Seit Oktober 2019 haben Massenproteste den Irak erfasst. Obwohl der Staat versucht, die Bewegung mit Gewalt zu unterdrücken, geht die Rebellion weiter. Peshraw Mohammed über Ursachen und Perspektiven der Tishreen-Revolution
Peshraw Mohammed ist kurdischer Sozialist und Buchautor aus Sulaimaniyya in Irakisch-Kurdistan. Er lebt zurzeit in Deutschland.
Dieser Beitrag erschien zuerst im aktuellen marx21-Magazin mit dem Titel »Protest, Aufstand, Revolution?«. Bestelle jetzt Dein Jahresabo und sichere Dir unsere Prämien!
Update: Nach Erstveröffentlichung des Artikels überschlugen sich im Irak die Ereignisse: Der US-Angriff auf den iranischen General Qassem Soleimani schürte nicht nur die Gefahr einer weiteren Eskalation im Nahen Osten, sondern hatte auch Folgen für die Massenbewegung im Irak. Hatte die Tishreen-Revolution, wie von unserem Autoren im Folgenden geschildert, sich dadurch ausgezeichnet, dass sowohl die korrupte irakische Regierung als auch der Einfluss ausländischer Mächte – gerade auch des Iran – herausgefordert wurden, ließ die illegale Tötung des einflussreichen iranischen Generals durch die USA die Protestwelle zunächst abebben. Doch dies sollte nicht von Dauer sein: Bereits am 19. und 20. Januar 2020 versammelten sich im Irak erneut tausende Demonstrierende zu landesweiten Protesten gegen die Regierung. Hunderte Regierungsgegner versuchten am Montagmorgen, Straßenblockaden in der Hauptstadt Bagdad zu errichten. Die Revolution geht weiter!
Die anhaltenden Massenproteste im Irak haben Premierminister Adel Abdul Mahdi zum Rücktritt gezwungen, wenngleich er weiterhin geschäftsführend im Amt ist. Aber den Protestierenden reicht das nicht. Dania, eine 20-jährige IT-Studentin aus der Hauptstadt Bagdad, meint:
Der Rücktritt des Premierministers ist nur ein kleiner Tropfen im Meer unserer Forderungen
Hunderttausende Menschen beteiligten sich im Irak an den Anti-Regierungs-Protesten. Sie wollen ein Ende von Armut und Arbeitslosigkeit und den Fall des korrupten, sektiererischen politischen Systems, das die USA nach ihrer Invasion im Jahr 2003 installiert haben. Die Proteste konzentrieren sich in Bagdad auf den Tahrir-Platz, wobei Demonstrierende Hauptstraßen und Brücken im Stadtzentrum besetzen. Sie haben auch Routen in die »Grüne Zone« blockiert – den militarisierten Teil der Stadt, der für die Menschen eigentlich verschlossen bleibt und in dem sich Regierungsstellen und westliche Vertretungen befinden. Protestierende in anderen Städten wie in Basra und Nasiriya haben ebenfalls Straßen blockiert, was auf die lukrative Ölindustrie im Süden abzielt.
Soziale Lage und Einfluss des Iran
Trotz enormer Öleinnahmen leiden die einfachen Menschen im Irak unter hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Teile der Protestierenden in der Stadt Nadschaf haben auch das dortige iranische Konsulat mindestens zweimal angezündet. Sie sind wütend darüber, dass das iranische Regime das vom Westen installierte korrupte System genutzt hat, um in der irakischen Politik enorm einflussreich zu werden. Der offensichtliche Einfluss des Iran hat den irakischen Politikern in der Vergangenheit immer wieder dazu gedient, alle sozialen und politischen Proteste unter dem Vorwand der Einmischung von Außen zu unterdrücken. Diesmal scheint das jedoch nicht mehr zu funktionieren.
