen Grund.
Neoliberales Kaputtsparen
Und der wäre?
Was die neoliberalen Eliten erreichen wollen, ist, das Gefühl einer Krise im öffentlichen Bildungssystem zu schaffen, um so einen grundlegenden Wechsel zu einem System von Privatschulen rechtfertigen zu können.
Also wird die Krise bewusst verschärft?
Ja, genau. Tatsächlich stimmt es nicht einmal, dass kein Geld für die Schulen da wäre. Der Schulbezirk Los Angeles hat Reserven in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar. Er hortet Geld, während die Bedingungen an den Schulen immer schlimmer werden. Wenn die Verantwortlichen zugeben würden, dass sehr wohl Geld für öffentliche Schulen da ist, könnten sie aber ihre radikalen Privatisierungspläne nicht rechtfertigen. Deshalb malen sie den Zusammenbruch des öffentlichen Bildungssystems an die Wand.
Es war ein wichtiger Teil unserer Streikstrategie, diese Agenda aufzudecken und zu skandalisieren, um den Schulbezirk zu zwingen, das vorhandene Geld tatsächlich auszugeben.
Statt euch auf einen Abwehrkampf gegen die Angriffe des Schulbezirks einzustellen, seid ihr also in die Offensive gegangen und habt eure Arbeitsbedingungen und die Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler zum Thema der Tarifrunde gemacht.
Ja, angesichts der miserablen Situation unserer Schulen haben wir uns entschieden, den Fokus der Auseinandersetzung auf die großen politischen Fragen zu verlagern.
Wie seid ihr das angegangen?
Ich gebe dir ein Beispiel: In L.A. gibt es einen Milliardär und Kunstmagnaten namens Eli Broad. Er ist großer Unterstützer von privat geführten Charter-Schulen (Anm. d. Red.: Das sind Privatschulen, die vom Staat finanziert werden, aber Lehrpläne, Lehrergehälter und anderes selbst bestimmen dürfen, für Schülerinnen und Schüler ist der Besuch kostenfrei). Dafür hat er sogar eine Organisation gegründet, die den Plan verfolgt, innerhalb von acht Jahren die Hälfte des Schulbetriebs in L.A. an privat geführten Schulen zu übergeben.
Früher wäre so etwas nicht unbedingt ein Thema gewesen, dem wir uns als Gewerkschaft angenommen hätten. Doch in dieser Tarifrunde haben wir genau das zu einem großen Thema gemacht: Wir sind zum Eröffnungstag seines neuen Kunstmuseums, »The Broad« (lacht), gekommen und haben das Gebäude mit Lehrerinnen und Lehrern umstellt. Mit Schildern, Sprechchören und lautem Protest haben wir auf den Skandal aufmerksam gemacht, dass Milliardäre bestimmen können, was das Beste für unsere Schulen ist.
Wie kam die Aktion an?
Im Vorfeld haben uns viele davon abgeraten, weil sie befürchteten, es könnte so aussehen, als wären wir Lehrerinnen und Lehrer gegen Kunst. Doch das Gegenteil war der Fall: Vor dem Protest wusste kaum jemand, dass dieser Kerl versuchte, die öffentliche Bildung zu untergraben. Wir konnten den gesellschaftlichen Diskurs über unsere Schulen verschieben und zu einer Klassenfrage machen.
Das war ein großer Erfolg und der Schlüssel für die Massenbeteiligung an unseren Protesten – auch, weil unsere Mitglieder wussten, worum es geht: nicht nur um einen Tarifvertrag, sondern um einen Kampf ums Überleben der öffentlichen Schulen.
»We stand with L.A. teachers«
Warum haben sich die Verhandlungen so lange hingezogen?
Wir müssen gesetzlich zahlreiche rechtliche Schritte durchlaufen, bevor wir das Streikrecht haben. Wir hatten unsere Streikabstimmung im August 2018 und 98 Prozent unserer Mitglieder haben mit Ja gestimmt und sich für einen Streik ausgesprochen. Eigentlich dachten wir, wir würden im Oktober 2018 streiken, aber die LAUSD hat den Prozess erfolgreich gestoppt, indem sie sich fast zwei Monate lang weigerte, mit uns zu sprechen. Dann hieß es, dass wir ab dem 10. Januar das Streikrecht zugesprochen bekommen würden, aber der Bezirk reichte mehrere Klagen ein, um den Streik zu blockieren. Wir wollten, dass es ein legaler Streik wird, so dass niemand Angst vor rechtlichen Folgen haben muss. Und letztlich haben wir das ja dann auch geschafft.
Wie hat die Arbeitgeberseite reagiert, als ihr tatsächlich in den Streik getreten seid?
