Das Internet-Phänomen Haiyti veröffentlicht eine neue EP mit dem Produzenten-Team KitschKrieg – und deren Name hält was er verspricht. David Jeikowski über das Album des Monats: Toxic.
Die Smartphone-App »Snapchat« gehört seit geraumer Zeit zum digitalen Standardrepertoire vor allem jüngerer Handy-Nutzer. Als sogenannter »Instant-Messaging-Dienst« lassen sich hierüber selbstgemachte Fotos und Videos verschicken, die nach einer vorher verfügten Anzahl an Sekunden selbstständig vom Handy des Empfängers verschwinden. Im April 2016 sollen so 100 Millionen aktive User täglich insgesamt 10 Milliarden Clips angeschaut haben. Verschickt werden vor allem Selbstportraits und Videobeweise der Freizeitgestaltung. Gerne wird das ganze noch mit Symbolen, Schriftzügen oder Masken verziert. Ich beim Konzert meines Idols (ein tiefrotes Herzchen dazu), ich auf der langen Rückfahrt, ich als Hund mit herausgestreckter Zunge – in einer Nachricht gebündelt, ergäbe das beispielsweise ein 15-Sekunden-Filmchen mit drei Szenenwechseln.
Rapperin Haiyti
An solche Hör- und Sehgewohnheiten appelliert auch die derzeit von den verschiedensten Seiten so hoch gelobte Hamburger Rapperin Haiyti. Liedtexte, Video-Clips, Album-Cover, Fan-T-Shirts, sie alle bedienen sich einer gemeinsamen Bildsprache: eine Abfolge greller, unterschiedlichster Szenen und Symboliken, die einander so schnell abwechseln, dass sie sich einer detaillierten Analyse erst mal entziehen. Diese wäre auch enttäuschend, verkauft Haiyti doch keine stringenten Geschichten, keine Songs, bei denen das Nachlesen der Texte für mehr Klarheit sorgt oder zum philosophieren anregt.
Haiyti und der Blick durch das Schlüsselloch
Stattdessen rotzt sie in Windeseile Bilder hin, die vor allem Lifestyle vermitteln, uns einen kurzen Blick durch das Schlüsselloch gewähren. Dahinter sehen wir alles, was »das Milieu« so hergibt: Drogenexzesse und –abstürze, fahr- und tragbare Statussymbole, Diskussionen mit Wörtern und Handfeuerwaffen – aber auch Verzweiflung und Wut, Trauer und Selbstverletzung. Die Stärke des Gesamtkonzepts Haiyti liegt in ihrer Komplexität und Ungeschminktheit. In Videoclips sieht man sie häufig in wechselnden Outfits, die allesamt aussehen, als habe sie hierin drei Tage durchgeravt. Dazu rappt sie Zeilen wie »Mir ist scheißegal, was du verdienst/ Moneyclip zu breit für meine Jeans/ (…) Bruder, glaub mir, dass ich auch schieß’«, gefolgt von mit dem Mund erzeugten Gewehrsalven-Sounds. Tief im Internet lassen sich unter ihrem bürgerlichen Namen Kunstausstellungen und Acryl- Gemälde (»Meine Muse raucht Blech 2«) finden. Musikalisch lässt sich Haiyti klar bei der elektronischen Hip-Hop-Variante Trap verorten. Tiefe, tragende Bassfundamente werden von schnellen Hi-Hats durchschnitten, Synthesizer-Melodien geben die Stimmung vor. Die zum Markenzeichen gewordene Adlibs (untermalende Laute oder Wörter) der Rapperin fügen sich organisch in das Arrangement, ihre Parts changieren zwischen sanftem Auto-Tune- Singsang und hochfrequentem Kriegsgeschrei.
Anspieltipp
Anspieltipp ihrer aktuellsten EP »Toxic« ist definitiv der Song »Ein Messer«. Es beginnt gruselig: heulende Synthies und Haiytis verzerrte Rufe stapeln sich zu einer Geister-Melange. Plötzlich bricht das Gebilde ein, Haiyti kreischt wie im Heulkrampf immer wieder »Tätowiere mir ein Messer/…«, während ein mächtiger Bass sich um unseren Hals schnürt und die Hi-Hat unvermittelt draufprügelt. »Tätowiere mir ein Messer/ direkt unter’s Herz/« – unter anderen Umständen nach Teenie-Theatralik klingend, gewinnen diese Zeilen durch ihre szenische Umsetzung die morbide Faszination einer manifesten Psychose. »Kopf in der Schlinge/ Cops kommen klingeln?/ Badewanne voll, in der Hand ein paar Pillen/«.
Das Video: »Ein Messer«
»KitschKrieg«und Haiyti
»KitschKrieg« nennt sich das für die Instrumentals der EP verantwortliche Produzenten-Kollektiv – kein Name hätte besser ausdrücken können, was hier dargeboten wird. In »Akku«, »Zeitboy« und »Träne« dominiert der Kitsch-Anteil dieser fast schon dialektischen Gegenüberstellung. Es geht um verschwundene Freunde, männliche und weibliche Bindungsängste und Einsamkeit. In »Sergio« und »Garçon« hingegen wird wieder rücksichtslos rumgeballert.
Das Video: »Sergio«
Besonders radiotauglich klingt das weder in der einen noch in der anderen Song-Gattung – zu große Anteile der Gegenseite stecken in den einzelnen Liedern, viel zu kantig bleiben Sound und Wortwahl. Eine solche Impuls- Musik, wie Haiyti sie betreibt, fordert naturgemäß ständig Nachschub. Und so stammen die oben beschriebenen Stücke zwar von ihrer aktuellsten Veröffentlichung »Toxic«. Doch noch kurz vor Redaktionsschluss kündigte die Künstlerin bereits ein weiteres Mixtape an. Mal schauen, welchen Einblick uns Haiyti dann gewährt.
Das Album: Haiyti & KitschKrieg: Toxic, SoulForce Records, 2016
Schlagwörter: Album, Album des Monats, HipHop, marx21, Protest, Rap