Die Proteste begannen am 1. Oktober 2019, einem Datum, das von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in den sozialen Medien festgelegt wurde, um gegen 16 Jahre Korruption, Arbeitslosigkeit und ineffiziente öffentliche Dienste zu protestieren. Sie erstrecken sich über sämtliche zentralen und südlichen Provinzen des Irak.
Irak: Vom Sozialprotest zur Revolution
Die Protestformen der »Irakischen Intifada 2019«, auch bekannt als Tishreen-Revolution (deutsch: Oktoberrevolution), sind Demonstrationen, Sit-ins und Blockaden mit dem Mittel des zivilen Ungehorsams. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003 und der Umsetzung der neoliberalen und korrupten Ordnung ist dies der erste radikale und bewusste Protest, der sich direkt gegen die Sparmaßnahmen, Lohnkürzungen, die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Privatisierung des öffentlichen Sektors richtet, bevor schließlich auch zum Sturz der Regierung aufgerufen wurde.
Die neue Welle an andauernden Protesten kommt jedoch nicht aus dem Nichts. Der Irak ist in den letzten Jahren immer wieder durch politische Straßenkämpfe erschüttert worden. Neben verheerenden sozialen Verhältnissen haben die einfachen Irakerinnen und Iraker genug vom autoritären Regime und den parlamentarischen Scheinwahlen. Denn das nach der Invasion der Briten und Amerikaner konzipierte politische System machte es dem von 2006 bis 2014 regierenden Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki leicht, zu einem autoritären Regime zurückzukehren.
Die USA und die irakische Hydra
Maliki erkannte schnell Möglichkeiten, das politische System auszuhöhlen: Innerhalb kürzester Zeit installierte er ihm hörige Gefolgsleute und Funktionäre (»Malikiyoun«) an wichtigen Stellen im Staatsapparat, in den Geheimdiensten, der Nationalbank und den Ministerien. Damit machte er wichtige Staatsbehörden von ihm abhängig und konnte demokratische Institutionen aushöhlen und umgehen. Vetternwirtschaft und grassierende Korruption waren die Folge. Seinen Sohn ernannte Maliki zu seinem Stabschef.
Die Amerikaner hatten der irakischen Hydra mit dem Sturz Saddams zwar einen Kopf abgeschlagen, es waren jedoch mehrere nachgewachsen. Die Reaktion der USA, die zwar das irakische Öl, nicht aber die Bevölkerung interessiert: Sie trieben eine rasante Remilitarisierung des Irak voran. 25 Milliarden US-Dollar wurden von den USA für den Wiederaufbau des irakischen Sicherheitsapparats ausgegeben. Allein das Budget des irakischen Innenministeriums wuchs damit jährlich um 45 Prozent. Dabei sind regelmäßig enorme Summen aus den Rechnungsbüchern des Staats verschwunden.
Massenproteste, Gewalt und Repression
Für die leidende Bevölkerung, von der nur ein Viertel Zugang zu sauberem Trinkwasser hat und das nur für durchschnittlich zwei Stunden am Tag, wurden diese Verhältnisse schnell unerträglich. Massenproteste waren die Folge, so etwa im Jahr 2006. Aufstände fanden vor allem im Süden Iraks in Städten wie Basra statt. Im Februar 2011 brachen in verschiedenen Provinzen im Irak Proteste aus, auf denen die Forderung erhoben wurde, Korruption und Vetternwirtschaft zu beenden und öffentliche Dienstleistungen wie Strom, Verkehr, Gesundheits- und Bildungswesen sowie die kommunalen Dienste zu verbessern. Ende 2012 flammten in Falludscha im Zentralirak erneut Proteste auf, die sich über den gesamten sunnitisch-arabischen Teil des Irak ausbreiteten und das gesamte Jahr 2013 anhalten sollten. Auch im Sommer 2015 brachen Proteste im größeren Stil aus, diesmal wieder in der Provinz Basra, wo der größte Teil des Ölreichtums des Irak liegt.
