Kunst steht immer in einem schwierigen Verhältnis zum Kapitalismus. Künstlerische Bewegungen, die der Rebellion gegen die Verhältnisse Ausdruck verleihen, werden nicht selten vom Kapital vereinnahmt. Von Noel Halifax, Übersetzung: Rosemarie Nünning
Der russische Revolutionär Leo Trotzki zeigte sich sein ganzes Leben lang an Kunst interessiert. Er nahm nach der Revolution von 1917 in Russland an Debatten über das Wesen von Kunst, Poesie, Kino und Literatur teil. Er reiste während des folgenden Bürgerkriegs kreuz und quer mit einem Panzerzug der Roten Armee durch das Land, der mit modernster Malerei versehen und mit einer Bibliothek und einem Kino ausgestattet war. Dieses mobile Kommandozentrum diente zugleich als fliegendes Agitproptheater, als Ort zur Förderung der Revolution unter Einsatz vielfältiger Kunstformen.
Als Trotzki im Verlauf der Stalin’schen Konterrevolution ins Exil getrieben wurde, debattierte er mit den Surrealisten, die sich ihrerseits der von Trotzki gegründeten Vierten Internationale anschlossen. Das im Jahr 1938 verfasste »Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst« des mexikanischen Malers Diego Rivera und des französischen Schriftstellers André Breton war in weiten Teilen von Trotzki verfasst worden.
Trotzkis Beiträge zur Kultur sind für uns heute noch erkenntnisreich. Im Jahr 1938 schrieb er, der Mensch drücke »in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus«, dessen ihn »die Klassengesellschaft beraubt. Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit.« Die bürgerliche Gesellschaft verstehe es, durch Unterdrückung und Ermunterung, Boykott und Schmeichelei, »jede ›rebellierende‹ künstlerische Bewegung zu kontrollieren, zu assimilieren und auf das Niveau der offiziellen ‚Anerkennung‘ zu heben«. In diesem Augenblick, so Trotzki, »erhob sich dann vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten (…) eine neue rebellierende Bewegung«.
Kurz gesagt, der Kapitalismus verfügt über große Fähigkeiten, neuen Angriffen nicht nur zu trotzen und sie zu unterdrücken, sondern sie auch zu vereinnahmen und zu neutralisieren. Der schockierende Angriff des letzten Jahres ist heute der letzte Schrei und ruft morgen nur noch ein müdes Lächeln hervor. Was sich aber nie zu ändern scheint, ist die unablässige Suche des Kapitalismus nach dem Neuen. Häufig ist es eher trivial, manchmal jedoch eröffnet es neue Sichtweisen auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen.
Der Kunstkritiker John Berger sprach im Jahr 1979 für eine ganze Generation von Künstlern der 1960er Jahre, als er sagte, dass »Kunst und Privateigentum oder Kunst und Staatseigentum nicht miteinander vereinbar sind. Eigentum muss vernichtet werden, damit die Vorstellungskraft sich weiter entfalten kann«. Die Funktion der Kunstkritik bestehe »in der Aufrechterhaltung des Kunstmarkts«. Deswegen bringe er für »destruktive Künstler sehr viel mehr Toleranz auf«.
1960er: Aktionskunst als Protestform
Schon bald geriet diese Sichtweise wieder in Vergessenheit. Sie war ein Abgesang auf eine Zeit, als im Rahmen der größeren Revolten der 1960er und 1970er Jahre das Establishment mittels Kunst angegriffen wurde. Schauen wir heute zurück, nimmt es nicht Wunder, dass so viele von den damaligen Massenbewegungen wie der gegen den Vietnamkrieg, den Massenstreiks in Frankreich 1968 oder denen des italienischen »heißen Herbsts« im Jahr 1969 erfasst wurden.
Fast alle Künstlerinnen und Künstler begriffen sich als Teil dieser allgemeinen Revolte. Viele versuchten, sich mit ihrem Lebensstil und ihrer Kunst dem Kapitalismus zu entziehen oder gegen den Kapitalismus gerichtete Kunst zu machen. Bohemeviertel wie in der Lower East Side in New York Ende der 1960er entstanden. Einige glaubten sogar, die Situationisten hätten mit ihren Kunstaktionen in Straßburg im Jahr 1966 den Anstoß für die Ereignisse in Paris 1968 gegeben, und sie versuchten die Revolution durch ähnliche Aktionen anzufachen. Yippies umringten das Pentagon, riefen »Weicht, Dämonen, weicht!« und wollten das Gebäude zum Schweben bringen.