Sie war schockiert. Sie hat wohl nicht geglaubt, dass es wirklich zu einem Streik kommen würde. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie uns noch ein Angebot machen würde, um den Streik abzuwenden. Doch das tat sie nicht, wahrscheinlich, weil sie nicht glaubte, dass unser Streik so erfolgreich sein würde und so eine gewaltige Ausstrahlungskraft in die Bevölkerung erlangen könnte.
Wie seid ihr den Streik angegangen?
Wir haben jedes Mitglied unserer Gewerkschaft gebeten, eine Stunde vor Schulbeginn in der Schule zu sein und haben vor den Toren jeder Schule Streikposten aufgestellt. Auf diese Weise konnten wir die Vertretungslehrerinnen und -lehrer direkt konfrontieren, die die Verwaltung des LAUSD als Streikbrecher einzusetzen versuchte. Außerdem konnten wir den Eltern so zeigen, dass wir im Streik sind und keine Lehrer für ihre Kinder da sein werden. Von dort aus gingen wir ins Zentrum von LA und demonstrierten alle gemeinsam.
Und eure Forderungen haben dazu beigetragen, dass ihr so viel Unterstützung aus der gesamten Community bekommen habt?
Mit Sicherheit. Die Reaktionen waren einfach fantastisch! Laut Umfragen haben 82 Prozent der Menschen, die Kinder in öffentlichen Schuleinrichtungen haben, unseren Streik und unsere Forderungen unterstützt. Das hat man auch auf unseren Demos gesehen. Es wimmelte von Schildern mit der Aufschrift »We stand with L.A. teachers« (deutsch: »Wir stehen hinter den Lehrerinnen und Lehrern von L.A.).
So ein Rückhalt in der Bevölkerung für einen Streik ist eher ungewöhnlich – insbesondere bei einem Schulstreik, von dem zunächst einmal in erster Linie Eltern, Schülerinnen und Schüler betroffen sind. Gab es nicht auch negative Reaktionen?
Kaum. Wir konnten erklären, dass das Schlüsselthema nicht unser Gehalt ist. Dieser Streik war eindeutig für bessere Bildungsbedingungen. Er war für die Schülerinnen und Schüler. Hinzu kam die Tatsache, dass die Verantwortlichen des Schulbezirks rücksichtslose Milliardäre sind. Auch das hat geholfen, die Öffentlichkeit für den Streik zu gewinnen. Dennoch war das alles auch kein Selbstläufer, sondern harter Klassenkampf.
In Zeiten von Donald Trump und unverschämter Klassenungleichheit denke ich aber auch, dass viele Menschen einfach verzweifelt auf Veränderung hoffen und froh sind, zu sehen, dass andere sich wehren und widersetzen.
Die Bildungspolitik der herrschenden Klasse
Wie hat sich die Politik verhalten?
Sowohl der neue Gouverneur von Kalifornien, dessen Bildungspolitik noch vollkommen unklar war, als auch der Bürgermeister von L.A. haben unseren Streik zumindest mit Worten unterstützt. Wir hatten aber auch die ganze Stadt auf unserer Seite, was die Politik zwang, sich auch hinter uns zu stellen. Wir werden sehen, ob den Worten Taten folgen oder ob ihre Unterstützung nur oberflächlich bleibt.
Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den Lehrerstreiks in West Virginia und Arizona im Frühjahr 2018, die es mit republikanischen Regierungen aus rechten Hardlinern zu tun hatten.
Ja, das ist es sicherlich. Aber seien wir ehrlich: Die Bildungspolitik der Demokratischen Partei unterscheidet sich kaum von derjenigen der Republikaner. Insbesondere in Bezug auf die Charter-Schulen, die als Vehikel für Privatisierungen dienen, verfolgen sie die gleichen Ziele. Bis vor kurzem haben die Demokraten den Ausbau von Charter-Schulen massiv unterstützt. Auch Obama stand dahinter und sein Bildungsminister Arne Duncan war einer ihrer größten Verfechter.
Das hat sich nun geändert?
Seit der Streikwelle letztes Jahr in den republikanischen Staaten West Virginia und Arizona haben Politikerinnen und Politiker der Demokraten sich auf einmal hinter die Bewegung der Lehrerinnen und Lehrer gestellt und sich für eine bessere Bezahlung ausgesprochen. Auch deshalb war es wichtig, die Streikbewegung nun in einen demokratisch regierten Staat zu tragen, um sie auch beim Wort zu nehmen.
Die Erfolge des Lehrerstreiks in Los Angeles
Wurde in Charter-Schulen auch gestreikt?
Während wir im Streik waren, haben tatsächlich auch die Lehrerinnen und Lehrer einiger Charter-Schulen in L.A. gestreikt. Es waren nur drei Schulen, aber es war erst das zweite Mal in der Geschichte der USA, dass Charter-Schullehrer in den Streik getreten sind. Und sie haben so ziemlich alle ihre Forderungen durchgesetzt. Einer der Gründe, warum sich Charter-Schulen als Bildungsmodell der herrschenden Klasse verbreiten, ist auch, dass sie meist überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Wenn mehr Lehrerinnen und Lehrer in Charter-Schulen gewerkschaftlich organisiert wären und auch streikten, hätte dies das Potenzial, das Wachstum von privat geführten Schulen zu bremsen. Die Organisation von Charter-Schulehrern wird daher ein wichtiger Aspekt für die zukünftige Entwicklung unserer Bewegung sein.