Die Antwort des Staats auf die Protestwellen waren nicht Reformen oder gar Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Menschen. Stattdessen wurden die Proteste mit der gut geölten Militärmaschinerie des übermächtigen irakischen Sicherheitsapparates gewaltsam unterdrückt und die Demonstrierenden mit Polizeibrutalität und einer Verhaftungswelle überzogen. Zehntausende Menschen kamen bei den Auseinandersetzungen in den letzten Jahren ums Leben, allein 36.000 bei der Niederschlagung der Aufstände im Jahr 2006.
Tishreen-Revolution: Eine neue Qualität
Die neue Bewegung, die im Oktober 2019 losgetreten wurde, hat jedoch im Vergleich zu den bisherigen Protestwellen eine neue Qualität: Während die Bewegung von 2015 noch fast ausschließlich junge Männer auf die Straße trieb – viele davon aus der unteren Mittelschicht, vor allem Lehrer und Staatsangestellte – sind in der Tishreen-Revolution auffallend viele Frauen aktiv. Eine neue Generation nimmt die Straßen des Irak ein, in der nicht mehr nur Männer den Ton angeben. Dass Frauen und Männer Seite an Seite gegen das repressive Regime demonstrieren und auf die Straße gehen, ist ein Novum und kommt im Irak einem Tabubruch gleich. Shaima, eine junge Frau mit Tochter, erzählt, dass Männer das Sagen in Politik und Gesellschaft haben:
Wir haben leider Traditionen, die die Menschen zurückgehalten haben. Aber jetzt gehen in allen Provinzen Frauen auf die Straße. Und selbst wenn sie nicht demonstrieren, siehst du sie an ihrer Tür stehen mit der irakischen Fahne in der Hand. Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert.
Frauen sind ein wichtiger Bestandteil der Bewegung. Die 20-jährige Studentin Haneen sagt:
Wir sind die Generation der Zukunft. Als Kinder haben wir den Sturz des früheren Regimes und die Folgen miterlebt. Als Teenager haben wir Terrorismus und den IS erlebt. Als Jugendliche haben wir gescheiterte Regierungen durchlebt, die uns unsere Rechte und die unserer Kinder genommen haben. Es ist an der Zeit, dass wir gegen all das unsere Stimme erheben.
Zudem sind dieses Mal nicht mehr insbesondere Menschen aus der Mittelschicht an den Protesten beteiligt. Falah Alwan, einer der prominentesten irakischen Führer der Arbeitergewerkschaft, spricht daher bezogen auf die Tishreen-Revolution von einem Aufstand der Armen, Arbeitslosen und städtischen Armen im gesamten Irak.
Die Antwort des Regimes im Irak
Doch wie schon bei den vorangegangenen Protestwellen blieb die Rebellion der Bevölkerung nicht ohne Antwort des Regimes. Das Blutvergießen folgte, nachdem die politischen Führer zugestimmt hatten, sich hinter Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi zu versammeln. Viele Aktivistinnen und Aktivisten wurden entführt. Die Sicherheitskräfte, Milizen und Polizisten gingen teilweise mit Maschinengewehren, Militärfahrzeugen und schweren Waffen gegen die Bevölkerung vor. Schlägertruppen, die mit den Milizen verbunden sind, machten Jagd auf Menschen.
Das traurige Ergebnis der Unterdrückung: Mindestens 460 Irakerinnen und Iraker wurden getötet, etwa 20.000 Menschen verletzt und Tausende festgenommen. Es gibt zahlreiche Berichte über gewaltsames Verschwindenlassen von Protestierenden. Trotzdem gehen die Irakerinnen und Iraker weiter auf die Straße.
Eine nie dagewesene Schlagkraft
Die Ohnmacht der Bevölkerung scheint gebrochen und die Allmacht der Herrschenden ist ernsthaft bedroht. Der Rücktritt des Premierministers Adel Abdul Mahdi ist bereits erreicht, doch die Proteste ebben nicht ab. Dadurch, dass sich Frauen den bisher männerdominierten Protesten angeschlossen haben und Seite an Seite mit den Männern demonstrieren, hat die Bewegung eine im Irak noch nie dagewesene Schlagkraft erreicht.