Im gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre gab es auch verschiedenste Versuche der Subversion des Markts und der Kunst als Ware. Jean Tinguely stellte Skulpturen her, die sich selbst zerstörten, und Richard Longs »Skulpturen« bestanden aus Wanderungen durch die Landschaft. »Happenings« wurden ein wesentliches Kennzeichen der Kunstszene der 1960er Jahre in New York und London, in den 1970er Jahren in Westberlin und Wien – wobei die »Wiener Aktionisten« mit unflätigen, wüsten und gewalttätigen Aufführungen Aufsehen erregten.
All dies stellte bis zu einem gewissen Grad die Ablehnung der Idee von Kunst als Ware dar. Und doch wird diese Kunst heute gehandelt, aufbewahrt und konserviert von dem riesigen und noch wachsenden Kunstmarkt. Das scheinbar Unmögliche ist möglich geworden. Das »Happening« wurde eingefroren und für den Markt konserviert. Karl Marx und Friedrich Engels schrieben im »Manifest der Kommunistischen Partei«: »Alles Ständische und Stehende verdampft.« Dem Kunstmarkt ist das Gegenteil gelungen: Er hat alles Verdampfende in eine feste Form und in eine Ware verwandelt.
Zynismus, Konformität und die Kapitalisierung von Kritik
Das zeigt die Geschichte der Pop Art. Sie hatte gleich zwei Geburtsstätten: Anfang der 1950er Jahre in Großbritannien und Mitte der 1950er Jahr in den USA. In Großbritannien gab es Verbindungen zur radikalen Kunsttradition der Weimarer Republik in der Person Kurt Schwitters’, der dort im Exil lebte. Über ihn wurden britische Künstler wie Paolozzi mit der Collage bekannt. Unter anderem Peter Blake und Pauline Boty griffen diesen Stil auf. Britische Pop Art versuchte, die Barrieren zwischen Hoch- und Populärkultur einzureißen, indem sie auf satirische Weise Werbung und Kommerz aufs Korn nahm, war jedoch beschränkt auf die visuelle Kunst und Skulptur.
In den USA war Pop Art größer und mutiger angelegt – wie ein Vergleich der Arbeit Roy Lichtensteins mit der von Blake zeigt. Andy Warhol bezog außerdem Poesie, Film, Musik, Tanz, Happenings mit ein – im Prinzip das ganze Leben. Warhol schuf in The Factory (Die Fabrik) eine alternative Welt für Außenseiter. In der Factory ließ Warhol massenhaft Druckkopien von Teams herstellen, die an seiner Stelle signierten – die Reproduktion ist per se potenziell subversiv gegenüber einer Vorstellung von Kunst als einem einmaligen Werk.
The Factory war Heimat für die Außenseiter der Gesellschaft in doppeltem Sinn: Warhols Ausstellung »Ten Most Wanted Men« bestand aus riesigen Porträts der vom FBI meistgesuchten Männer. Es war gleichzeitig ein Wortspiel, da »wanted« auch sexuell attraktiv bedeutet. Mit den Transvestiten, Drogenabhängigen, Strichjungen als Helden seiner Filme verhöhnte Warhol den Kapitalismus und seine Kunst. Warhols Film »Lonesome Cowboys« ist ein Western mit bekifften Transvestiten und Strichjungen – eine Parodie auf den damaligen Westernfilmhelden John Wayne. Der Großteil von Warhols frühen Arbeiten hatte diese subversive Note des Straßenlebens in New York in einer Zeit der Revolte.
Die Factory hatte aber immer auch etwas von einer Freakshow – das Kunstestablishment begibt sich in die Niederungen des einfachen Lebens. Nachdem diese Kunst zunächst ignoriert und dann angenommen wurde, geriet sie in den 1980er Jahren in die Fänge des Kunstmarkts. Das ironische Spiel mit Hollywood verwandelte sich in das wahre Hollywoodleben: Jetzt spielte es sich im Nachtclub der Prominenten ab, dem Studio 54.
Warhol machte sich gelegentlich immer noch lustig über das Kunstestablishment, zum Beispiel mit seinen Pissbildern, hergestellt durch Urinieren auf Kupferplatten – womit er den Postexpressionismus verarschen wollte. Dennoch war seine Kunst jetzt zahmer und spiegelte neue Zeiten wider – das Zeitalter eines Ronald Reagans und des neuen Kalten Kriegs. Diese Kunst wurde von vornherein für den Markt produziert. Das galt noch viel mehr für spätere Popkünstler wie Jeff Koons.