Nach sechs Tagen habt ihr euren Streik beendet. War die Luft raus?
Nein, im Gegenteil. Am sechsten Streiktag hat die LAUSD ihren Widerstand aufgegeben. Sie haben wesentlichen Forderungen von uns – und wir hatten viele, weil die Schulen so lange vernachlässigt wurden – nachgeben müssen und sich mit unserem Verhandlungsteam auf einen Vertrag geeinigt. Wir haben diese Vereinbarung dann an unsere Gewerkschaftsmitglieder weitergegeben. Wenn die Mitglieder mit nein gestimmt hätten, wären wir auch noch länger im Ausstand geblieben. Da aber 81 Prozent für die erzielte Einigung stimmten, beendeten wir den Streik. Wir mussten jedoch auch für jedes kleine Stück der Forderungen kämpfen.
Was ist der wichtigste Erfolg des Streiks?
Der größte Knackpunkt waren die Klassengrößen. Hier gelang der Durchbruch auch erst ganz zum Schluss. Eines unserer Hauptziele war es, eine echte Obergrenze für die Klassengrößen durchzusetzen. Es gab schon vorher eine Regelung, die eine Obergrenze enthielt, allerdings hatten wir eine Klausel im Vertrag, die es unserem Schulbezirk erlaubte, in finanziellen Notlagen diese Grenze zu reißen. Unser größtes Ziel war es, diese Klausel loszuwerden. Genau das wollte der Schulbezirk aber unbedingt verhindern. Am Morgen des sechsten Streiktags gab es hier immer noch keine Einigung und unser Verhandlungsteam war bereits wieder auf dem Rückweg auf der Autobahn, als der Leiter der LAUSD, Austin Beutner, aufgab. Er wollte keinen weiteren Streiktag und keine weitere Radikalisierung riskieren.
Die Zukunft der Bewegung
Das klingt alles, als ob ihr nun auf den Geschmack gekommen seid. Wie geht es weiter mit eurer Bewegung?
Unser Vertrag läuft nun erstmal bis 2020. Das wäre dann die nächste Gelegenheit, einen neuen legalen Streik zu führen. Im Gegensatz zu den Lehrerstreiks in West Virginia, Oklahoma und Arizona war unser Streik auf den L.A. County beschränkt und nicht im ganzen Bundesstaat, da jeder Schulbezirk in Kalifornien allein für bessere Bedingungen kämpfen muss. Aber als wir gesehen haben, was in diesen Staaten los war, haben wir damit begonnen, ein Netzwerk von Lehrerinnen und Lehrern in ganz Kalifornien aufzubauen und mehr miteinander zu kommunizieren. Ein großer Teil der Probleme im Bildungswesen liegt an der fehlenden Finanzierung durch den Bundesstaat – was eigentlich einen landesweiten Kampf notwendig macht. Darüber wird nun viel diskutiert und wir überlegen, wie wir so etwas für 2020 auf die Beine stellen könnten.
Zusammengenommen waren die Arbeitskämpfe der Lehrerinnen und Lehrer, die im Frühjahr 2018 angefangen haben, die wahrscheinlich größte Streikbewegung in den USA seit Beginn des Jahrtausends. Wäre für die Zukunft auch ein bundesweiter Streik denkbar?
Viele denken darüber nach. Aber es gibt auch viele Hindernisse: unterschiedliche Bürokratien und Gesetze in den verschiedenen Staaten, aber auch die Vielfalt der Gewerkschaften, die durchaus unterschiedliche Strategien verfolgen. Nicht alle Gewerkschaften sind wie unsere. Einige von ihnen haben seit Jahrzehnten nicht gestreikt und zumindest ihre Führungen haben das auch in Zukunft nicht unbedingt vor. Für uns bedeutet das, dass wir auch den Kampf um die Führung in den Gewerkschaften auf lokaler Ebene fortsetzen müssen, damit das Beispiel der kämpferischen Lehrerinnen und Lehrer von Chicago im Jahr 2012, Arizona und West Virginia im Jahr 2018 und nun auch von uns in L.A. weiter Schule macht. Es gibt bereits Gespräche unter den progressiven Kräften in allen Gewerkschaften im ganzen Land. Der Prozess wird jedoch definitiv noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Das Interview führte Ivan Lucic.
Foto: Milwaukee Teachers‘ Education Association (MTEA)
Schlagwörter: Arbeitskampf, Lehrer, Lehrerstreik, Schule, Streik, Streikbewegung