Eine weitere Stärke der Bewegung ist ihre Radikalität. Die Protestierenden wollen sich nicht mit unzureichenden Reformen abspeisen lassen, sondern fordern einen Systemwandel und nehmen dafür ihr Schicksal selbst in die Hand. Deshalb ist ihnen auch der Rücktritt von Premierminister Mahdi zu wenig. Ziel ist es, das anfällige und korrupte System über Bord zu werfen und stattdessen ein politisches System zu errichten, das von den einfachen Irakerinnen und Irakern bestimmt wird.
Rolle der Kurden im Irak
Allerdings birgt die Forderung nach einem Wechsel des derzeitigen politischen Systems und einer neuen Verfassung für den Irak auch Gefahren. So wird innerhalb der Bewegung immer wieder die Forderung nach einem Präsidialsystem anstelle der parlamentarischen Republik laut. Insbesondere die kurdische Bevölkerung im Norden des Iraks befürchtet berechtigterweise, dass dies die Rückkehr zu einer starken und konzentrierten Macht in den Händen der Zentralregierung sowie zur Abschaffung des Föderalismus und damit der kurdischen Teilautonomie führen könnte.
Andererseits bleibt die Bewegung auch im kurdischen Teil des Iraks nicht ohne Folgen. Auch hier gab es in den letzten Jahren immer wieder Massenproteste und auch Streiks, die die gleichen sozialen und politischen Forderungen aufwerfen wie im Rest des Landes. Ein erneuter Aufstand im kurdischen Norden könnte die Tishreen-Revolution auf das ganze Land ausbreiten.
Kampf um die Kontrolle im Irak
Auch wenn der Staatsapparat und damit die irakische Hydra schwankt, ist das Ende des Kampfes noch lange nicht erreicht. Das Parlament wird Zeit brauchen, um einen neuen Premierminister zu ernennen, der eine Regierung bilden kann.
Die Herrschenden im Irak sowie ihre Unterstützer im Westen, aber auch im Iran, werden hoffen, den Prozess zu nutzen, um ihren eigenen Einfluss zu vergrößern. Beide kämpfen um die Kontrolle über den Irak und dessen Ölindustrie. Sie werden versuchen, die Protestbewegung weiter durch Gewalt, Unterdrückung und Zwang zu bekämpfen und auf der anderen Seite Teile der Bewegung zu integrieren. Ob ihnen das gelingt, hängt auch von der Intervention der Linken und sozialistischen Kräfte im Irak ab.
Die sozialistische Linke im Irak
Zwar ist die Linke nicht stark, aber es gibt embryonale sozialistische Elemente innerhalb der Bewegung. Interessant ist, dass die Tishreen-Revolution bisher weder einen religiös oder ethnisch sektiererischen, noch einen pro-iranisch oder pro-westlichen Kurs eingeschlagen hat.
Im Süden des Irak, in dem mehrheitlich Schiiten leben, fanden Demonstrationen gegen die von Schiiten dominierte Regierung statt. Studierende in der mehrheitlich sunnitischen Stadt Mossul hielten ein Massengebet und eine Schweigeminute für die im Süden getöteten, hauptsächlich schiitischen Demonstrierenden ab. Statt sich spalten zu lassen, behalten die Proteste ihre Wut, die sich gegen das gesamte System richtet. Dania aus Bagdad meint:
Wir werden nicht nach Hause zurückkehren, bis der Rücktritt des Premierministers dazu führt, dass das Parlament aufgelöst und vorgezogene Wahlen abgehalten werden, damit alle an der Macht befindlichen politischen Parteien und Milizen entfernt werden können.
Foto: Wikimedia
Schlagwörter: Arabischer Frühling, Irak