In Großbritannien kamen Ende der 1980er Jahre die Young British Artists (YBAs) zu Ruhm. Unter diesem Sammelbegriff wurden Künstler unterschiedlichster Stile zusammengefasst. Aber einiges verband sie doch miteinander: Der Markt wurde nicht mehr infrage gestellt, sondern angenommen. Das Ziel lautete nunmehr: Werde reich und berühmt! Idealismus war out, Ironie war in. Mit Damien Hirst verwandelte sich die Ironie des 20. in den Zynismus des 21. Jahrhunderts.
Kunstakademien lehrten jetzt Kunst als Aufstiegsmöglichkeit. Gleichzeitig kam die Figur des Kurators auf, der darüber entscheidet, was Kunst ist und wie sie zu verstehen sei – also Kunstkauderwelsch über Kunstwerke.
Insgesamt gesehen beschäftigt sich Kunst nur noch mit sich selbst: Der Künstler ist das Kunstwerk. Der Großteil des Werks Anthony Gormleys besteht aus Gipsabdrücken seines eigenen Körpers. Manchmal handelt es sich um den Künstler als Kommentator der Gesellschaft – wie Gilbert und George – oder es werden Aspekte von Unterdrückung im heutigen Leben dargestellt – wie Tracy Emins Bett.
Mit dem ausufernden Kunstmarkt gibt es das Bestreben, alles zu vereinnahmen. Ab den 1990er Jahren fochten Straßenkünstler einen Guerillakrieg mit der Polizei, der Stadtverwaltung und ihren speziellen Graffitibekämpfungsteams aus, während gleichzeitig die Kunstgeier über diesem Schlachtfeld kreisten, um sich die Kunstwerke anzueignen, ehe sie weggeschrubbt werden.
Der Graffitikünstler Banksy hat auf witzige und subversive Weise auf der Klaviatur dieses Systems gespielt. Im Jahr 2008 erschien über Nacht ein Graffito von ihm auf einer Mauer in London mit dem Titel »Very little helps« (Sehr wenig hilft). Es stellte einen satirischen Angriff auf die Supermarktkette Tesco mit ihrer Kampagne »Every little helps« (Jedes bisschen hilft) dar. Es war eine Sensation. Der Eigentümer der Mauer hinderte die Verwaltung daran, die Mauer gleich zu säubern, während Kunstexperten Interviews zur Echtheit der Arbeit gaben. Dann schützte der Mauerbesitzer das Werk mit einer Kunststoffscheibe, die zehn Tage später von einem konkurrierenden Künstler, der meinte, Banksy habe sich verkauft, verunstaltet wurde.
In den Lokalmedien gab es heiße Debatten über die Eigentumsfrage. Auf diese Weise entwickelte sich das Ganze zu einer wunderbaren Kunstperformance über den Irrsinn der Kunstwelt. Derzeit versucht der Kunstmarkt »Außenseiterkunst« aufzusaugen. Dabei geht es nicht nur um »naive« Kunst von »Amateuren«, sondern um Leute mit Lernschwierigkeiten, Verhaltens- oder psychischen Auffälligkeiten, die nicht selten in Pflegeheimen leben. Jetzt hat sich ein blühender Markt zur Ausbeutung dieser neuen Projekte entwickelt. Der Kunstkapitalismus ist in seine imperialistische Phase eingetreten und auf der Suche nach neuen lukrativen Feldern.
Widerständische Kunst als Herrschaftkritik
Dennoch können wir nicht von einem uneingeschränkten Siegeszug des Geldes sprechen. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich das Zeitalter der »Sensation« (so lautete der Titel der YBA-Ausstellung von 1997) dem Ende zuneigt. Selbst in der müden alten Welt der Pop Art zeigen sich neue subversive Formen. Mike Kelley versah seine Themen mit einer sehr viel düstereren und grimmigeren Note. Im Jahr 2013 nahm er sich das Leben, aber die Künstlerszene von Los Angeles, der er angehörte, greift ähnliche Themen auf, wie die Arbeiten von Ron Athey, Paul McCarthy und anderen zeigen.
Viele Künstler denken wieder über ihren eigenen Körper hinaus, wie der chinesische Dissident Ai Weiwei oder Jeremy Deller, der andere und ihren Kampf und die Kritik an den Reichen in den Mittelpunkt stellt.
Auch der Arabische Frühling hat einen Reichtum an widerständiger Kunst hervorgebracht. Trotzki sagte einst, Kunst kann keine Revolution vollziehen, sie kann jedoch wie eine Schwalbe den Frühling ankündigen, und wir könnten an der Schwelle zu einem Aufstand gegen »offiziell anerkannte Kunst« stehen. Die Herrschaft der Ironie und des allwissenden Spotts befinden sich auf dem Rückzug.
Foto: Plucker
Schlagwörter: Kapitalismus, Leo Trotzki, Protest